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Lonnabeno, den 1. Januar 1927 Neujahrsbellage Nr. 1; Deire ^ Unsere Zeitrechnung Uns ist es heute eine Selbstverständlichkeit geworden, das; wir den Beginn unserer Zeitrechnung auf das Jahr der Geburt Christi legen. Wir können uns heute die gro ßen Schwierigkeiten, die ehemals mit der Zeitrechnung und der Zeitbestimmung verbunden waren, garnicht mehr recht vorstellen. Die Jahre vor Christi rückwärts gezählt — so können sich keine Verlegenheiten ergeben, mag man noch so frühe Zeiträume errechnen wollen —^ von da an vorwärts gezählt — wiederum steht eine unendliä)e Zah lenreihe zur Verfügung —, das ist so einfach, daß man an gar keine andere Möglichkeit denkt. Und doch, auch das scheinbar Selbstverständliche hat erst „erfunden" werden müssen und sich durchringen müssen. Und unsere Zeitrech nung ist trotz dieser heutigen Selbstverständlichkeit eine der Großtaten des Menschengeistes. Viele Jahrhunderte hindurch dachte man garnicht daran, Christi Erscheinung zur Grundlage für eine Zeit rechnung zu wählen. Christus und das bürgerliche Leben — das waren solche Gegensätze, das stand sich so feindlich gegenüber, daß es wie eine Entweihung erschienen wäre, Christus zum Grundstein des Kalenders zu machen. Wie zählen denn die Alten die Jahre? Die großen Schwierig keiten, denen eine einwandfreie Iahresrechnung im Al tertum begegnete, und die große Mannigfaltigkeit, die darin herrschte, zu kennen, wird dazu beitragen, das große Verdienst der neuen christlichen Zeitrechnung in Helles Licht zu rücken. Die Römer zählten zunächst von der Gründung der Stadt Nom an, die in das Jahr 754 der heutigen christ lichen Zeitrechnung verlegt war. Sodann non wichtigen historischen Ereignissen, z?B. den punischsn Kriegen. End lich — und das wurde im Lause der Jahrhunderte die ge bräuchlichste Berechnung — nach den beiden Konsuln, die jeweilig an der Spitze des Staates standen. Wer also einigermaßen die Zeitrechnung beherrschen wollte, der mußte die Namen sämtlicher Konsuln wissen! Nun kamen die gleichen Namen öfters vor, also hieß es, zumal bei öffentlichen Dokumenten, sehr vorsichtig zu sein. Häufig wurden daher zwei Zeitrechnungen nebeneinander ge braucht, und man sagte: im soundsovielsteu Jahre nach der Gründung Roms und unter dem Konsulat dieser und je ner Männer. Das galt für Nom und Italien. Andere Länder hat ten natürlich andere Zeitrechnungen. So zählten d i e Griechen in jener Zeit von einem Jahr, das dem Jahr 312 vor Christus entsprechen würde. Dies ist die soge nannte seleukidische Zeitrechnung, die nach aller, aber wohl falscher Ueberlieserung mit Alexander dem Großen in Verbindung gebracht wurde. Die Aegypter und mit ihnen ein großer Teil des Morgenlandes zählten nach einem besonderen Zeitabschnitt von fünfzehn Jahren, der in der Steuerveranlagung eine Rolle spielte. Andere Völker wieder zählen nach wichtigen Ereignissen ihrer Geschichte, ja viele Völker kannten überhaupt keine einheitliche Zeitrechnung, sodaß oft jede Stadt ihre eigene, meist vom Jahre ihrer Gründung an rechnende halte. Dieser Wirrwarr non Zeitrechnungen setzte sich noch mehrere Iahrhunoerte. nach Christi Geburr fort, ja sogar neue Nechnunoe u entstanden, wie zum Beispiel die spanische, die mit dem Jahr 33 vor Christus begann, und die d i o k l e t i a n i s ch e, die mit dem Jahr des Re gierungsantritts Diokletians (284) begann und große Ver breitung fand. Aber es zeigte sich bald das Bedürfnis, eine e i n h e i t l i ch e Z e i t r e ch n u n g für das ganze Abendland einzus.hren. Und zwar entstand und wuchs dieses Bedürfnis init der Ausbreitung der christlichen Leh re. Die kirchliche Hierarchie, die sich bald über die ganze damals bekannte Welt entrechte, drängte, schon allein we gen der Datierung der kirchlichen Feiertage und dann auch zum Zweck der Fundamentierung der christlichen Ueber- lieferung, auf eine gleichmäßige, überall gebrauchte, über sichtliche Zeitrechnung. Woher jedoch eine solche nehmen? Zunächst dachte man daran, nach dem Vorbild der römi schen Konsularrechnung die Negierungszeiten der Päpste als Anhaltspunkte zu wählen. Tatsächlich begegnen uns im 5. Jahrhundert Datierungen wie „im 5. Jahre des Pontifikats dieses oder jenes Papstes". Sie konnte sich jedoch nicht durchsetzen, vermutlich aus denselben Grün den, die bei der Konsularrechnung hinderlich waren Tie Negierungszeiten der Päpste zu behalten, die gerade dazu mal einander schnell folgten, war für die Allgemeinheit schwierig: außerdem bestand auch die Rivalität mit dem Kaisertum, das in dieser rein bürgerlichen Angelegenheit Hütte den Vorzug beanspruchen dürfen. So liefen die bisherigen verschiedenartigen Zeitrech nungen noch nebeneinander her, bis im 6. Jahrhundert ein Mönch, Dionysius, der sich selber den Beinamen Exiguus, d. i. der Geringe, gab. auf den Gedanken kam, das Geburtsjahr Christi zum Grundstein für eine Zeit rechnung zu wählen. Er beschäftigte sich mit der Berech nung der Osterdaten und erkannte dabei so recht die gro ßen Uebel der bestehenden Zeitrechnungen. Da legte er sich kurzerhand eine eigene Zeitrechnung zurecht. Bewo gen dazu hat ihn, wie er selbst erklärt, auch die Abnei gung dagegen, die Regierung eines Herrschers wie Dio« kletian, der einer der grausamsten Gegner des Christen tums gewesen ivar, als grundlegend für eine Zeitrechnung anzunehmen. „Ich ziehe vor, nach der Fleischwerdung unseres Herrn Jesu Christi den Verlauf des Jahres zu bestimmen, damit der Grund des menschlichen Heiles deut licher aufleuchte", so hat er selbst bekannt. Diese neue Zeitrechnung fand, wie man leicht ermessen kann, sofort begeisterte Zustimmung. Bis sie sich allge mein durchsetzte, dauerte allerdings noch zwei Jahrhun derte. Ja, Spanien behielt seine besondere spanische Aera sogar bis ins 14. Jahrhundert hinein. Die Zählung der Jahre vor Christi Geburt wurde durch diese Neuerung zunächst nicht berührt. Man zählte sie weiter nach den Konsuln und nach der Gründung der Stadt Rom. Je weiter aber die Forschung in das Alter tum eindrang und je weiter sie über die Gründung Noms hinauskam, desto notwendiger wurde es, auch hier eine Aenderung zu vollziehen. Im 18. Jahrhundert aber erst kam man auf den Gedanken der Rückwärtszüy- lung, der alle Schwierigkeiten mit einem Male behob So ist unsere so praktische Zeitrechnung insgesamt e r st 200 Jahre alt. Sie ist eine christliche Tat, und als solche heute auch erst bei den Völkern, die unter christ lichem Einfluß stehen, im Gebrauch. China, Japan, In dien haben noch ihre besonderen Zeitrechnungen. Doch ist es kein Zweifel, daß binnen kurzem alle Unterschiede fallen und die christliche Zeitrechnung die Welt erobert ha- den wird. E. A. S t e i n. Alke NeujahrsbrSnche Von Dr. P a u l I. v o n L o n e ... . . ves freuet sich der Engel Schar und singen uns solch neues Jahr." Diese Entwerfe des alten Liedes „Vom Himmel hoch" zeigen, daß N e u j a h r u n d W e i h n a ch - ten in alter Zeit z u s a m m e n f i e I e n. „Anno 1352, ven 25. Dezember uff eyncn Montag, war der hillige Lhristtag und gehet uns eyn Jar an, nach der Geburt zu zellen. Gott gebe es uns zur Selichksit." schreibt der Köl ner Patrizier Hermann Weinsberg in sein Tagebuch. Auch in Sebastian Brants „Narrenschiff" sehen wir den weih nachtlichen Tannenbaum umgeben von Neujahrsbräu- cken' „Wer das Neujahr nit geht anzusingen, Nit Tannenreiser steckt ins Haus, Wie der Aegypter Glaube war, Nil eine Schenkung wird getan, Ein' neuen Scherz weih zu erzwingen. Ter meint, er lebt das Jahr nit aus" So war also in den früheren Jahrhunderten der Neu jahrstag auch der eigentliche Geschenktag gewesen, wie sich das heute in Frankreich noch erhalten hat, nicht ahne Grund übrigens, da diese Sitte des Beschenkens zum Jahresanfang ein römischer Brauch war. Insbeson dere Patengeschenke sind auch bei uns in Deutschland an diesem Tage noch an der Ordnung. Daß man sich dabei oft recht sinnvolle „Neujährchen" bot, zeigt uns wieder der eben genannte Kölner Patrizier: „Die Pastores und Pre- dikant plegen uff bissen Tag den Iesum, das Kintlin, das Metz (Messer), damit er beschnitten, und andere gutte Dingen vor ein Neujahr zu geben ... In den Wonungen gleicht man den Kindischen auch vor Kurtzweil wol Neu- jaren zu geben als: das Glücksecklin (das, so oft man drin griff, zehen Gulden hervorprachte) oder das Wunschhoitlin oder das Taiflin Deck dich oder das man Sant Ottmars Feßlin heit (hieß), oder Kuislin (kleine Keulen) wer dich hett gegen sin Fiant, die im Ueberlast, Unrecht und Gwalt zufoegten." Zu dergleichen Gaben ge hörten auch die vielerlei Gcbäcke, deren Formen in die heidnisch Urzeit zurückgehen, wie z. B. die acht- förmigen Krengcl oder Bretzel. Auch Götzenbilder aus Mehlteig kamen vor, wie denn das erste deutsche Konzil (unter Bonifatius 752) diese „Heiden-Wecke verbot. Es war eine schöne Sitte, mit derlei Gaben auch die Armen zu beschenken, in späteren Jahrhunder ten vornehmlich die kleinen Beamten. Nur daß das mit der Zeit mißbraucht wurde. Schon 1685 klagte man in Darmstadt über das viele „Bettelgesind", das mit „Sin- gung einiger Lieder, die sie doch nicht verstehen, umb Reichung einer Gabe offtmahlige Beschwerung verursa chen. auch daß die Viehehirten, Nachtwächter und andere Leuthe in Ufhebung (Erhebung) eines Neuenjahr- Geld fast ein Schuldigkeit und eine Gewohnheit machen." Aus Grünberg, einem anderen hessischen Amt, hören wir: Sobald die Stadttore geöffnet seien, kämen sogar von auswärts „einige hundert Leuthe, alt ung jung, groß und klein, welche von etlichen Stunden Wegs her zusammen- gelauffen waren, in die Statt, daruf von Haus zu Haus das Neujahr au schreien, solang, bis einem je den in der größten Geschwindigkeit etwas verabreicht wurde." Und doch war dies „Neujahr-ansingcn" ein sin niger Brauch. Alan lese nur eins dieser altdeutschen „Klopf an"-Lieder, wie sie uns etwa unter denen der Niirnberacr Meistersinger erhalten sind: „Klopf an! Klopf an! Ein fei ges Jahr nah' dir heran! Klopf an! Klopf an! Der Himmel hat sich aufgetan. Draus Heil und Seligkeit geflossen, Damit werdest du begossen! Der Frau, den Kindern und dem Ma»n Wünsch ich. was Gott nur geben kann: Gesundheit des Leibs und frischen Mut Und was sonst wohl dem Herzen tut. So manche Tropfen im Meere sind, Soviel Vergebung für deine Sünd! Klopf an! Klopf an! Mein Herze hat sich ausgetan: Friede in Christo und ewiges Leben, Das wolle dir Gott in Gnade geben! Klopf an! Klopf an!" — Es sind heute noch manche Orte, besonders in West falen, die diese alten Sprüche rein bewahrt haben. Doch glaube man nicht, daß der Allotria, der sich andern orts^ damit verband, immer nur neueren Datums sein müsse. Daß es in der sogenannten „guten" alten Zeit nicht besser war. bezeugt die bekannte Lebensgeschichte detz Magisters Lauckhart, die uns z. B. aus Gießen wie Nord hausen über die übelsten Verstöße gegen Sitte und Ord nung in der Neujahrsnacht berichtet: So seien am Silve sterabend 1701 von allen Einwohnern keine fünfzig ins Bett gekommen: um zwölf des Nachts wurden alle Glok- ken geläutet und die Kanonen abgebrannt; die übrige Nacht wurde gejubelt und gesoffen, bis man endlich in die Kirchen ging und Katt dankte, „das man im neuen Jahr noch ebenso gut Schlund und Kehle habe wie im alten." Merkwürdigerweise gebot eine Schulordnung in demsel ben Nordhausen schon 1583, die Lehrer (!) sollten sich mit ihren Schülern am Neujahrsabend „auff den Gassen an ständig betragen und kein Aergernis geben, nur christ liche Weihnachtslieder vor den Türen figurieren, nicht leichtfertige Lieder, auch nicht erst spät am Abend aus gehen und geringe Gaben nicht vor die Füße werfen. Sie sollten auch nicht an Orte gehen, wo sie leichtfertige Ge lage mit Tanzen und Saufen spüren"; im übrigen möch ten die „Kollegen das Geld unter sich in arithmetischer Proportion teilen". Man übersehe dann auch nicht, daß es sich bei diesen wilden Bräuchen überhaupt nicht einmal immer um ver rohte Sitte handelt. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht allein, daß der Mensch nur durch übertriebene Lustigkeit des Ernstes der Mitternachtsstunde glaubt Herr werden zu können. Dieser „Betrieb" hatte in der heidnischen Urzeit, bis wohin wir ihn zurückversolgen können, einen noch tieferen Sinn. Man glaubte nämlich, mit einem solchen „Heiden"-Lärm die bösen Geister zu ver scheuchen, die in diesen heiligen „Zwölften" (vom 24. Dezember bis zum 6. Januar) verderbenbringend durch die Lüfte zögen. „An den Olljahrsdag möt man mit Sllnnenuntergang de Huesdoer tomaken, sus kümmt Fru Gauden (de olle Haksche). Mal treckt fei ok in ein Hus un künn nicht mit all är Hunn' (Hunden) dörch den Scho- stein rut kamen; einer blew uvpen Fürhierd liggen un sanierte dar nat ganze Jahr dörch, bet Fru Gauden ein äwern Jahr mitnehm." Ein achtzigjähriger Greis im Lüneburgischcn blickte noch zu unserer Zeit mit seinen Hellen blauen Augen in die Silvesternacht hinaus und meinte: „Tat schall'n nicht glöwen; aber is dit nich just, as wenn de Helljüger säuert? Us' Großmudder plegg us väl darvon tau verteilen." Auch die üblichen Neujahrsglückwünsche (ein „Wunsch" war unfern Altvordern dasselbe wie ein „Zauber!") wurzeln in der Furcht vor „Angang". Daher möchte einer dem anderen zuvorkommen, und wehe, wenn einem eine alte Frau das Neue Jahr „abgewinnt!" Aus dem gleichen Glauben entstand der Brauch, kurz vor der Jahreswende flüssiges Blei oder dann geweihtes Wachs ins Wasser zu gießen, um aus den dabei entste henden Figuren die Zukunft anzudeuten. Glaubte man doch, in diesen geheimnisvollen Stunden vor Jahres schluß an das Schicksal eine Frage frei zu haben. Und wenn noch heute dabei ein Kreuz nicht etwa „Tod" be deutet, sondern umgekehrt „Glück", so haben wir auch darin wieder ein Zeichen, wie uralt dies Glückspie! ist: Denn dies Kreuz ist nichts anderes als das Sonnenrad. Begreiflicherweise sind die jungen Mädchen am Sil vesterabend am neugierigsten. H e i r a t s z a u b e r soll ihnen die Zukunft ausdecken. Sie werfen ein Kopshaar ins Wasser; kräuselt es sich, so bekommt die Wißbegierige im folgenden Jahre einen Mann. Und eine lange Apfel schale, über die Schulter geworfen, deutet dann mit der Schlinge am Boden den Namen des Bräutigams. Andern orts nehmen sie eine Handvoll Kieselsteine aus dem Dach; sind sie paarig, so bedeutet das Glück in der Liebe. Auch klopft man an den Gänsestall; fangen die Tiere an zu schnattern, so ist der „Gänserich" für das nächste Jahr sicher. Einen solchen Brauch schildert I. H. Voß auch in seiner Idylle „Die Bleichcrin": „Vorige Neujahrsnacht, da es zwölf schlug, wankte sie rücklings, Eine Deck' um den Kopf, hellweiß wie ein Spuk, aus der Haustür; Sieh, und blank auf dem Giebel im Mondschein stimmt der Brautkranz. Künftige Neujahrsnacht, wo der Mann nicht wehrt den Ausgang, Wird ihr blank von dein Giebel die Wieg' herglän zen im Mondschein." Ein übler Aeujahrsscherz Von einem üblen Neujahrsstreich weiß die Chronik der Stadt Gießen zu berichten. Und zwar sind es die Stu denten gewesen, die den Bürgern den Streich gespielt ha ben. Wie gewöhnlich gingen sie an einem Silvesterabend in die Kneipe. Kurz vor 12 Uhr aber brachen sie auf und begaben sich nach Hause. Ein jeder hatte sich einen oder auch mehrere Töpfe besorgt, die er mit Schmutz und Un rat aller Art gefüllt hatte. Sämtliche Fenster wurden geöffnet. Als dann der Glockenschlag 12 ertönte, erscholl in der ganzen Stadt ein lautes: „Pereat das alte Jahr!" Und dann schüttete ein jeder seine Töpfe auf die Straße hernieder. Nachdem das geschehen war, erklang wie auf Kommando ein „Vivat das neue Jahr!" woraus alle Fenster wieder zuflogen. Dann begaben sich die Studen- k.'N wieder in ihre Kneipen und zechten bis zum lichten Tag. Die Straßen aber sahen am Neujahrstage sürchter- lich aus, und wenn es nach den erzürnten Bürgern ge- gangen wäre, dann wären an diesem Tage alle Gießencr Studenten zum Teufel aeiagt mortwi, mio der Erzähler hinzusetzt.