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- Zweites Blatt Sächsische BolkSzeitaag vom 22. Juni 1910 Nr. 140 Moderne Schriftsteller. Man hat berechnet, daß in Berlin rund 10000 Schrift steller aller Art lebe», also eine Stadt von 40 000 bis 50 000 Einwohnern bevölkern könnten. Natürlich lauter Geistes riesen und jeder bildet den Stolz Deutschlands, wenn es nach seiner Einbildung gehen würde. Wenn man aber näher zusieht, findet man doch eine Menge Unkraut unter dem Weizen. Diese Schriftsteller müssen leben und datier kommt es, daß jede Wocl>e eine neue Zeitschrift erscheint, die einige Zeit sich hält und dann verschwindet. Das Nonplusultra aber scheint auf diesem Gebiete ein Hans Ostwald sich zu leisten, der vor einiger Zeit die Zeitschrift „Kulturparlament" herausgab und jetzt mit der „Diskussion" hervortritt, ein seltsamer Titel. Aber dieser Schriftsteller versteht sein Geschäft; er hat eine lange Liste ton Mitarbeitern dem ersten Hefte beigegeben, darunter finden sich auch folgende Namen: Professor Köhler, Freiherr O. v. Zedlitz, M. d. N., Gothein, M. d. N., Professor Spahn, Eduard Bernstein, Paul Singer, M. d. R., Dr. Paul Flei- scher, M. d. R., Hugo v. Knebel-Döberitz, Wirklicher Gehei mer Oberregierungsrat, Jan Fegter, M. d. R., Geheimer Justizrat Franz v. Liszt, Geheimer Justizrat H, Tove, M. d. N., Justizrat Tr. v. Gordon, W. Heine, M. d. N., Pro fessor K. v. Lilienthal, Jnstizrat Tr. E. Mamroth, Bürger meister Tr. G. Reicke, General v. Liebert, M. d. N., Otto Arendt, M. d. R., Jul. Hart, Friedr. Naumann, M. d. N. Professor Faßbender, M. d. N„ Joh. Tews, Dr. Bruno Wille und andere mehr. Eine solche lange Mitgliederliste muß natürlich ziehen, besonders wenn man sich die Einführungs worte vor Augen hält. Was will, denn die Zeitschrift? Das sagt sie selbst in folgenden Worten: „In den Menschen un- strer Zeit wird das Bedürfnis nach kurzer, aber eindring licher Information stärker und wacher. Sie sollen sich selbst ein Urteil bilden. Das können sie aber nur, wenn sie alle denkbaren Meinungen und Forschungsergebnisse kennen ge lernt haben. Wem ist das heute noch möglich? . . . Wir krauchen eine Konzentration. Und diese soll die „Diskus sion" bringen. Die gesamte deutsche Geistesarbeit soll hier in leicht verständlichen und kurzen Aeußerungen zu Worte kommen. Und zwar soll in jedem Hefte nur eine Frage be handelt werden, die gerade das öffentliche Leben beschäftigt und bewegt. Diese Organisation bringt allen geistig Reg- samen ein kostbares Gut: Zeitersparnis. Zugleich schlägt sie eine Brücke zwischen unseren Kulturträgern und der Allgemeinheit. . . . Die Hefte sollen auch eine Bibliothek ergeben, in der alle Geistesgrößen Deutschlands beisammen sind. So sollen sie cs dem Leser ermöglichen, in Zweifeln immer wieder diese Hefte in die Hand zir nehmen und sich mit den deutschen Kulturträgern zu unterhalten und von ihnen beraten zu lasten. Das sind unsere Ziele." Wie ver wirklicht nun das erste Heft die „Gemeinsamkeit der Kul turträger"? Da wird auf einigen wenigen Seiten die welt bewegende Frage beantwortet: „Lebte Christus?" und zwar in folgenden Worten: „Friedrich Stendel, Pastor an St. Neinberti, Bremen: Der historische Christus. . . . Pastor Hans Franke, Berlin: Hat JesuS gelebt? ... Dr. Heinrich Lhotzky: Der Jesusmythus. . . . Max .Maurenbrecher: Drei Sätze zum Jesusproblem. ... Dr. Ruland, Kadetten- Pfarrer, Grob-Lichterfelde: Eine katholische Antwort." Ein »etter Salat! Christusleugner und gläubige Katholiken sollen hier eine gemeinsame Kulturauffassnng <ck>affen wol len; das kann nur Verwirrung anrichten. Wenn inan sich über die Zeitschrift vollständig orientieren will, dann mutz man auch den „Diskussionsstoff" ansehen, der im ersten Hefte lautet: „Soziale Kolonisation. Das deutsche Land haus. Die bunte Mütze. Zur Todesstrafe. Das gleiche Wahlrecht. Das Völkerschlachtdenkmal. Das Recht auf gute Milch. Ter Prinz. Literatur zum Jesusheft." Das „Recht auf gute Milch" ist zweifellos das beste an diesem Stoff und damit es an guter Milch nicht fehlt, hat der Her ausgeber Ostwald selbst ein Buch geschrieben, über das man un Anzeigenteile dieser Zeitschrift liest: „Von dem welt berühmten Landstreicherroman „Vagabonden" von Hans Ostwald, erscheint in unserem Verlage jetzt das 6. Tausend. Bei seiner ersten Ausgabe erregte das Werk in literarischen und sozialpolitiscl>en Kreisen das größte Aussehen. Der Autor, ehemals Goldschmiedegeselle und Wanderbursche, er hielt sofort eine hervorragende Stellung in der deutschen Literatur. Die gesamte Kritik - alle Zeitungen und Zeit schriften, Familienblütter und politische Organe brachten ausführliche Besprechungen — war einig, daß noch nie so echt und so künstlerisch unser heutiges deutsches Volk geschil dert worden war. Das Werk, dessen rücksichtslose Humore lü) und ergreifende Schilderungen an Grimmelshansen er innern. kostet nur 3 Mark." Nun kann es nicht mehr feh len; den Deutschen ist geholfen. Ein „Wanderbursche" hat die Lösung gefunden und zahlreiche Schriftsteller um sich vereinigt. Wir fragen angesichts solcher Vorkommnisse nur: Wohin gehen wir? Wohin reisen wir? Sind es nicht deutliche Zeichen des Verfalles, wenn man sieht, wie die tiefernsten Fragen hier behandelt werde»? Die Großstadt läßt eben Gewächse aufkommen, die nur auf dem Asphalt gedeihen. Aus Stadt und Land. Gortsrtzrmq au» dem Hauptbiatt.) —* Internationale Hygiene-Ausstellung Dres- den 1911. Eine umfassende Sammlung der hervor- ragendsten Objekte der Berliner Städteausstellung wird im nächsten Sommer der Internationalen Hygiene-Ausstellung als besondere Abteilung angegliedert werden und eine wert volle Ergänzung der wissenschaftlichen und industriellen Ausstellungsgruppe Ansiedlung und Wohnung bilden. Es wird auf diese Weise ein außerordentlich interessantes und instruktives Gesamtbild des heutigen Standes der hygienischen Bestrebungen und ihrer Erfolge auf dem Gebiete des Städte- und Gemeinwesens sowohl, wie auf dem des Privat- und Mietshauses geboten werden, das nicht nur Behörden. Wissenschaftlern und Technikern wichtige An- regungen geben, sondern jedem Privatmann und dem großen Publikum viel Interessantes und Beherzigenswertes sagen wird. Chemnitz, 20. Juni. Einem Passagier eines Straßen- bahnwagenS wurde der Hut vom Kopfe geweht. Als er ihn noch erfassen wollte, stürzte er vom Wagen und blieb l besinnungslos liegen. Döbeln, 20. Juni. Aus dem hiesigen Jahrmarkts rang in der Schaustellung „Altdeutsche Sportspiele" der Ring kämpfer Poppe vor zahlreichem Publikum in der achten Stunde mit einem Soldaten des 139. Regiments, dabei wurde er plötzlich von Unwohlsein befallen und starb als bald am Herzschlag. HartmannSdorf, 20. Juni. Seit Sonnabend werden das 13jährige Schulmädchen Martha Lange und der 10jährige Schulknabe Alfred Lange von hier vermißt. DaS Mädchen trägt ein Matrosenkleid, der Knabe einen grauen Anzug. Klingenthal, 20. Juni. Ein hiesiger Automobilbesitzer unternahm in der Nacht zum Freitag in Gesellschaft einiger Herren eine Fahrt nach dem benachbarten böhmischen Ganslitz. Als die Fahrtteilnehmer in einer Restauration eingekehrt waren, setzte sich ein bis jetzt Unbekannter aus das Auto. Er lenkte eS bis in die Nähe deS Bahnhöfe- Annathal Rothau. Dort sprang ec ab und ließ das Auto mobil laufen. Das Automobil überschlug sich im Straßen graben und verbrannte vollständig. Olbernhau, 2. Juni. Die 15jährigen Burschen Siegelt und Natz gerieten in eine Streiterei, wobei Siegelt einen schweren Ziegelstein ergriff und diesen derart an den Kopf seines Kameraden schleuderte, daß dieser nach kurzer Zeit an den schweren Verletzungen starb. Weißer Hirsch. Der Schmtedemeister Gustav Noack aus Naundorf, der sich zur Kur im Lahmannschen Sana torium aufhielt, verstarb auf dem Bahnsteig des Dresdner Neustädter Bahnhofes in dem Augenblick, als er seine Gattin abholen wollte. Halle, 20. Juni. Als erste unter den preußischen Städten haben die städtischen Behörden von Halle be schlossen. einen weiblichen Wohnungsinspektor zur Milderung der Wohnungsnot anzustellen. Raßnitz bei Schkeuditz. 20. Juni. Beim Zusammen treffen mit einem Wilderer wurde am Sonnabendabend der König!. Förster schwer verletzt. Er erhielt eine Schrot ladung ins Gesicht, Arm und Brust, konnte aber noch znrückschietzen. Später wurde er in die Augenklinik in Halle gebracht. Der mutmaßliche Täter wurde Sonntag durch den Polizeihund aufgespürt und verhaftet. Eislebcn, 20. Juni. Am Sonnabend verunglückte bei der Frühschicht auf dem Hermannschachte der Häuer Wil helm Ecke durch niedergehendes Gestein. Ascherslcbcn, 20. Juni. Der Arbeiter Mußmann wurde beim Füttern seines Pferdes von diesem gegen den Unterleib gestoßen. Dadurch wurde eine Niere gespalten. Obwohl Mußmann sofort operiert wurde, starb er. AscherSleben, 20. Juni. Ein Raubanfall wurde vor gestern früh im Laden einer Nähmaschinenhandlung in der Taubenstraße verübt. In den Laden kam ein Mann, der Kaffee und ein Stück Brot von der Verkäuferin verlangte. Da ihm beides verweigert wurde, fiel er über das Fräulein her, warf es zu Boden und legte ihm eine Schnur um den Hals, die er an einer Nähmaschine befestigte. Während das Fräulein bewußtlos dalag. raubte der Fremde aus der Ladenkasse über 400 Mark und suchte mit dem Gelds das Weite. Das Mädchen wurde nach etwa einer Stunde im Laden bewußtlos aufgefnuden, erholte sich jedoch später - 24 - „Grobschmiedes?" Nein, nochmal, das ist aber toll — mir so etwas zu sagen," brauste es wieder auf — ich grob? — ich bin niemals grob und wem ich grob bin, der kann sich in Watte wickeln oder unter eine Glasglocke setzen! Au — au!" schrie es plötzlich auf, „da — jetzt habe ich mich ge ärgert — nun habe ich natürlich wieder einen Podagra-Anfall — und ick dachte schon als leidlich geheilt in einigen Tagen von hier abreisen zu können jetzt kann die Wickelei, Packerei und Plackerei, können die Güsse, Donchen und Kompressen wieder von vorne anfangen — der Deibel hole Ihre Verse meine Gnädige!" „Kon Oiou!" kreischte die Damenstimme, „was für Worte! Deibel - und der soll meine Verse holen? Barbar — ich bekomme wieder meine Zu fälle! Meine Nerven — meine Nerven —I" „Na ja," schrie der andere, „da haben wir's!" Die drei Ankömmlinge hatten den freundschaftlichen Meinungsaustausch nicht stören wollen — sie waren an der halbgeöffneten Türe stehen geblieben, hielten es aber für angemessen, einzutreten. Ein merkwürdiger Anblick bot sich ihnen dar. Auf einem der Plüsch- scssel lag eine ungefähr fünfzigjährige, kleine, magere Dame mit großen, wasserblauen Augen, die sie angstvoll umherrollen ließ, während ihre braunen Schmachtlöckchen wirr und unordentlich von Stirn und Schläfen baumelten. Ein mittelgroßer, breitschultriger, ungefähr ebenso alter Herr mit grau meliertem Haupthaar und spitzgeschnittenem Vollbart von derselben Farbe hinkte der einen, zur linken liegenden Türe des Salons zu, ivandte sich aber plötzlich um. Uwhrscheinlich in der Absicht, das Zimmer durch die andere Türe zu verlassen, durch welche die Besucher eben cintrate». Daher kam es, daß er mit aller Wucht gegen den Onkel Galleiske rannte, der ihm nun, da er den Fuß gerade zum Ausschreiten erhoben hatte, unsanft auf die Füßchen trat. „Au — au — au —schrie der Getretene, „tun Sie doch gefälligst Ihre Äugen auf, anstatt die Leute in dieser Weise anzurempeln — Dunner- kcil, mein Fuß —" und er machte die tollsten Sprünge, wie eine lahme Ente. „Erlauben Sie nial, mein Bester, erstens haben Sie mich angcrannt und nicht ich Sie — und denn juchen Sie sich ihre Matrosen zu dieser Art von Anschnauzerei aus. Ich bin der Rittergutsbesitzer Galleiske, Hauptmann der Landwehr im 1. Feldartillerieregiment." „Na, dann setzen Sie Ihre Lebensgeister zur Ruhe — Sie könnten sonst noch einmal in die Lage kommen, Ihre sporenklirrenden Hacken vor mir zu- sammenzunehmen und salutierend die Hand an Ihre Kugelhaube zu legen, wenn ich mit Ihnen rede — ich bin nämlich der Korvettenkapitän z. D. Ender mann. ' Ohne die Angekommenen auch nur noch eines einzigen Blickes zu würdigen, hinkte er von dannen, den sprachlosen Onkel und den wohlmöglich »och sprachloseren Neffen mit offenem Munde stehen lassend. Ter Sohn Albions aber war praktischer, mit zwecklosem Staunen hielt er sich nicht auf, sondern war an der Gruppe der schimpfenden beiden Männer vorbei auf die alte Dame zugelaufen, hatte ihr ein Riechfläschchen unter die Nase gelwlten und fächelte ihr mit seinem parfümierten Taschentucl)c energisch Luft zu. „Ah, mein edler Retter," begann die Dame, die Augen zu ihm auf- fchlagend, „wie soll ich Ihnen nur danken —?" - 21 — Mit der Ungeduld eines Kindes am Weihnachtsabend, die den großen nmfangreichen Herrn eigentümlich kleidete, erwartete Herr Galleiske den Nachmiltag. Er unternahm vor lauter Ungeduld mit seinem Ressen und Mr. Fenton noch einen Spaziergang, denn in der Lesehalle des Kurhauses, wo er eine Zeitung zur Hand genommen, hatte er es vor prickelnder Unge duld nicht anshalten könne». Noch viel weniger war von einem Mittags schlafe bei ihm die Rede, sondern auch nach Tisch wandelte er umher, während »er Engländer bei der Lektüre der „Times" seelenruhig seine Zigarette rauchte, und sein Nesse, der sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte, den Schlaf des Gesunde» schlief. Endlich war es dreiviertel vier Uhr und der Onkel trieb die beiden jungen Leute an, sich zu beeilen, »nd besonders Otto, schien es zur Verzweiflung deS Alten gar nicht eilig zu haben. „Sie kommen ja doch nicht," sagte letzterer ganz plötzlich und unver mittelt. „Junge," platzte der Alte los, „rede doch nicht so etwas, dann hat ja die ganze Geschichte keinen Zweck!" „Wie, Onkel? Ich muß dich doch aber nun daran erinnern, daß dei Besuch von Leonorenberg beschlossene Sache war, bevor wir mit den Damen zusamnienkamen." „Na ja — das ist richtig — aber es sollte sür mich auch kein Ve» gniigungsausfliig sein, wie ich den Damen vorgeschwindelt habe, um sie an zulocken —" „Aber Onkelche», was machst du denn sür Geschichten?" „Geschichten? (har keine —! Ich halte es nur mit dem alten Wahl- sprnch „«liilac- « um utila", eine trockene Geschichte " ,Na höre mal, Onkelche» — trocken? — in einer Wasserheilanstalt?" „Nu zähle mal nicht Erbsen, mein Junge. — Ich meine ja damit nicht amüsant —" „Aber weshalb hast du doch eigentlich hingewollt?" „Nun. ich sagte ja — wegen meines Podagra — und dann habe ich noch an was anderes gedacht: Meine Forstbeamten, Angestellten »nd alle, die viel im Freien zu arbeiten haben, leiden doch häufig am Zipperlein und da habe ich daran gedacht, ob ich auf meiner Klitsche, da an der Inster, nicht zu unserem Privatgebrauch was anlegen könnte. Unser Hausarzt kommt doch regelmäßig und der hat mir schon Verschiedenes von Hydropathik vorgeschwatzt. — Ter konnte die Sache ja '» bißchen kontrollieren - " „Das ist zwar schön und lobenswert von dir, Onkelche» — allein io rasch wird es sich da für einen Laien kaum orientieren lassen —" „Na ansehen, ob sick's machen läßt, kann man ja schließlich doch wohl, lind dann weiter — liegt da ans der Nordseite meiner Markung der Wald- tcich — so groß fast wie ein kleiner See. Rings auf den Hügeln, die doch schließlich ein bißchen wenigstens böher sind als Manlivnrfsbaufen. zieht sich der Fichtenwald in unendlickx'r Ausdehnung dahin. — Junge, die Luft ist da gesund außerordentlich ozonreich. Du weißt wohl noch, da lag früher das Vorwerk Graßenselde. — Seit ich das Herrenhaus neu gebaut lind die vielen neuen Maschinen angescl-afft habe, habe ich cs cingehen lassen und benutzte nur noch einen Schuppen. Ein Knecht mit Familie wohnt daneben in einem „Schnurrige Käuze."