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Lsctisisclie Vollcsreitunzs 1927 Aus dem Inhalt. Oscar Klein: Berlin Martha Krüger: Die Nephritschale. Kuni Tremel-Eggert: Im Karussell. Ioh. o. Kunowski: Lebensweisheit. Hans Gäfgen: Goldene Stunde. Kurt Erich Meurer: Die Wiese. Fünf Minuten Kopfzerbrechen. Berlin Ein Reisebrief aus 1435 von Oscar Klein. Dem hochgelahrten Doktor der Weltweisheit, auch der sieben freien Künste Magister, meinem großgünstigen Gön ner und viellieben Oheimb, Sebaldus Friedericius, Fried, . Gnad und alles Gute. Und da ich ihm auf sein Ansinnen verheißen habe, ihm die Stadt Berlin im Churfürstentum Brandenburg, allwo mich der Weg geführt hat, drovitsr zu beschreiben, so beginne ich hiermit mein Skriptum, «er hoffend, es mit der Heiligen Beistand zu beendigen. Es liegt aber Berlin an einem Flusse, die Spree ge heißen, so sich lveit davon ab in die Havel ergeußt und bringt bemeldeter Fluß viel Verkehr, Geld und Waren in die Stadt, so man absonderlich am Krögel kann gewahren. Besteht aber selbige Stadt Berlin zur Zeit aus der Städten zween, nämblich der Stadt, Berlin genannt und der Stadt Cölln geheißen, so beide zusammen einen Ort bilden und ist das Rathaus für beide gemeinsam auf der langen Brücke gelegen, hat aber ein jeder Ort noch ein eigen Rathaus an seiner Stelle. Und haben Berlin und Cölln zusammen drei Kirchen, die zu St. Petri, als wo die älteste, die St. Nicolai- und die Marien-Kirche, sind gar stattliche Gotteshäuser, absonderlich die zu St. Marien. Des weiteren gibt es hier zween Hospitale und zween Klöster, das graue Kloster der Franziskaner, so in der Klosterstraße gelegen und das Kloster der Dominikaner an der Brüderstraße. Item ein Beguinenhaus, ick est ein Convent frommer Jung frauen und Wittiben, das Hohe Haus, allwo der Churfürst absteigt, so er Berlin besucht und noch vielerlei Straßen, von denen die eine, so Hoher Steinweg geheißen, des herr lichsten mit Gestein bepflastert ist. Aber Herr Johann, der lichsten mit Gestein bepflastert ist. Aber Herr Johann, Churfürst, so sie den Alchimisten heißen, wird nit sobald wieder in Berlin einreiten, maßen er eine Walfahrt nach, Jerusalem will beginnen, wie er E. E. Rat von Berlin- Cölln im Monat Loptembris von der Stadt Leipzig aus brevi manu berichtet. Berlin mit Cölln zusammen ist eine gar große Stadt und haben beide Orte wie man weiß, zusammen 1036 Häuser und Wohngebäude, nämblich Berlin 724 und Cölln deren 312. Aber hierbei sind nicht mitgezählt die Wohn häuser der Geistlichkeit von Berlin, und sind über 200 Cle- riker in Berlin-Cölln zum Heile der Seelen tätig. Und sollen in beiden Städten zusammen 1036 Familien wohnen und alles in allem 6400 Bürger, welches eine gar große Zahl ist und können in Paris nicht viel mehr leben. Sind hier auch die Eckhäuser der Gassen und die der Vornehmen gar fein von Stein erbaut und haben deren etliche sogar Glasfenster, wie ich selbst gesehen habe. Es stehen aber in Berlin die Häuser mit dem Giebel nach der Gasse, just wie bei uns, auch hat man hier der Häuser zweierlei Art. nämb lich erstens die Bürgerhäuser, Vrauerben geheißen und zum anderen die für das geringe Volk so man Wohnbuden nennt und haben die Bürgerhäuser meist zween Stockwerke, die Wohnbuden aber sind gar elende Hütten und liegen an den Kirchhöfen, an Sumpf und Wiese, den Wursthöfen und Judenhöfen. In der vornehmen Brüderstraße hat auch der hochmür- dige Abt von Lehnin ein gar stattliches Haus, ingleichen liegt allhier das der frommen Schwestern, Beguinen ge nannt. Rings um die Stadt herum geht die Stadtmauer und hat verschiedene Tore, als da sind das Oderberger, das Spandauer und Cöpenicker Tor, samt einigen andern. Auch gibt es allhier noch viel Acker und Wiesen, Feld, Wald und Sumpf und gen Westen hin eine große Heide, der Tier garten genannt. Ist auch dies Berlin ein gar lustiger Ort und hat viel Gastereien, die meist auf dem Ratsboden abgehalten wer den, als da sind Hochzeiten, Taufen, Feste der Geschlechter usw. Hat aber Berlin ohne Cölln 46 Schlächter und rech net man bei dergleichen Festivitäten auf den Kopf 4 Pfund Fleisch, hernach essen sie dann Käse und ein Backwerk von Schmalz, Gewürz und Honig, welches auf des Kaisers Tafel prangen würde, auch zu trinken gibt es in der Stadt Berlin gar mancherlei, als da ist Bernauer Vier, Gubener Wein. Frankenwein und anderes mehr. Sollte es aber gar sein, daß eine Hochzeit gefeiert wird von ansehnlichen Leuten, so gibt es noch Malvasier und allerlei andere Sor ten, so lecker und teuer, aus der Schweiz und dem Land Jtalia. Und ist solch eine Hochzeit ein großes Fest für die Leute, es werden dazu oftmals ganze Ochsen geschlachtet und Fleisch, Fett und Brautsuppe in der ganzen Stadt her- umbgeschickt, damit ein jeder sich freue. Denn in Berlin tut man viel für die Armen und es wird kein Fest, kein Ge- werkschaftsquartal oder Messe begangen, wobei die Armen nicht ihr gutes Teil abbekommen, daher sich zu dergleichen Festlichkeiten immer ganze Scharen von Leuten einfinden und dann satt heimkehren. Und in Berlin haben sie ein Schützenfest, das Quartal der Wollweber, der Knochenhauer, so alle gar herrlich ge feiert werden, denn es sind große Zünfte und haben viel Reichtum. Vor allem aber ist die Besichtigung der Stadt grenze ein gar herrlich Fest. Solche findet immer am 24. des Monats August statt, da alle mit Armbrüsten und Hellebarden hinausziehen unter Musik zur Stadtgrenze, allwo sie schon der Rat erwartet. Und wird hier dem jun gen Volk die Grenze gewiesen und es erst mit Ruten ge strichen und dann mit Leckereien gastieret, auf daß sie im Sinn behalte, wie die Grenze läuft, für alle Zeiten. Noch mancherlei wäre zu berichten, von dieser Stadt im Lande Brandenburg, will aber nur noch sagen, daß das hiesige Frauenzimmer oft gar stattlich einhergeht mit Spangen, Geschmeide, goldenen Borden und Kränzen undergleichen, sodaß ein E. E. Rat solches schon wiederholt verboten und zum Einhalt gemahnet hat. Ist aber damit nicht durchge drungen und soll dem Churfürst geschrieben haben „es ist damit nichts zu machen, wir sind nur übel angelaufen da mit", herrscht also auch hier Frauenwille und wird wohl überall so sein im heiligen römischen Reiche deutscher Nation. Sie Aephritschale Von Martha Krüger. Kiu-Puen stahl sich heimlich von Halste fort. Line Woche schon bestand das Verbot seiner Eltern, zu Herrn Jans in die deutsche Schule zu gehen, die am Hafen in einer der europäischen Settlements lag. Er vermißte die Schulkameraden, Söhne be güterter europäischer und chinesischer Familien. Trotzdem die ausländische Schule von ihren gelben Schülern das doppelte Schulgeld erhob, saßen auch ein gut Teil armer Kulijungen in ihren schlichten verblichenen Leinwandkitteln darunter. Es waren begabte Jungen, die von einem Bunde gebildeter junger Chinesen in die höheren fremden Schulen geschickt wurden. Kin- Puens Bruder, der auch diesem Bunde angehörte, hatte einmal gesagt: „Wenn China frei werden will von fremdem Einfluß, dann muß es sich befreien von europäischen und amerikanischen Waren, aber nicht absperren vom Wissen und der Schulbildung der weißen Rasse; denn das ist ihre stärkste Waffe, und nur mit dieser ihrer eigenen Waffe und dem Boykott ihrer Waren sind sie zu schlagen." Kiu-duen hatte Hochachtung vor seinem Bruder, wie er wollte er einmal die Universitäten von Berlin und Neuyork be suchen, Mitglied der chinesischen Klubs in den Hauptstädten der alten und neuen Welt werden und schließlich einer der leitenden Politiker, immerfort auf eiligen Reisen durch das Riesenland begriffen, auf Konferenzen mit den Machthabern des Militärs und Handels, oder in überfüllten Versammlungen zu einer brodelnden, gespannt lauschenden, ihm zujubelnden Menge sprechend. Kiu-duen ging gerne in die deutsche Schule, weil er dort gleichaltrige Kameraden traf, weil er spielend leicht lernte und wißbegierig war und weil er eine schwärmerische Zuneigung zu dem jungen Lehrer gefaßt hatte. Der war so ganz anders wie die Mehrzahl seiner weißen Landsleute, die im Verkehr mit einem Eingesessenen unbewußt, oft auch bewußt beleidigende Kälte und Hochmut zur Schau trugen. Was würde Herr Jans von ihm denken, daß er während einer ganzen Woche nicht ein mal versucht hatte, zu ihm zu kommen! Gewiß, es waren er neute Unruhen ausgebrochen, wie sie in den letzten Jahren häufiger waren. So war an einen geregelten Schulbetrieb nicht zu denken. Im Arm trug er eine kleine, kostbare Nephritsckiale, ein Familienerbstück, aber Herr Jans sollt« sie haben. Er hatte eine kleine Sammlung chinesischer Altertümer, das wußte Kiu- duen. Vorsichtig trug er sein Geschenk durch die schmalen, tosenden Straßen. Dort hämmerte ein Flickschuster neue Sohlen auf alte, zertretene Schuhe. Auf einem Bauplatz wurde Bau holz zugehauen und zersägt, und dicht daneben hatte der Bau unternehmer eine Garküche errichten lassen, nd man sah die Kulis mit Schüsseln voll Reis daherkommen. Diese Woche hatte Kiu-duen auch nicht zum Mark; gehen dürfen. Oder war weg«n der Unruhen keiner gewesen? Er mußte lächeln, wenn er an alles dachte, was dort zu sehen war. Daukler bohrten sich Dolche durch die Nase und verschluckten Glocken, die im Innern ihres Bauches dumpf rumpelten. Einmal hatte er in einem Guckkasten das Leben und Treiben der deutschen Zm kamssel der Arbeit Von Knni Tremel-Eggert. . r So gern wie den Zipfelsdieter haben di« Oberfelbitzer noch keinen begraben. Oberselbitz ist ein wunderschön gelegener Marktflecken am Obermain, uralt und malerisch liegt er, wenn man bahnauf- wärts fährt, links drüben auf der Sonnenseite. Und fast so alt. wie der Name Oberselbitz, ist in Oberselbitz der Name der Familie Zipfel. Di« Zipfel hängen in Oberselbitz überall heraus, st« stehen durch ein paar Jahrhunderte in allen Standesamtsregistern und Kirchenbüchern, der Name Zipfel ist mit stolzem Schwung ins Erz der großen Kirchenglocken gegraben, wie er ebenso jeden Sonntag von der Kanzel tönt, wenn der Pfarrer den für Zeit und Ewigkeit gestifteten Mariendreißiger für die ver storbenen Mitglieder der Familie Zipfel verkündet. Da der Mariendreitzigerstiftung drei große Aecker erster Bonität an hängig, so ist anzunehmen, daß der Name Zipfel in Oberselbitz in absehbarer Zeit kaum erlischt. Es würde auch ohne diese stolze Kirchenstiftung nicht vergessen, denn di« Zipfels gehören zu den Leuten, von denen man spricht, sie gehören gewisser maßen mit auf den Präsentierteller der Marktgemeinde Ober« felbitz. Der Zipfeldieter war der reichste Bauer von Oberselbitz, besten Bevölkerung aus Bauern, Bäuerlein und Handwerkern besteht. Di« Zipfel waren von jeher „Genaue" gewesen, aber der Dieter schabte weiß Gott mit den Haaren di« Haut her unter. Sie waren ja nur darum so groß geworden, weil st« das Klein« zusammenhielten, und Großvater und Vater hatten es weiter vererbt. Es gab zum Frühstück und Halberabend bei den Zipfels nichts anderes als weißen Käse, einen Laib Brot »nd Dünnbier für Knechte, Mägde und Taglöhner, und für di« Söhn« und Töchter der Familie gab es ebenfalls nichts anderes Trotzdem bekamen die Zipfel immer eher Taglöhner wie die kleinen Dauern, wenn die gleich Preßsack und geräuchertes Fleisch zum Vesper gaben, warum — ia warum? Fragt st«, die Taglöhner, st« misten die Antwort selber nicht, misten nicht, daß sie es mit einem gewissen Stolz sagen, daß sie die ganze Woche beim Zipfeldieter mit „schneiden" müßten und daß sie deshalb beim besten Willen niemandem anders aushelfen könnten. So ging cs mit allen Leuten in Oberselbitz, Schuster und Schneider. Schlosser und Schmied, all« l»edienten sie den Zipfelsdieter zuerst, obwohl er ihnen kein gutes Wort gab und schlechter zahlt« als alle anderen. Ja, der Frosch kriecht in das Maul der Schlange, wird gefressen und hüpft doch nicht davon. All« dienten im Grunde genommen dem Dieter: der Schuster traut« sich nicht seine höchsten Preise aus die Rechnung zu setzen, und der Schmied schweißt« noch einmal zusammen und sagt« nichts, wenn der Dieter nur einmal bezahlte, was zweimal brach. Der Dieter hätte also ein glücklicher Mann sein müssen, denn er hatte ein stilles, braves Weib und sieben gesunde Kinder, aber er hatte mit dieser einen und diesen einen achtfachen Verdruß, denn — was alle anderen taten, ohne zu denken und zu murren, taten di« Zipfelskinder nicht. Das heißt, sie arbeiteten schon; der Dieter ritz ihnen ja um vier Uhr in der Frühe die warmen Zudecken weg und schüttete ihnen, wenn das noch nicht half, kaltes Wasser über die Köpfe, riß Türen und Fenster aus und fluchte, daß schon jedem das Schlafen verging, aber er spürte es bis ckns Blut hinein, sie bewegten sich nur unter seinem Zwang. Arbeit war das nicht. Wie sollte das werden, wenn er einmal nimmer war. Er schnauft«, wenn er das dachte, und hätte am liebsten, bei der Frau angefangen, jedes einzelne windelweich geschlagen. Die Frau war schuld. Sollte man's glauben, daß ein Mensch an einer Dummheit sein ganzes Leben lang zu büßen hatte? Kr hat sich in sie vergafft, als er jung war und unerfahren, und da sie Geld hatte, hat sein Vater nachgegeben. Der Dummkopf! Einspcrren hätte er ihn sollen. Gesund ist sie, sagte der Alte, und Geld hat sie auch, und datz sie ein« Feiner« ist, wird schließlich nicht schaden; du hast ja Knecht« und Mägde fürs Feld, läßt di« Frau im Haus. Gesund war sie; sieben Kinder hat er, aber jedes schlug nach ihr. Keiner seiner drei Buben hat den breiten Zipfels- schädel mit den scharfen, bellarauen, blond!! b-rbuschten Auaen: alle sind sie dunkel und braunhäutig, und die vier Mädchen sind ebenso. Von Vaterliebe war in ihren Herzen keine Spur, und wenn sich der Dieter über ihre Faulheit und Bockbcinigkeit beklagte, dann preßten sie die Lippen aufeinander und gingen. Nur der Aeltestc, der Wilhelm, hat einmal geredet, und das ist ihm übel bekommen. Der Dieter hat ihm die Sense beim Getreidcmähen aus der Hand gerissen und liat ihm die Breit« der Mahd verdoppelt, wobei er über das schmal« Säumchen hämte, das er nahm. Dann fragte er ihn, ob er deuke, daß die andern, wenn er einst Bauer sei, die Spur breiter nähmen als er? Der Wilhelm, dem der Zorn in den Kopf fuhr, traute sich Antwort zu geben. Er sagte, er sei erst siebzehn und mit jedem Jahr könne er ja zehn Zentimeter zugeben, da gäbe cs eine Dreimeterbreite, bis er einmal ans Ruder komme. Im nächsten Augenblick blitzte etwas Silberhelles in der Lnft. Der Wilhelm hatte sich gebückt »nd den Wetzstein auf gehoben, und so begriff er zuerst nicht, warum die anderen mit Augen voller Entsetzens dastanden. Die LLeiber mit ihren Armen voll Aehren, die Mäher mit schlaffen Händen, denen die Sensen entfielen. Wie der Wilhelm aber auf seinen Bater sah, wußte er, daß eben der Wetzstein — oder ein höherer Wille durch ihn. ein schweres Unglück verhütete. Verachtung umspielte seinen zuckenden Mund, und seine dunklen Augen auf den Vater richtend, sagte er fest: „Was du bist, will ich nie werden. Das wollte ich dir noch sagen." Vis der Alte sich umsah, war der Wilhelm schon drüben auf der Landstraße. Wie aber der Dieter den anderen Morgen in di« Vubenkammer polterte, da war das Bett des Wilhelm leer und blieb es auch. In einem Städtchen, acht Stunden mainabwärts, soll er bei einem Meister das Schreinerhandwerk lernen, so erzählen sich die Leute untereinander, und seiner Mutter schrieb er, daß er anfange, ein froher, glücklicher Mensch zu werden Seine Ge schwister aber sagten ihrer Mutter, die ihnen seufzend des Jungen Brief hinlegte, daß sie den Wilhelm beneideten. Aber sortzulaufen, wie der Wilhelm, traute sich keines, so gingen sie mit. rundherum durchs Fabr. und ihr Leben kiek mi, das