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„Der einzig Lebendige unter uns * Von Giovanni Papini Die Weltgeschichte wird nicht von den Massen, son- oern von den großen Männern gemacht. Der Aufstieg und Niedergang von Völkern hängt davon ab, ob ihnen Männer von erlauchtem Geist, von gewaltiger Willens kraft, von uneigennUtzigem Opfersinn gegeben oder versagt sind. Geist und Wille im Bunde mit dev Wahrheit sind die erste Großmacht auf Erden. Jos. Eberls. AliicksmSgUkhkeilen Von Alfons Heilmann Unter Glück stellen sich viele Leute einen ununter brochenen Freudentanz durchs Lebens vor, ein ewiges Fest mit reichgedeckter Tafel, wo immer Lachen und Ju bel ist, wo die Menschen sich allseits mit frohen Gesichtern grüßen und mit Freundlichkeiten überhäufen, wo über der Welt ein ewig heiterer Himmel strahlt und alles ist, wie eine kühne Phantasie es sich vom Paradiese denkt. Solche Glücksgedanken sind ein törichter Kindertraum, der nie Erfüllung findet. Ich kann mir nicht einmal denken, daß es einst im Himmel so schlaraffenmäßig zu- gehen wird: denn dort wird in allem Sinn und Ordnung sein. Was wir auf Erden Glück nennen, beschränkt sich auf bestimmte Stunden und Tage und ist mehr eine Sache des Gemütes als der äußeren Dinge. Es gehört vor allem Gesundheit des Leibes dazu: nur gesunde Menschen kön nen völlig glücklich sein. Kranke vermögen, je mehr ihre Seele über die Leiden und Gebrechlichkeiten des Körpers Herr geworden ist, einen hohen Grad stiller Zufrieden heit erreichen, den man Glück heißen könnte; aber die volle, reiche Beglücktheit, deren Gesunde fähig sind, ist es nicht. Man kann es daran ermessen, daß Menschen, die lange krank waren, sich schon überglücklich fühlen, wenn sie wieder gesund geworden sind. Die stets Gesunden aber nehmen täglich diese beste Gabe des Glückes danklos in Empfang, als sei es.eine Selbstverständlichkeit, auf die sie Anspruch haben. Wer seine Gesundheit nicht als Got tesgeschenk betrachtet und dankerfüllten Herzens genießt, ist wahrhaften Glückes gar nicht fähig. Wo Gesundheit ist. da kann das Glück in tausenderlei Gestalten bei einem Menschen zukehren. Zu dem einen kommt es in Form eines überraschenden Geschenkes: ta gelang freut er sich wie ein Kind darüber und vergißt dabei, was ihn sonst täglich ärgerte, was er wünschte und begehrte. Der andere hat ein gutes Geschäft gemacht: du siehst es an seinem strahlenden Gesichte, daß das Glück zu ihm gekommen ist. Ein dritter hat eine längst erstrebte Stellung erreicht: und nun hängt ihm der töimmel voller Geigen: er ist überzeugt, daß seht die Würfel seines Le bens auf Glück gefallen find und daß ihm nichts mehr fehlen wird. Wieder ein anderer hat heute seinen gu ten Tag, vielleicht seinen Geburtstag, da ist er vom frü hen Moraen an rosig gestimmt: er sieht und kört heute nur Schönes und Erfreuliches, ist voll guter Laune und teilt davon allen aus. die ihm begegnen: für Unangeneh mes und Verdrießliches hat er heute weder Aug' noch Ohr, denn er ist glücklich. In all diesen Fällen hat sich nichts Großes, Außergewöhnliches ereignet, sondern nur etwas ganz Alltägliches; aber das Herz des Menschen ist davon berührt worden und in freudige Wallung geraten. Es gehört nicht viel dazu, einen Menschen glücklich zu machen, und der Mensch könnte sich viel öfter das Glück berbeirufen, wenn er sein eigenes Leben besser verstünde, weil Glück mehr eine Stimmung des Herzens als eine Folge äußerer Zufälligkeiten ist. Schon die Be wahrung unserer Gesundheit hängt zum großen Teile von unserer Klugheit und Vorsicht ab; Zahllose Menschen zer stören ihre Gesundheit durch eigene Schuld und unter graben dadurch das Fundament ihres Glückes. Der Mensch kann auch sonst viele Voraussetzungen für ein glückliches Leben schaffen. Aber jene Menschen erheben am meisten Anspruch auf Glück, die am wenigstens dafür tun, ihm den Weg zu bereiten. Wer sich auf der Welt nicht fleißig tummelt und tapfer müht, hat keine Hoff nung, daß ihm eines Tages ein großes Glück in den Schoß geworfen wird. Wer aber voranstrebt, in Beruf und Ar beit Tüchtiges leistet und sich den Menschen nützlich und gefällig erweist, darf hoffen, daß es ihm zu gegebener Zeit an Glück nicht fehlen wird. Der Mensch muß aber auch ein gewisses Geschick ha ben. das Glück herbeizurufen. Wie man das tun kann? Man muß die vielen kleinen Gelegenheiten benützen, die das Leben jedem Menschen bietet. Es wird in jedem Jahr Frühling, da die Erde voll Sonnenschein und Blumen und Gesang der Vögel ist. Was ist beglückender, als nach trü ber Winterzeit in den sonnigen, wonnigen Lenz hinauszu wandern? Das ist eine herrliche Gelegenheit, auf einige Stunden glücklich zu sein. Bleibst du dennoch verdrossen und unzufrieden hinter deinen vier Wänden sitzen, so darfst du dich nicht über mangelndes Glück beklagen. Du könntest dir und deiner Familie jeden Abend ein oder zwei glückliche Stunden bereiten, wenn du zu Hause bleibst und dich mit den Deinen um den Tisch setzest, um u plaudern, ein schönes Buch zu lesen, Bilder zu betrach en, etwas zu basteln, zu musizieren oder sonst eine Kurz weil zu pflegen. Tust du das oder gehst du deinem Glücke absichtlich aus dem Wege? Solcher Glücksgelegenheiten gibt es Tag um Tag unzählige für jeden Menschen, der ernstlich danach trachtet, glücklich zu sein. Vor allem aber mühtest du lernen, deine schwanken den Stimmungen zu meistern: denn sie sind ja die häufig sten Erreger deiner Unlustgefühle. Wenn du es einmal in Ruhe überdenkst, hast du gar keinen Grund, dich un glücklich zu fühlen. Deine äußeren Lebensverhältnisse sind befriedigend, du hast einen Beruf, der dich und die Deinen auskömmlich ernährt, du leidest an keiner ernst lichen Krankheit, hast ein geordnetes Hauswesen und kannst dir manche Annehmlichkeit gestatten. Ist das nicht Millionen Kreuzbilder in Kirchen und Schulen, dro ben auf den Türmen und auf den Bergen, in den Nischen an den Straßenecken, über dem Bett im Schlafzimmer und zu Häupten jedes Grabes — überall erinnern sie an den Tod des Gekreuzigten. Schabt die Wandbilder in den Kirchen ab, reißt die Gemälde von den Altären und aus den Wohnhäusern: das Leben Jesu wird die Mu seen und die Sammlungen füllen. Werft die Missalien. Breviere und Gebetbücher ins Feuer, sein Name und seine Sätze stehen in allen Büchern jeder Literatur. So gar eure Gotteslästerungen sind unfreiwillige Beweise da für, daß er noch unter euch ist. Was man euch tun mag, wo man anfängt und wo man aufhört, ist Christus; er ist die Zusammenfassung göttlicher Geheimnisse zwischen den zwei Enden mensch licher Geschichte. Heidentum und Christentum können nie mehr in eins Zusammengeschweißt werden; vor und nach Christus sind ein für allemal zwei verschiedene Dinge. Unsere Zeit rechnung. unsere Kultur, unser Leben, sie fangen mit der Geburt Christi an. Was vorher gewesen ist, können wir erforschen und in unser Wissen aufnehmen, aber es ist nicht mehr unser; es trägt andere Ziffern, es hat andere Zusammenhänge, bewegt unsere Gemüter nicht mehr; es ist meinetwegen schön, aber tot. Cäsar hat zu seiner Zeit mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als Christus; Pla to hat mehr Gelehrsamkeit entfaltet als er. Man redet heute noch vom einen wie vom andern; aber wer regt sich noch Cäsars wegen auf? Wo sind heute noch Plato- niker und Peripatetiker? Christus hingegen ist immer noch lebendig unter uns; es gibt noch immer solche, die ihn lieben, und solä>e, die ihn hassen. Es gibt noch ein Leiden an seinem Leiden und eine Freude an seiner Mißhandlung. Gerade die Wut so vieler gegen ihn verkündigt, daß er noch nicht tot ist. Die Gleichen, die sich in Unkosten stür zen, um seine Lehre und sein Dasein auszustreichen, s i e verbrauchen ihr Leben, daß sein Name nicht vergessen wird. Wir leben in der christlichen Zeitrechnung: sie ist noch nicht aus. Um unsere Welt, unser Leben, uns selbst zu verstehen, müssen wir auf ihn Zurückgehen. Jedes Ge schlecht muß sein Evangelium nochmal schreiben. Keine Zeit war wie die unsrige fern von Christus und zugleich sehnsüchtig nach ihm. Aber die alten Bü cher leisten's nicht, daß jemand ihn heute wiederfindet. Kein Leben Jesu könnte schöner und vollendeter sein als die Evangelien, auch nicht, wenn ein größeres Ge nie, als es bisher eins gegeben hat, es schriebe. Die nüchterne Klarheit der ersten vier Erzähler könnte mit allen Wundern des Stiles und der Kunst nicht über troffen werden. Es ist nicht viel, was wir zu dem hinzu- fügen können, was sie schon gesagt haben. Aber wer liest denn heute die Evangelien? Und wer verstünde sie denn wirklich zu lesen, wenn er sie auch läse? Die Worterklärungen der Philologen, die Kommentare der Exegeten, die Lesarten der Handschriftenforscher — das alles hilft wenig. Buchstabenfuchserei, Zeitvertreib für geduldige Köpfe. Das Herz braucht etwas anderes. Der Verfasser dieses Buches (gemeint ist „Die Le bensgeschichte Christi" von Papini) hat vor Jahren ein. an deres geschrieben, in dem er das traurige Leben eines Menschen erzählt hat. der eines Tages Gott werden woll te. Jetzt, reifer an Jahren und an Gewissen, hat er ver sucht. das Leben Gottes zu schreiben, der Mensch gewor den ist. Der gleiche Verfasser hat in dieser Zeit, wo er seine wilde, unstete Laune sich auf allen Wegen des Unsinns tummeln ließ und der Meinung war, aus der Leugnung aller Ueberwelt ergebe sich die Pflicht, alle, auch die welt liche, bürgerliche Frömmigkeit abzutun und einem gan zen, fertigen Atheismus zuzustreben — er erwies sich da bei so logikkundig wie der „schwarze Cherub" Dantes, denn der Mensch hat wirklich keine Wahl als die Zwi schen Gott und dem Nichts, und wenn er Gott entläuft, dann gibts keinen Grund für ihn. den Götzen der Menge und den Fetischen der Vernunft oder der Lei denschaft sich zu ergeben —, in jener Zeit des Fiebers und im Grunde genommen, alles Wichtige, was der Mensch braucht, um glücklich zu sein? Liegt nicht alles übrige, was dir noch zu fehlen scheint, an dir selber, weil du nicht verstehst, mit diesen dir gegebenen Grundeleinenten des Glümes dein Leben richtig zu formen, daß du daran froh wirst? Du meinst eben immer, das Glücklichsein müsse von außen an dich heranfliegen, während es doch nur aus dir selbst herauswachsen kann; denn du bist kein toter Stein, der durch fremde Hände von außen her ge formt und schön gestaltet werden kann, sondern ein le bendes Wesen, das sich aus seinen eigenen Anlagen und Kräften heraus entfalten und gestalten muh. Diese Ar beit kann dir niemand abnehmen, und deshalb kann dich auch niemand glücklich maä)en, wenn du es nicht selber tust. Gott und die Mitmenschen können dir nur die äuße ren Hindernisse aus dem Wege räumen, die deinem Glück im Wege stehen könnten; alles sonstige muß von dir selbst geschehen, so wie eine Blume aus sich wachsen und blicken Muß. Du mußt besonders die jähen Anwandlungen der Unzufriedenheit und Unlust in drr überwinden, die sich bei dir einstellen, so oft etwas Nebensächliches und Bedeu tungsloses nicht nach deinem Wunsche geht, so oft die Mitmenschen dir unangenehm nahe treten, so oft deine Leiblichkeit einem kleinen Unwohlsein unterworfen ist. Darüber mußt du Herr werden, mußt darüber lächeln des Hochmuts hat der Schreiber dieses Buches Christus geschmäht, wie es wenige vor ihm getan haben. Es wa ren aber kaum sechs Jahre vergangen — allerdings sechs schwere Jahre, Jahre der Zerstörung draußen und drin nen —, da hat er nach monatelangem, erregten Umdenken plötzlich dieses Buch zu schreiben angefangen, eine andere Arbeit unterbrechend, fast getrieben und gehetzt von einer Kraft, die stärker war als er. Das Buch scheint ihm jetzt als eine ungenügende Sühne jener Schuld. Es ist Iesiis wohl schon oft vorgekommen, daß er recht innig von sol chen geliebt worden ist, die ihn vorher gehaßt hatten. Ter Haß ist manchmal nur eine unentwickelte, ihrer selbst nicht bewußte Liebe; auf jeden Fall ist der Haß eine bes sere Vorbereitung auf die Liebe als die Gleichgültigkeit. Wie der Verfasser (Papini meint sich selbst. D. Red.> dazugekommen ist, Christus fast von selber wiederzufin-s den, auf vielen Wegen wandelnd, die schließlich alle am! Berge des Evangeliums ausliefen, das wäre eine langes nicht leicht zu erzählende Geschichte. Aber sein Fall, das' Beispiel eines Menschen, der schon immer, von Kind auf, gegen jeden landläufigen Glauben und gegen jede Kirche, und gegen jedes geistige Lebensverhältnis eine gewalt-i same Abneigung verspürt hat. und der von Erfahrung zu Erfahrung einen neuen Weg ging, um so lieber. jL neuer er war, unter Enttäuschungen, die nicht weniger tief waren als vorher die Erwartungen hochgespannt; das Beispiel dieses Menschen, sage ich, der alle Ansprüche einer — wie nicht leicht eine frühere — unzufriedenen Zeit in sich selbst erlebt hat vom Aufsteigen bis zum Zu sammenfällen; das Beispiel eines Mannes, der in so vie len Sätteln geritten, soviel Spiel und Spott getrieben: der Fall, daß dieser Mensch sich schließlich in die Nähe Christi zieht, ist vielleicht nicht bloß für seine Person wichtig, ist nicht bloß seine Privatangelegenheit. Er kommt zu Christus nicht wie ein Müder, der sich ausruhen will; denn im Gegenteil, jetzt fängt für ihn ein schwierigeres Leben an, er hat erst recht eine mühevolle Aufgabe vor sich. Er kommt nicht aus greisenhafter Furcht, denn er kann sich noch jung nennen. Er kommt nicht aus Verlangen nach dem „lauten Ruhm der Weit", denn wie die Zeit läuft, wäre es in dieser Richtung dien licher, den Schmeichler zu spielen als den Richter. Aber der Mann, der da zu Christus kommt, hat gesehen, wie Christus verraten wird, wie er, — schwerste Beleidigung! — übersehen wird. Da hat er den Antrieb in sich ver spürt. ihn in Erinnerung zu bringen. Denn nicht nur seine Feinde haben ihn stehenlassen und zugrunde gerichtet. Schon als er noch am Leben war, haben ihn die. die seine Schüler waren, nur halb verstan den und am Ende verlassen. Undviele.dieinsei- ner Kirche geboren worden sind, tun das Gegenteil von dem, ivas er geboten hat; sie haben mehr Freude an seinen gemalten Bildern als an seinem lebendigen Beispiel. Und wenn sie Knie und Lippen mit irgendeiner äußerlicken Uebung ermüdet haben, dann meinen sie, mit ihm im Rei nen zu sein; sie meinen dann, getan zu haben, was er will, was er fast immer verzweifelt umsonst will, wie seine Hei^ ligen seit tausendneunhundert Jahren. Eine Geschichte Christi, die heute geschrieben wird, ist eine Antwort, eine notwendige Entgegnung, eine un ausweichliche Schlußfolgerung. Sie ist das Gewicht auf eine leere Wagschale, damit im ewigen Gegeneinander ziehen von Haß und Liebe wenigstens das Gleichgewickt — Gerechtigkeit hergestellt werde. Als Fortschrittsfcind erscheint oft einer, der zu früh auf die Welt gekommen ist. Die gleiche Sonne, die jetzt untcrgeht, gießt jetzt über ein fernes Land den frischen Morgen. Das Chri stentum ist nicht ein Stück Altertum, dessen brauchbare Bestandteile dem bewundernswerten, unübertrefflichen modernen Bewußtsein nunmehr endgültig einverleibt wären; es ist vielmehr für die meisten so neu, daßseine Aneignung noch nicht einmal in Angriff genommen ist. Die heutige Welt sucht eher den Frieden als die Freiheit: und es gibt keinen sichereren Frieden als den unterm Joch Christi. Entnommen dem Vorwort zur weltbekannten „Lcbens- ge schichte Christi" von Giovanni Papini. Allgemeine lernen als über Nichtigkeiten, die nicht wert sind, daß der Mensch sich damit eine Stunde seines kostbaren Lebens vergällt. Dann wirst du bald staunen, wie verhältnis mäßig leicht es ist, auf dieser Welt glücklich zu sein. 1'urnev, KI«ia" Iglc. 3.— „Kstkollseks M. 2.50, bröseln M. 1.80 „krvaclien', Qeäickte von lleclivix- Drsnslelcl tälc. 3.50 „vlo katbollsckv Oemelnäeksllsrln" von lgaurn pkilippi M. 3.50 „l.Iturxlv iiaä k>r»uonseele" von ^tksnssius V/intersix; 2.40 Alsier, Xatli. VersaMoclilisMx. Dresden--^. I, k>3p pelmannslrave 7 VerlanoaE-alt Mimchon.