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Beilage zu Nr. 133 der „Sächsischen Bolkszeituug* vom 13. Juni 1VVV. Soziale Friedensinstrumenle? Leit Jahren ist die Forderung in der breiten Oeffent- lichkeit erhoben worden, die Gewerbeaufsichtsbeaniten möchten sich in ihren Jahresberichten nicht ans die Regi strierung von Tatsachen beschränken, sondern dieselben auch mit ihrem fachkundigen Urteil, Erwägungen und Be- rrachtnngen begleiten, damit sie eine Quelle bilden könnte» für volkswirtschaftliche Erkenntnis und Anregung prak tischer gesetzgeberischer Maßnahmen. Diesem Wunsche kommen nun in einer bisher in Deutschland nicht gekannteil Weise die eben erschienenen Jahresberichte der Gewerbe aufsichtsbeamten im Königreich Württemberg für das Jahr 1905 nach und zlvar speziell bei den Punkten Arbeiter organisationen und im Anschluß daran: Tarifverträge. Die im Jahre 1905 dort stärker denn je hervor- tretenden Bestrebungen der Arbeiterschaft nach Absüstnß derselben führt der Berichterstatter vor allein zurück auf die umchtig vorwärtsstrebenden Arbeiterorganisationen und andererseits Arbeitgebervereinigungen. Die ersteren haben speziell auf Arbeiterspychologie und Charakter eingewirkt. Selbstbewusstsein und ein gewisses Stärkegefühl entwickeln sie bei ihren Mitgliedern. Diese haben ihrerseits wieder die Ansprüche der Arbeiter zur Folge, bei der Festsetzung der Arbeits- und Lohnverhältnisse der Arbeiter mitzuwirken, lind zwar wollen sie durch ihre Organisationen mit den Unternehmern verhandeln, nur geschlossen diesen gegenüber- kreten. Die Organisation ist für die Arbeiter die Wurzel ihrer Kraft; auf sie halten sic etlvas Besonderes; sie ist ihnen gewissermaßen ein Stück Ehre! Bei fast allen neueren Lohnbewegungen erstreben sie daher auch nicht nur die Ver besserung der tatsächlichen Lohn- und Arbeitsverhältnisse, sondern gerade die Anerkennung ihrer Organisationen durch die Unternehmer und die Mitwirkung derselben bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen durch korporative Festsetzung im Abschluß von Tarifverträgen. Diese volks wirtschaftlich eiinvandfreie und klare Auffassung und Dar stellung der tatsächlichen Entwickelung veranlasst den Be richterstatter dann zu folgendem Urteil über den Wert der Tarifverträge für beide Teile und den sozialen Frieden überhaupt, das seine volle Wiedergabe durch sich selbst recht fertigt: „Die Tarifverträge bringen in der Tat für die Arbeiter und für die Unternehmer große Votteile. Den Arbeitern ist ein bestimmter sicherer Lohn garantiert, dessen Höhe sie mitbestimmt haben; die Unternehmer können für die Zeit der Gültigkeit des Tarifvertrages bei ihren Kalkulationen mit bestimmten Löhnen rechnen. Durch den Abschluß eines korporativen Arbeitsvertrages gewinnt der Verkehr zwischen Unternehmern und Arbeitern an Ruhe und Sachlichkeit, so daß auch nach Ablauf des Tarifvertrages der Abschluß eines neuen wesentlich erleichtert wird. Wenn die tarifarischen Abmachungen von beiden Seiten loyal eingehalten und regelmäßig erneuert werden, so bildet sich ein Gemein schaftsgefühl zwischen beiden Teilen aus, lvas insbesondere auch für den guten Fortgang des Geschäftes von großem Wert ist. Der Tarifvertrag scheint die geeignete Nechtssorm und der richtige Weg dazu zu sein, um den Arbeitern den ihnen gebührenden Einfluß auf die Gestaltung der Arbeits und Lohnverhältnisse zu gewähren. Ein weiterer äußerer Ausbau der Turngemeinschaften besteht darin, daß der Tarifvertrag ans möglichst viele Unternehmungen desselben Industriezweiges innerhalb ganz Deutschlands erstreckt wird, wobei eine Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse wohl möglich ist. Nach innen kann der Tarifvertrag durch Einsetzung von gegenseitigen und ge meinschaftlichen Organen, insbesondere von Schlichtungs instanzen vervollkommnet werden. Ein leuchtendes Vorbild im Ausbau des Tarifvertrages ist ja der Buchdruckertarif." Schließlich weist der Berichterstatter noch ans die Ge fahren hin, welche den Tarifgemeinsclxstten aus der bei der heutigen intensiven Konkurrenz beobachteten grenzenlosen gegenseitigen Unterbietung drohten, bei welcher die Tarif löhne auf die Tauer nicht bezahlt werden könnten. Von diesem Gesichtspunkt aus liege auch im Submissionswesen eine gewisse Erschwerung der Tarisbildnng. Man sieht hieran, wie wichtig eine gute Regelung des Submissions- Wesens auch für die Entwickelung und Einlxsttnng der Tarifverträge ist. Andererseits wurde der Weg zu den Tarifgeineinschaften als dauernde Institutionen erleichtert und vorbereitet durch das Zusammenarbeiten der Arbeit geber und Arbeitnehmer in den Gewerbegerichten und in den Schiedsgerichten für Arbeiterversichernng. Hier zeigt sich zugleich der Weg, wie in Zukunft weiter dem Abschluß von Tarifverträgen und damit dem sozialen Frieden vorgearbeitet werden kann, nämlich: Schaffung von Institutionen, in welchen Arbeiter und Arbeitgeber sich sozial näher verstehen und verständigen lernen; vor allem zunächst Einrichtung von Arbeitskainmern! Hinzntreten müßte, wie ja auch das Zentrum in einem besonderen An trag verlangt hat, ein Gesetzentwurf, „welcher allsreichende Bestimmungen zur Sicherung und weiteren Ausgestaltung der Tarisgeineinschaften zwischen Arbeitgebern und Arbeit nehmern entlstilt." Trotz der im gewerblichen Leben znm Teil wild gährenden Verhältnisse sind Ansätze znm sozialen Friedeil in den Tarifgemcinschasten vorhanden; es gilt nur, diese in richtigem Verständnis der Entwickelung weiter aus- znbanen. Und hierzu sollte eine weise Negierung — je eher, um so besser — ihre Hand bieten! Aus Stadt und Land. —* Als Hauptgeschworene für die Anfang Juli beginnende 4. diesjährige Schlvnigerichtspeiiode wurden gestern mittag folgende Herren ausgelost: Richard Wilhelm, Bäckermeister in Dresden; Rudolf Hermann Oswald Gotische, Kaufmann in Pirna; Karl Richard Hryde, Ge- meindevorstand in Niederhermsdorf; Adolf Bernhard Voigt, TorpedmOberstabsingenienr in Nadebeul; August Robert Bernhard Hanbold. Handelsgärlner in Lankegasi; Karl Christian Görne, Villenbesitzer in Großzschachmiy; August Theodor Hirsch. Fabrikdirektor in Pi:ne; Wolter Emil Otto Arnold, Rentner in Dresden; Konrad Haebler, Dr. Phil., Professor. Bibliothekar in Dresden; Karl Kiydel, Dr. med., Spezialarzt irr Dresden; Friedrich Wilhelm Theodor Heddenhauseo. Oberstleutnant z. D. in Dresden; Eduard Hugo Otto Paulig, Frbrikbesitzer iir Großenhain; Karl Theodor Koelst«an, Dr. ph>l., Museumsdirektor in Dresden: Albert Rönißt», Konsul und Fabrikbesitzer in Dresden; Julius Heinrich Theodor Leo, Dr. PhU., pciv. Apotheker in Dresden; Emanuel üleophas BeNhold Lachnit, Zenghauptmann a. D. in Loschivitz; Konrad v. Einsiedel, Major z. D. in Dresden; Alfred Görne. Gutsbesitzer in Gersebach; Wilhelm Nosemann, Major a. D. in Kötzschen broda; Karl Julius Haase, Komme,zimral in Meißen; Paul v. Amnion, Geh. KciegSrat a. D. in Drrrden; Otto Bernhard Konnann. Kaufmann in Dresden: Johann Heinrich Louis Helberg. Renner in Pirna; Ernst Richard Fasold. Fleischer-Obermeisler in Dresden; Julius Hermann Stempel. Rentner in Radebeul; Felix Geyer. Gärtnerci- besitzer, König!. Hoflieferant in Dresden; Oe kor Wilbelm Poscharsky, Bamnschulenbesitzer in Lanüegast; Gerbard Sactste, Hauptmaan a. D. in Niedellößnitz und Karl Arthur Dobberke. Kaufmann in Kötzickenbroda. —* Dw 29 I ihre atte G.swäftsfnhrer Alwin Spittel vo:: der bekannten Buchhaudlnugsfinna Hahn u. Jaensch, s wurde Sonnabend früh in dein Abort des Geschäftshauses mit durchschillttencr Pulsader und erhängt anfgesnnden. Der Grund zu der Tat ist unbekannt. —* Blutlaus. Um der Verbreftnng der hierorts wieder bemerkbaren Blutlaus wirksam cntgegenzliticten, ! hat der Stadtrat die aiiderltuite Untersuchung der in i Dresden befindliwen Obsrbäiime durch Sochvelständige ! unter Beteiligung städtischer Aiifslchlsbeon.uii engemd'.'.et. Kvtzschcnbroda, den 9. Juni. In der Zeit vom 1. i bis 7. Jan: kamen folgende Posten Erdbeeren zum Ver- ! fand: 1. Juni: 135l Kilogramm in 50 Körben. 2. Juni: 191-t Kilogramm in 55 Körben, 3. Juni: 359 Kilogr. in 31 Körben. 4. Juni: 1003 Kilogramm in 53 Körben. 5. Juni: 1332 Kilogramm in 43 Körbe:', 6. Juni: 1754 Kilogramm in 50 Körben und am 7. Juni: 1013 Kilo gramm in 53 Körben; seit Beginn des Versandes 10 303 Kilogramin in 542 Körben, Freiberg. Geheimer Vergrat Adolf Ledebur, ordentl. Professor der Eisenhüttenknude, Salinenkiinde und mecha nisch metallurgischen Technologie an der hiesigen Königlichen Bergakademie, ist Donnerstag abend hier Versio:den. Durch sein Wirkei: als praktischer Ingenien'', als Fer cher. Lebrer, Schriftsteller hat sich der Verstorbene sinen Weltruf er worben. Cr gehörte seit Ostern 1375 den: Professoren- kollegiinn der Akademie an und war auch Rektor der Hochschule in den Jahren 1399 bis 1901 und 1903 dis 1905. Leipzig, 9. Juni. Tie nicht der sozialdemokratischen Bewegung angehörenden Arbeitervei bände Leipzigs lieben durch eine Anzabl ihrer Vertreter einen Ausschuß gebildet, der den Zweck hat, die Interessen der Mitglieder der ange- schlossenen Verbände, eventuell auch durch Beteiligung an den öffentlichen Wahlen zu nxchren und die Hebung der wirtschaftlichen Lage anzustreben. — 100 — einsamen Gilt allein noch erträglich machten — seit Brnnhildes und Miß Harrisons Abreise fühlt sich die kleine Kreolin tief unglücklich. Eine Apathie, eine Gleichgültigkeit gegen alles nm sie her, beginnt von ihr Besitz zu ergreife». Selbst die fast täglich einlausenden trostlosen Nachrichten ans Noin über den Zustand ihres Bräutigams machen keinen Eindruck mehr ans sie. Zuerst hatte sie geweint, geschricn, in allen Tonarten gejammert. Aber Ilse und Trndi sind selbst so niedergedrückt durch die Gefahr, in der das Leben des geliebten Bruders schwebt, daß sic Dolores exaltierten Schnrerzensausbrüchen wenig Aufmerksamkeit Wiikcn. Und erst die braven Eltern! Dem alten Horst schmeckt sogar seine Pfeife nicht mehr, und seine Brillen gläser sind beständig trübe, so daß er den ganzen Tag daran herumwischen muß. Und Frau Marianne hütet schon seit längerer Zeit das Bett; die Angst und Sorge nm ihren einzigen Jungen hat sie aufs Krankenlager geworfen. So bleibt Dolores fast ganz ans sich selbst angewiesen. Mit rotgeweinten Angel: Weicht sie in: Haus umher, die Stunde verwünschend, de sie die „Villa Nomnlns" und damit das glänzende Nom verlies;. Um eii: wenig Beschäftigung zu haben, Putzt sie an ihrer Kleidung herum. Jedes farbige Band, das Ilse ihr schenkt, jeder kleine Spitzensetzen, den sie er- gattern kann, verwendet sie dazu, um das rosa Kattunkleid, welches Trndi ihr am Tage ihrer Ankunft überlassen, nach ihren: Geschmack zu verändern. Auch heute hat sie ein dnnkelblanes Band als Busenschleife vorgestcckr. Bei jeder anderen würde diese Zusammenstellung von rosa und blau gewöhn- lich erscheinen. Zn dem pikanten, braunen Gesichtchen der Kreolin, aus dessen Blässe die Lippen blutrot hcrvorleuchten, paßt sic vorzüglich. Ten breiten Strohhnt am Arm, einen großen altväterlichen Regen- schirm zuin Schutz gegen die Sonne aufgespannt — so streift sie auch heute wieder durch die kornschweren Felder . . . Nicht hat sie einen Blick für die anheimelnde Ruhe ringsuncher, nicht für die Feldarbeiter, die fleißig in gleichmäßigen: Tempo die Sense schwingen. Ihre Gedanke:: weilen in Nom. Doch nicht bei ihrem totkrankcn Bräu tigam. Mit unhemilickx'r Zähigkeit klammern sie sich an all das, lvas sie nm seinetwillen aufgegeben: ai: ihr luxuriöses Boudoir, an die glänzenden Fest lichkeiten, an die Huldigungen, mit denen sie von allen Seiten überschüttet wurde . . . Um sich die Zeit zu vertreiben, Pflückt sie ein paar verspätete Kornblumen und wilden Mohn. Mcck-anisch winden ihre kleinen Hände die tiefblauen und ll-nchtendroten Blüten zum Kranz. Wohin damit? Sie setzt ihn ans ihr Wvarzcs Lockenhaar und trollt weiter — gleich gültig, mit gesenkten: Köpfchen und holbgeschlvsseiwn Angen . . . Plötzlich bleibt sic verwundert stehen. Ihre Augen öffnen sich weit. Ein Herr kommt ihr entgegen. Er erscheint ihr bekannt. Sie beschleunigt ihre Schritte. Und jetzt — ein Frendenruf von beiden Seiten. „Signorina Arevallo!" „Signor Marchese!" ' - ' ' » - - » : - > — 97 — „Woher wissen Sie Ja, mein Kind, es ist so. Aber sagen Sie ibm nicht, daß ich mit Ihnen davon gesprochen habe. Er ist so schrecklich — oh, Sic wissen nicht —" Sanft ergreift Brnnhilde Miß Harrisoils kalte Hände. Zärtlich, wie einem Kinde, streicht sie ihr die widerspenstigen Löckchen ans der feuchten Stirn. „Beruhigen Sie sich, liebste, beste Miß .Harrison! Er wird Ihnen nichts tun. Ich »lackl-e über Sie!" Elanz still liegt die Kranke da. Ein heftiger Kampf spiegelt sich in ihren eiligefallenen Zügen. „Brnnhilde - " flüstert sie endlich matt. „Ich darf Sie doch so nennen, nicht watzr? . . . Ich möchte Ihnen etnxls mitteilen. Sie sind so gut, so stark. Sie werden mich nicht vemchten, nicht nxihr?" Lächelnd schüttelt Brnnhilde den Kopf. „Gewiß nicht, liebste Freundin . . . Sprechen Sie!" Und Miß Harrisoi: erzählt — erst zögernd, stockend . . . dann fließender, eifriger . . . zuletzt in höchster Erregung, an allen Gliedern zitternd — wes halb das Leben ihr zur Onal wurde, lveshalb Bernardo Rosso sie ganz in sein: Gewalt bekommen hat. Und Brnnhilde, die bebende .Hand der Krankeil fest in der ihren haltend, dort Wveigend zu — voll tiefsten Mitleidens, voll hellster Empörung . . . „Ich bin die einzige Tollster eines :-eichen englischen Oberst, der in Indien schwer verwundet wurde, seitdem gehirnseidend blieb und bald den Dienst emittieren mußte —" berichtet die Kranke. „Als treue Pflegerin stand ich ihm viele Jahre lang zur Seite. Jede Annäherung von seiten irgend eines Mannes lvies ich stets zurück ans Liebe zu dem Vater. Ich reiste mit ihm in der Wett herum, da er es nirgends lange anshielt. So kamen wir auch vor etivn zehn Jahren nach Nom und mieteten nns in einer Familienpension ein. Ter Besitzer lxftte für mich von Anfang an etlvas Unheimliches; aber seine Frau war lieb und sanft, und die Lage der Pension, in nällstter Nähe des Monte Pincio. ließ nichts zu wünschen übrig. So blieben wir dem: dort — trotz nieines geheimen Widerwillens. Zu meinem Unglück. Nach ein paar Monaten schon verschlimmerte sich der Zn- stand meines armen Vaters derart, daß er das Bett nicht mehr verlassen konnte. Man kündigte uns. Einen Totkranken könne man in der Pension nickst ge brauchen. Ich bat, ich flehte, ich beschwor den liartherzigen Mensllx'ii, meinen ster benden Vater nicht ans die Straße zu setzen. Nachdem ich notariell eine be deutende Summe ans Bernardo Rossos Namen — denn er l:xir der Pcnsions- inhaber — hatte festsetzen lassen, — zahlbar nach meines Vaters Tode — lxitte er die Gnade, nns in seinen Räumen zu behalten. Mein Vater litt furchtbar und quälte mich oft und viel. Aber ich er trug alles geduldig; dem: ich liebte meinen armen Vater. Wiederholt fragte mich der unheimliche Bernardo Rosso, ob ich dies Leben nicht lxlld satt hätte, ob ich mich nickst freuen würde, vor: der aufreibenden Pflege befreit zu sein. Doll Entrüstung wies ich derartige Bemerkungen zurück. Ich ließ nie mand zu meinen sterbenden Vater. Allein pflegte ich ihn Tag und Nacht. Da, eines Abends — ich hatte ihm gerade seine gewöhnliche Medizin ge geben — werde ich von Frau Rosso ans dem Zimmer gerufen. Sie wollte „Brnnhilde Isenburg." 25