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0nterli3!tun2 und I^Ir. 298 — 25. Neremster 1930 ^ ^ 8.1clis>8cst6 Ldil<52e>sun^ /^uk üein QrsnitsekM Von Al. Petroiv-Qrumsnt Polarnacht...' - - - Die Stunden von Wache bis Wache vergehen quäl« voll langsam und «intönig. Niemand sieht mehr auf das Zifferblatt der grossen Schiffsuhr — diefe gelbe Scheibe aus gesprungener Emaille wirkt wie ein Stück gelben, dichten Nebels, der das kurze Tageslicht erdrückt, und ist ver haßt. Obgleich die Uhr jeden Monat mit dem Greenwich- Meridian verglichen wird, scheinen ihre Zeiger zu lügen — so qualvoll langsam bewegen sie sich. Und alle sieben Mann Besatzung der Nadiostation hassen die Uhr . . . Der Radiostation auf einer einsamen Eranitinsel vor der Mündung des Murman. Unten tobt und schäumt die Ozeanbrandung, oben erheben sich stolz auf der durch Eis- stllrme eben gefegten Plattform Antenncn-Mnsten zum Himmel. Und man hat das Gefühl, daß ein riesiges Gra nitschiff die Wellen zerschneidet . . . Die Stahlwanten zerschneiden die von Stürmen ge triebenen Nebelschwaden, dumpf klingen die Steine, die ganze Insel dröhnt unter den gewaltigen Schlägen des Ozeans. Die Zweistundenwacht am Empfänger verfliegt un« faßbar schnell. Gierig fängt der Radio-Telegraphist noch die letzten Zeichen auf — den Gruß eines vorbeifahrenden Schiffs, die Stimme des fernen Moskau, die Meldungen der an den Ozeanufern verstreuten Kameraden — bevor er die Hörer seinem Nachfolger übergibt. In der wimigen Kabuse, in der die Petroleumlampe vierundzwanzig Stun den hindurch gegen die Polarnacht kämpft, schlägt das Herz der kleinen Welt. Wenn der Eissturm auf dem Dach pfeift und die Antennen stöhnen, zittert in diesem Raum krampfhaft das Leben. Die übrige Besatzung wandert mit zusammengebisse nen Zähnen, schweigend, wie Schatten, von einer Ecke des Wohnraums in die andere. Die Mauern scheinen Sarg wände zu sein, denen man nicht entflieht. Die zerfetzten, schmutzigen Karten locken niemand mehr, das Bücherregal verstaubt, und das Grammophon schweigt trübselig in der Ecke. Es ist ein grauer Apriltag. Die Uhrzeiger verkünden zwei Uhr mittags, aber durch das Fenster bricht nur trübe Dämmerung herein. Gegen das Glas prasseln Eisgraupeln und in dem Lichtstreifen, der von der Lampe nach außen fällt, sieht man wild wirbelnde Schneeflocken. „Ein Wetter? Wenn man zum Wasser könnte. Luft schnappen! Ich ersticke hier," sagte der junge Telegraphist Gilenko, und ließ sich auf seine Pritsche fallen. „Der achte Tag Sturm, und das Barometer rührt sich nicht!" rief einer. „Das hier ist unser Barometer!" und er zeigte auf Gilenko. „Gilenko lügt nie! Nicht wahr, Gilenko?" Gilenko schwieg. Er blickt« auf einen Punkt an der Decke, und in seinen Augen funkelte ein fiebriger Glanz. „Nichtig"..., antwortete er endlich, wollte noch etwas sagen, schüttelte aber den Kopf, hustete dumpf und drehte sich zur Wand. „Ich glaub's. Freund ... Ich glaub'» . . Saschka kam näher: „Sogar unser Fischblut friert bei diesem Wet. 1er .. . Ein ganzer Winter hier! Mollen das Blut ein bißchen durcheinanoerjagcn, damit es nicht ganz einfriert!" Er lief zu den Schaukelringen, schwang sich hoch, die Seile knarrten bei jeder Bewegung des Turners, seine Muskeln spannten sich, auf dem blassen Gesicht trat Röt« hervor. Plötzlich schwankte er ungeschickt während einer Kerze, ließ sich schnell herunter, machte einen Schritt und blieb stehen. Da» blaßgewordene Gesicht verzerrte sich zu einer fchm.rz- haften Grimasse, er griff mit d«r Hand an die Brust, fiel auf seine Pritsche und hustete lange und dumpf. Dann spuckte er aus, sah rote Fäden, und brüllte einen Kame raden an: „Höre auf zu rauchen! Qualmst einem die ganze Kehle voll! .. Dieser löschte gehorsam die Pfeife mit dem Finger aus Jetzt herrschte in diesem Zimmer schläfrige Stille. Von einer drückenden Starre gebannt lagen die Leute auf ihren Pritschen und schwiegen hartnäckig. Die Uhr tickte unent wegt. schlug Stunden, und langsam, langsam krochen die Schatten der Zeiger über den gelben Kreis des Ziffer blattes . . . Di« Dämmerstunde begann, auf dem Dache donnerte der Wind, fing sich im Schornstein und pfiff und heulte. Gilenko hielt es nicht aus, sprang auf, packte einen alten Kittel und stürzte zu der Luftklappe über dem Ofen. Er arbeitete lang«, bis er den zusammengerollten Kittel in das Loch gequetscht hatte, aber er hörte nicht eher auf,, bevor das Heulen des Windes verstummte. „Na, also . . " brummte er und begab sich auf sein Lager. Doch eine Minute später stimmte der Wind sein Lied von neuem, aber noch dünner und klagender an. Gi lenko warf dem Ofen einen wütenden Blick zu, spuckte aus und vergrub den Kopf zwischen den Kissen. Er hörte nicht das Lachen der Kameraden, andere Stimmen und Erinne rungen erwachten in ihm: der warme Frühling in der Ukraine, von meisten Kirschblühten überiäte Bäume, die pra>.> ligen Farven der einten, die sehnsnaitigen Nächte unter tiefstein Himmel voll fun iclnder Sterne . . . „Glienkv! Ho, Gilenko!... Singen mir etwas! .,." riß ihn Saschkas Stimme aus seiner Versunkenheit. Smchka nahm die Gitarre vom Nagel und vegann einen munteren Manch zu spielen. Die auf, eit chenden Klänge vrachlen die Kameraden in Stimmung. Man lang Mnrschlieder, Dorfgesange, aber allmählich g ng man a»f ernste, und zuletzt sehnsüchtige Volksweisen über, bis schließlich Gilenko allein, von der Gitarre begleitet, „die ferne Ukraine" anstimmte. Die Kameraden lagen schwei gend und hörten zu. In Eilcnkos Stimme klang heute etwas Außergewöhnliches, man hörte darin die Tränen zittern. . . Einer nach dem andern drehten sich die Kameraden nach der Wand um. Ein junger Telegraphist. Gilenkos Nachbar, vergrub das Gesicht in den Kissen. Die Gitarre und Gilenko klagten immer weiter, und dumpf sang zur Begleitung draußen die Antenne . . . Plötzlich brach Gilenko sein Lied ab, streckte sich lang hin und schrie: „Höre auf! . . Saschk i spielte weiter. Er mar ganz in die Welt der Töne versunken, und bemerkte nicht das sonderbare Aussehen Gilenkos. „Schweig!..." stöhnte noch einmal Gilenko. Sein Ge- si"> t war blaß geworden, die eingefallenen W mgen bebten, die Lippen waren fest aufeinander gepreßt. Plötzlich stürzte er sich auf die Gitarre, riß sie Saschka aus den Händen und schlug sie, ehe dieser zu sich kam. auf den Boden. „Du . . . du! . . ." Saschka packte Gilenko am Aermel, aber es war schon zu spät: Gilenko tranifvlte brüllend auf den Splitter» der Gitarre herum, und das Holz knirschte unter seinen Stiefeln. „Was? . . . Was ist los? . . ." sprangen die Kame raden erschreckt von ihren Kojen auf. „Ich schlage dir den Schädel ein!" brüllte Saschka auf, packt« den Griff der Gitarre mit den traurig herabhän genden Resten der Saiten und ließ ihn schwer Gilenko auf den Kopf fallen. Gilenko schwankte, warf die Hände in die Luft, seine Stirn bedeckte sich mit Blut, daß ihm langsam über die Wangen lief. „So schlage doch! Schlage!" ries er wild. „Nimm dich in acht!" brüllte Saschka und holte aus. Die Kameraden mischten sich ein: „Laß Saschka!" Aber Gilenko sprang plötzlich zur Seite, der Schlag ging fehl, und Saschka stürzte, von dem Fehlschlag in Wut gebracht, dem Gegner nach. Gilenko lief zu den pyramiden förmig auiaestellten Gewehren, erariff ein Bajonett, drehte lMnks 6er I^ven kUn rlsckerssokn um eine Knnne Nur wenige wissen, daß «« ein Volk der LIven gibt, und noch wenigere haben davon gehört, daß diese» Bällchen einen eigenen König. Uldrik» besitzt. Diese unbekannte Majestät ist zwar nur ein armer Fischersohn, der bisher im bürgerlichen Leben den Namen Kahpberg führte, und der in der Schul» nicht viel mehr als Lesen und Schreiben gelernt haben dürste, aber da» hindert ihn nicht daran, stolz auf seine Rechte als Erbkönig zu pochen. Er verweigert die Anerkennung der lett- ländischen Staatsoberhoheit, entzieht sich dem Militärdienst und fügt der eingebildeten Königskrone die Märtyrerkrone hinzu. — Vom einst große» Volk der LIven ist heute nur ein kleiner Rest von nicht viel mehr als 3000 Mensche» nachgeblieben, der einige Dörfer an der kurländischen Küste bei Domesnes be wohnt und sich hauptsächlich vom Fischfang ernährt. Als im 12. Jahrhuirdert die deutschen Ritter nach Ostland zogen, hatten sie mit den tapferen Liven schwere Kämpfe zu bestehen, bis es ihnen gelang, den Widerstand zu brechen und Frieden zu schlichen. Der Livenkönig Kaupo verheiratete seine Tochter mit einem deutschen Ritter, der der Begründer des bekannten Geschlechtes derer von Liven wurde. Es begann die Ordens herrschaft über das Baltenland, deutsche Burgen wurden ge gründet, die Hansa bildete Niederlasiungen in Riga, Reval und Pcrnau, und Letten und Liven geriete» in der Feudalzeit in ein Hörigkeitsverhältnis, das durch mehrere Jahrhunderte dauerte. Die deutschen Ritter verbreiteten das Christentum, sorgten für das leibliche Wohlergehen ihrer Untertanen, aber hatten nur wenig Verständnis für die Geschichte und für die völkischen Eigenheiten der Liven und Letten. Als die Ordens- Herrschaft aufhörte, der Ordensineister Gotthard Kctteler Her zog von Kurland wurde und Livland an Polen fiel, wurden die Liven immer mehr von den Letten zurückgebrängt, aufgcsogen oder vernichtet, und als endlich Peter der Große iin Nnstädter Frieden — 1721 — von Livland Besitz ergriff und für ewige Zeiten für sich und seine Nachkommen durch die Kapitulationen dir deutsche Herrschaft im Lande bestätigte, wird der Name der Liven kaum mehr erwähnt. Aber die Bezeichnung „Livland" blieb bis zum Schluß des Weltkrieges bestehen, bi, schließlich Letten und Esten da» Land unter sich teilten. Die nördliche Hälfte, mit der Grenze bei Walk, und mit der alten deutschen Universität Dorpat fiel an Estland. Die Letten erhielten die südliche, hauptsächlich von Letten bewohnte Hälfte mit der Hauptstadt Riga. Auf die Liven wurde bei dieser nationalen Teilung gar keine Rücksicht genommen, durch die geograpbiscbe Lage ihrer Dörfer an der kurländischen Küste wurden st» zu Lettland geschlagen. Die Liven nun habe» ihre eigene Sprach« und ihre eigene Kultur, die nicht» mit dem Lettischen gemein hat, bis in un sere Tage bewahrt. Da» Livische, die vorlettische Sprache Liv lands gehört, zum finnisch-ugrischen Zweig des uraltaischen Sprachstammes und ist <rm nächsten mit dem finnischen und estnischen verwandt. Auf der Universität in Dorpat ist ein Institut zur Erforschung des Livischen und der livischen Kultur begründet worden. Der junge Fischersohn, Lldriks I., der seinem Taufregister nach Ulrich Kahpberg heißt, hat nun beschlossen das Banner I der Lnrvöruna aeaen die lettischen Unterdrücker zu erheben. Ein wundersamer Klang durchzieht die Nacht. Die Minternacht, die heilioe, die reines Derselbe Klang, davon im Palmenhaine Dereinst Judäas Hirten aufgewacht. Wie damals dringt vom weiten Himmelszelt, Vom sternbesäten, zu dem E'dengrund^ Die hoffnungsreiche, glUckerfUllte Kun Daß nun der Friede komme für die Welt. Und still, als hielte sie den Atem e>n, Als wollte sie nur lausck-n, liegt die Erde — Und träumt und träumt, daß nun zur Wahrheit we> de. Was durch die Weihnacht klingt beim Sternenschein. </1u8: ^.elrte Qetjiclit?. Verlag Kilsel L MUnclien) es um und schleuderte es gegen Saschka. Die Stahlklings blitzte durch ine Lust unv orang dem Verfolger in die Brust, der mit einem Aufschrei auf de» Boden siel. Auf den Lärm kam der Stalionsvorsteher hereinge laufen. Ohne zu begreifen, was los war, lief er von dem sich in einer Vlutlack>e wälzenden Saschka zu der Matrosen gruppe, die Gilenko zu überwältigen suchte Endlich warf man dem sich verzweifelt Wehrenden eine Decke über den Kopf. In dem Zimmer war solcher Lärm, daß niemand hörte, wie der wachthabende Telegraphist hereingestürzt kam. „SOS-Rufe . . . Gesindel! . . . Dort gehen Menschen zugrunde, und Sie machen hier Geschichten! He! Ihr! He! . . ." schrie er. Endlich ließ der Lärm nach, und die Stimmen gingen aufgeregt durcheinander: „Was? Wer? . . . Wer ruft? . . . Woher? . . " „SOS-Rufe! . Und in dem Maschinenraum ist nie mand! . . ." schrie der Telegraphist und lief hinaus. Zwei Mann raunten ihm »ach, die ander» brachten das Zimmer in Ordnung, legten Saschka einen Verband an. Und schon kam der Telegraphist zu dem Stationsvorslelier gelaufen: „Der Motor geht. Aber mit der Antenne ist etwas nicht in Ordnung. Man kann nichts senden . . ." Einen Augenblick schmiegen beide. „Was soll man denn tun?" fragte der Vorsteher. Der Telegraphist schwieg. ..Da lies!" sagte er dann und gab dem Vorsteher das Wachi-Ioutual. Der Vorsteher las: „Der Segel-Motor-Schoner .Wega". Auf den Klippe» ausgelaufen: Steuer gebrochen, Segel zerrissen: Steingrnnd, Anker halten nicht . . Weiter folgten genaue Angabe der Lage des Schiffes. Wiederholung der Depesche. Dann: unzusammenhängende Worte, Zeichen und der verzweifelt« Ruf: SOS. . . Plötzlich herrschte eine schaurige Stille im Zimmer Im Hausen standen die Matrosen. Draußen tobte der Sturm. Die Mauern des Häuschens bebten unter de» Schlägen des Windes. Die Lampe flackerte. „Sind andere Schiffe in der Nähe?" fragte der Vor steher den Telegraphisten. „Der Eisbrecher „GS" muß nicht weit sein." „Wir müsse» die Antenne reparieren!" entschied der Vorsteher. „Laternen heraus, Wurfleine, Steigeisen, alles zur Mastbesteigung Notwendige milnehmen und mir nach, los!" In einem Augenblick war das Zimmer leer. . . Gilenko lag in die Decke gewickelt auf dem Veden. „Sckzafsköpse!" dachte er, „sie glauben wohl wirklich, daß ich verrückt geworden bi»! — He. ihr! Losbiuden!- Ich ersticke!" Aber niemand meldet« !icb. Gilenko ueaann ücb nach er verweigert den Militärdienst, fügt sich nicht den Gefetzen und verlangt von seinen Stammesgenossen, daß sie ihn als Nachkommen der alten Livenkönigc als ihren rechtmäßigen Herrscher anerkennen. Die Negierung in Riga hat in diHer Angelegenheit keinen Spatz verstairden. Der Livenkönig wurde verhaftet und in Windau vor ein Kriegsgericht gestellt Uldrik« verzichtete als Zeichen, daß er nur der Gewalt weick-e und di« lettländisch« Gerichtsbarkeit nicht anerkenn« auf jede Perteidt. gung. Er verweigerte jede Antwort und lieh sich stumm zu zweiundeinhalb Jahr tScsängnis verurteilen! Seiir alle« Vater, der der Verhandlung beiwohnte, gab die Erklärung ab, daß er selbst zu schioach gewesen sei um den Kampf gegen die lettischen Unterdrücker aufzunehmen, aber sein Sohu habe al« würdiger Livenprinz gehandelt, und die Liebe rurd die Anyüng- lichkeit seines Volkes werde ihn in das Gefängnis begleiten. Als äußeres Zeichen der Treue seines Volkes wurde» dem ver urteilten König .zahlreiche Lebcnsmiltelpakete ins Gefängnis überreicht, um ihm die lange Haft zu versüße». Auch eine be, sondere Livengosandtsit-aft traf beim Gericht ein und ersucht« um eine Unterredung mit Uldrik», di« ihr auch gestattet wurdeI Uldriks ist nun sichtlich aufgelebt, hat sein langes Schweigen gebrochen, und erklärt jedem, der es hören will, sein nnwider. s ruftiches Anrecht auf die Livenkrone. Es ist möglich, daß ei ! gegen das harte Urteil Berufung Anlegen wird. Di« lettlän- vische Regierung sieht in ihm eher einen Sonderling, als einen politischen Fanatiker, und sollte er seinen Widerstand gegen di« Staatsgesetze aufgeben und auf sein« ererbte Krone verzichten, so ist es wahrscheinlich, daß man ihn bald in Freiheit setzen wird. Sein« Aussicht, je regierender König über das klein« Livenreich zu werden, ist jedenfalls sehr gering. v. 8t.