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Dresdner Nachrichten : 22.07.1928
- Erscheinungsdatum
- 1928-07-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id501434038-192807228
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id501434038-19280722
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-501434038-19280722
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Dresdner Nachrichten
-
Jahr
1928
-
Monat
1928-07
- Tag 1928-07-22
-
Monat
1928-07
-
Jahr
1928
- Titel
- Dresdner Nachrichten : 22.07.1928
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Die Nachtwache. Skizze von Kurt Bock. Nein keineswegs reiste Sebastian Bach, wie er altväte. rische Historie uns etnreden will, mit der beschaulichen Ruhe des würdigen Alters und der wohligen Vorfreude einer sicheren KUnstlerschast oder gar »in dankbarer Folgschaft eines ehrenvollen Rufes" aus feinem warmen, quicklebendigen Letp. zitier Kantors-Heim nach Schloß Sanssouci. — nein: Bach hockte mit einem ehrlichen, dicke», rundgeblähten Zorn in seiner unbcauemen Pvstchaise und murrte weidlich in sich hinein über diesen unsinnigen, tleivalttätitien Befehl eines Machthabers der ihn durch Androhung einer Husaren-Eökorte über die sächsische Grenze nach Preußen holte, nur um sich für ctzliche Abcndmnsiken eine genehme Abwechslung nach all den seichten Sarabanden und Arien zu verschaffen. Insbesondere aber mußte ta der alte Kantor ergrimmen ob solcher Zu mutung, da er all sein Lebtag die Kunst einzig und allein dem Dienste des Höchste» gewidmet hatte, nimmer aber guten Herzens sie der verrufen-sreigeistigcn Geselligkeit dieses Fürsten würde leihen können. So fuhr er nun durch den grau verhangenen Abend einer widrigen Pflicht entgegen und überlegte unwillig nur noch, wie er für seinen Sohn Emanuel, der im Orchester jenes Hofes beamtet war, allen Schaden vermiede Regen knöcheltc ans das mürbe Lederdach und stäubte kalt herein, so daß oer Kantor sich gleich a» das offene Kami», scucr begab, als der Postwagen an einem einsamen Gasthofe hielt, um erst in kommender Frühe mit gewechselten Pferden die Reise zu beenden. Bach zog sich fröstelnd den Mantelkragen fest um die Schultern, starrte müde in die Flammen . . . Und horchte auf. AuS dem Nebenraume, durch die Fugen der dünnen kattenwand, drangen die leisen, feinen Töne einer Okarina, fas, nur geflüsterte Flötenkadcnzcn, nun wehmütige Klage, seht wieder sommerlich frohe Liedletn, deren Melodien aber zcrdehnt wurden zu traumsüßen Schiafgekängen. Bach sah verwundert, gebannt auf und blickte unversehens in die tränentiefen Augen eines jungen Mannes, der neben ihm am Kamt» sich fest an die Bretterwand lehnte und ficht- barlich mit icder Faser seines Wesens jeden Laut in sich trank als einen Kelch unfaßltchcn Leides. Den» schon als Bach nur wenig und wortlos seine Hand mitleidig anrührte, fiel Ihm teuer mit einem erstickten Wehlaut zu und erklärte ihm mit Gebärden mehr denn mit seiner seltsamen deutsch-italie nische» Mischsprache, daß dort drinnen sein Kind aus den Tod krank läge und daß seine Frau die schweren Fieber mit all den Liedern, die das Kind so arg liebe, bekämpfe: seit vielen Stunden schon: und baß sie aus dem Heimweg nach Mailand seien, nachdem sie sich im Norden genug erspart durch Bau- Handwerk und Stcinmctzarbcit. Durch die Bretter kamen die linden, weichen Weisen, schwer von der Liebe und der mütterlichen Zuversicht, ver mischt mit dem heiseren Atem eines geschüttelten Körpers und den fahrigen Schlägen willenloser Händchen, die im Dunkel der Kammer und der Krankheit umher griffen nach irgend welchem LebenShalt. Und der Vater und Johann Sebastian Bach saßen Schulter an Schulter gepreßt und beteten stumm in sich bin- ein, — ieder nach der Weise seiner Kirche, seines Landes, seiner Vorfahren. Der Wirt, der Nach ein Nett zu weisen kam, blieb unbe- achtet, das Nachtmahl unberührt. Tie Töne nebenan wurden allgemach zarter, inniger, gleichsam silbriger und himmlisch. Und, als eben die Dämm- rung eines klaren Morgens durch die Fenster tastete, ver stummte die Okarina in einem lang verschwebenden Hauch. Die Männer starrten sich an. Starrten sich an aus qual- gekerbtem Antlitz. — Dann erhob sich Nach, öffnete sehr behutsam die Tür und sah die schlafende Mutter mit dem unbeschreiblichen Lächeln neben ihrem ruhigen, sichtlich der Gesundheit fest entgegen atmenden Kinde liegen. Tränen stürzten ihm nieder, als er den Freund dieser Nacht verließ. Im sonnenhellen Morgen, ans der Fahrt durch die seier- liche Frühe jedoch warb ihm offenbar als die Frucht der leid- vollen Stunden, daß Kunst mehr als nnr die Andacht zum Höchste» und Demut und Dank sei, nämlich auch Kampf und Heilkraft wider Unrast, Zorn, Leid und alle Gebresten der Seele, — baß somit dem Diener der edlen Mnsika anscrleget sei, nicht allein dem Herregott zu lobsingen, sondern wcitmehr dem Mcnschenbrudcr hilfreich beiznstehcn als ein würdiger Seelsorger der Aermsten aus dem Volke wie des Königs, so sie der Tröstung verlangend sind in ihren verborgenen Nöten. Sattsam bekannt ist, welche Ehre Johann Sebastian in Sanssouci zuteil ward und mit welch unvergleichlicher Kunst er das königliche Herz aufs menschlichste ergriff. Nicht über- liefert hingegen ist das tiefe Erstaunen der preußischen Musiker über des Meisters Spiel, in dem sich um bas könig liche Fugcn-Thema b-a-c-h seltsame, mannigfache Anklänge aus dem Volksgut altitalienischer Lieder rankten, — vertrante liebe Gesänge von betörender, weltpolitischer Freudigkeit. Konflikt um -en Großflughafen. Skizze von Paul Burg. Unser Graßhvf ist älter als tausend Jahre. Unser Urahn war Gespiele des deutschen Königs Heinrich, den sie den Finkler nennen. Mit ihm ist er auf Kolonisation nach Osten gezogen, Schwert und Pflugschar am Sattel. Der König hat ihn unterhalb der alten Merseburg bei der „Salzstraße" an- gcsicdelt, auf der die Saumtiere von der Pfanne im Tal ihre Salzlasten nach Osten trugen und durch alle Jahrhunderte die Heere zogen, Wallenstcin und Gustav Adolf sowie Napo- lcon. Hier hatte der erste Graßhof vier freie Ackerhufe, siedelte und baute Saaten an. Jene tausend Morgen sind noch heute in unserem Besitz. Herr des HoseS ist der »Alte", breiundneunzig Jahre alt, aber rüstig wie selten ein früher Siebziger. Kein Schwächer- werden an Geist, Gehör, Gesicht oder Gemüt ist bet ihm zu verspüren — Gott hat ihn jung erhalten, den altererbten Hof zu umsorgen, denn Sohn und Enkel fielen aus. Aber im Ur- enkel Jochen hat die Natur sich noch einmal einen Graßhof- baucrn von ganz großem Wurf geschaffen. Der Alte — „Urpa" — hat sich vor zwei Jahren noch eine Frau —nachdem er fünfzig Jahre Witwer war —genommen,- Hannelottc betreut den ungretscn Gatten rührend, aber sie selber schwärmt offen für ihren Urenkel und verhätschelt ihn. Letzte Weihnachten hat sie ihm ein zweisitziges Automobil ge- schenkt und nährt auch seinen heimlichen Wunsch, Flieger zu werden. Eines Tages landete ein Flieger auf der gepflasterten Salzstraße. die baumlos quer durch unsere Felder zieht, einst Heeres- und Verkehröstraßc von Ost nach West, heute verlassen und vergessen. Das Flugzeug rollte bis vor das Hostor, und Alcrandcr Haake, alter Kampfflieger im Weltkriege, jetzt Organisator einer ganz Europa mit einem Netze von Flug- linicn überziehenden Lustreedcret, trat in unser Leben. „Ihr Gehöft muß verschwinden,- das ganze Gelände wird Wc l t s l u g ha f e n l" Urpa hätte ihn beinahe vom Hofe gejagt. Aber Jochen Graßhof war mit Alexander Haake sofort ein Her- uw- etn« Seele. Fliegen! Und der alte Graßhosgrun- ein Flughafen von internationaler Bedeutung! Welche Romantik! Aber der Urpa setzte ihm gewaltig zu. Der Alt« ließ sich zwar herbei, den Fremde» selber auf seinem ganzen Besitz herumzukutschieren und ihm vom Dogkart herunter die Gegen- zu zeigen, dort die Rtesenschornstetne von Leuna, das auch einmal auf dem Graßhosgrund bauen wollte, aber schnöde abgewiesen wurde, dort Halle, das sich schon oft um den Graß, hvfbesitz beworben hatte, und drüben Leipzig, da hinten Weißenfels und Merseburg, unten im Tale die Saale. Er uhr mit dem Flieger auf dem alten Stetnbamm hi» und agte beiläufig, hier hätte vor tausend und mehr Jahren sein lrahn den ersten Spatenstich im Graßhosacker getan. Sonst aber war des Alten Rede nichts als ein schroffes „Nein!" Sein Blick ruhte oft auf dem Urenkel. Du bist die Z». kunft! Willst du den Hof für ein Narrenprvjekt hingcbe»? Laß die Menschen fliegen, aber anderswo landen als aus unserem Acker! Bleib- ein Bauer, Jochen Graßhof! Alexander Haake hatte mit feinem Fühlen erkannt, wo er ansetzen mußte, und lud hernach zu einem Nnndslng ein. die Gegend von oben herab zu besichtigen. Die „Urma" Hannelottc und Jochen stiegen mit ihm aus. nachdem man einige Knechte unterwiesen hatte, wie das Flugzeug zum Starten zu bringen sei. Als Jochen wieder vor dem Alten stand, war er Feuer und Flamme. „Die neue Zeit hat auch ihre Ehre und ihre Bestimmung. Wir können uns ihr nicht entgegenstemmcn Acker ist überall." — „So sollen sie anderswo landen. Acker muß Brot bringen, Junge." — „Dieser Hof hat genug ge bracht, mein' ich." — „So lange einer kann, soll er schaffen!" — „Ich will auch nicht still liegen, will Flieger sein." — „Du bist ein Narr!" Am dritten Tage kam Alexander Haake schon wieder, dies- mal mit einem schnellen Wagen, und am Steuer saß seine Tochter, die er als eine junge Aerztin vorstellte. Der Urpa schmunzelte. Wenn das die neue Zeit war — allerhand Achtung! So schön und gescheit, so entschlossen war ihm noch kein« Frau vorgekvmmen. nicht einmal sein« Hanne- lvtte, die eifersüchtig abseits stand. Und nun erst der Jochen! Einfach verliebt war er in die Aerztin. DaS Gespräch kam auf die alte Geschichte des GraßhofeS. „Und das soll ich Ihnen preisgeben: aus meinem Acker wollen Sie Zementbahnen und Asphaltsteige für Ihre eisernen Schmetterlinge machen?" murrte der Aelteste. „Es käme mir vor, als wollte man einen Menschen, der noch atmen und arbeiten kann, ersticken oder lebendig begraben." „Kann denn hier von Begraben die Rebe sein? Wir bauen einen Hangar an Ihre Hofstell«, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Bier Stockwerke hoch und tief, jawohl, vier Stockwerke tief in die Erde hinein gehen die Heizanlagen des ganzen Hafens. Wo Ihr Vorwerk steht, wird das Blinkfeuer nachts Richtung weisen. Daneben kommen die hundert Meter hohen Masten für den Funkdienst. Bedenken Sie: es wird der europäische Zentralhafen! Und er soll in ewige Zetten nach Ihnen „Graßhof" heißen." „Dazu sind mir Hof und Acker zu gut. Herr." — Nach einigem Schweigen Haake: „Letzten Endes wird man dann wohl den Staat um Hilfe bitten müssen, daß er Sie enteignet, denn hier liegen Staatsinteressen vor." — „Versucht'S." — Damit brach der Alte das Gespräch ab. Die Gäste fuhren bald vom Hofe, und in der Folgezeit lag es immer wie ein Ge witter Uber dem ganzen Anwesen. Keiner durfte die Rede auf den Flughafen bringen, aber jeder dachte immer daran. Die Sache wurde verschleppt — nicht vergessen, denn die Zeitungen bemächtigten sich ihrer, lobpriesen die Geschichte des tausendjährigen Graßhofs und mahnten den Alten an seine nationale Pflicht. Immer weitere Kreise bemächtigten sich der Frage, und die beiden Großstädte rechts und links wetteiferten um den Flughafen von so großer Bedeutung. Es schien, als pralle alles an den grauen Mauern des Graßhvfes ab. Nur Jochen lebte alle die Regungen und Be- strebungen mit, er lernte heimlich auf dem Leipziger Platz fliegen und stand auch mit der jungen Doktorin Ruth in Briefwechsel. Vollends konnte er kaum an sich halten, als bekannt wurde, man wolle die alte Salzstraße zur Großautomobtl- straße machen, etn Stück des Weges von Madrid nach Moskau. Es verlautete, daß auch die große Automobtlstrahe von der Nordsee zum Mittelmeer quer durch Deutschland über den Graßhof gehen müsse. Und dazu der Flughafen! DeS Jüngling» Her, schlug schneller. Eines Tages stürzte er mit seinem Flugzeug ab und tat sich rechten Schaden. Wunden und Brüche waren nicht sichtbar, aber es schmerzte immerfort. Und das Verheimlichen des Unglücksfalles erforderte heldische Kräfte. Als Haake wieder vorfuhr und dem Alten derb und deutlich kam, als die Geister hart aufeinander platzten, denn man wollte und mußte endlich den Graßhof haben, verfing sich auch der Jüng ling in den Streit und nahm offen Partei. „Dich jag' ich vom Hofe! Betteln magst du gehen!" scheuchte ihn der Alte mit erhobener Faust hinaus. Der Junge verkroch sich vor Scham und Schmer». Ruth ging ihn suchen. Ihrem schwesterlichen Zureden offenbarte er auch, daß er sich unlängst Schaden getan habe. Sie selber rief den Arzt. Der alte Landdoktor untersuchte, fand nichts als Verstimmungen und Reizungen, empfahl Bettruhe und Wärme. Nachdem Haake mit seiner Tochter abgereist war, lag der Junge zehn Tage herum, fast vergessen von allen, weil sie den Zorn des Ahns fürchteten. Einzig Hannelotte tat ihm alle Liebe an. Er stöhnte vor Schmerzen und verging in Selbstanklagen, weil er den Sieg der neuen Zeit über die Rückständigkeit seines Urgroßvaters nicht ertrotzen konnte. Hannclotte rief die Aerztin telephonisch heran, als sie den Jüngling immer mehr abmagern und vor Schmerzen fast vergehen sah. Ruth fand ihren jungen Freund sehr schwer krank. Sie rief einen Chirurgen und operierte selber, noch «he er eintraf. Das Aeußcrste wagt« sie. Zwei Aerzte auS der Gegend assistierten ihr. AIS der Professor endlich kam, war alles getan. Vor der verschlossenen Tür aber harrte der älteste Graß. Hof und beschwor die junge, wackere Aerztin: „Rette mir den Jungen, den letzten, den ich habe! Ich will dir den ganzen Hof geben, wenn du uns den Jungen rettest, uns beiden, Ruth, liebe Ruth!" stammelte der Alte und weinte und zitterte, auf einen Schlag zum Greis geworden. Während der Junge zwischen Tod und Leben lag. hin- gebend von der wackeren Aerztin gepflegt, rückten Staat und Städte dem Alten auf den Leib. „Ich habe Ihr Wort, Urpa!" mahnte Ruth. Der Alte schwieg, aber man sah es seinem Gesicht an, wie er kämpfte. Nie sprach er davon, daß etwa der Tod ihm selber willkommen wäre. Solange ein Mensch da ist, hat er seine Pflicht zu tun! Aber an jenem Tage, als sein Urenkel zum ersten Male wieder hinter dem Steuer seines Wagens saß und zögernd, wie ins Leben tastend, aus dem Hofe fuhr — neben sich seine Retterin Ruth —, da rannen dem Alten, der ihnen nachblickte, die Tränen über die Backen, und er schämte sich ihrer nicht. Er hielt sein Wort und trat drinnen an den Schreibtisch, wo der Vertrag mit dem Staate schon Tag um Tag wartete. Einen Augenblick kam ihm die Lust, das ganze Schriftstück zu zerreißen. Fest will ich bleiben! rief er sich zu. Der Graßhof ist verkauft und wird Flughafen! Er blickte wehmütig und doch stolz über den uralten Hof. Nun wird Feierabend mit unS, mit dir und mit Mir, du über tausend und ich fast hundert Jahre — wir haben ausgehaltcn! Nun kommt die neue Zeit und will das ihre tun, alter Hof. Durchs Hoftor glitt Jochens Wagen herein Der Junge winkte vom Steuer her. Ruth halte den Arm um ihn ge schlungen. Der Alte aber, an seiner Lebensschwelle Sieger über sich selber, sah auf der alten Salzstraße hinter den beiden jungen Menschen im Geiste die unübersehbare, unendliche Flut des brausenden Verkehrs der neuen Zeit strömen und winkte der Zukunft lächelnd zu. Die Freundin. Skizze von Else Schmidt. „Mimt ist leider nicht zu Haus," meint der Herr, der selbst die Tür der kleinen Wohnung öffnete. Die junge Dame mit dem tief herabgczvgenen dunklen Hut über dem schmalen Gesicht sieht enttäuscht zu ihm auf. „Aber —." Er beendet den angefangenen Satz mit einem Lächeln zur einladende» Handbewegung. „Ach nein," wehrt die Besucherin ab. „bann will ich ein andermal — es ist sehr schade." „Ja, es Ist sehr schade," wiederholte er. „Wenn ich Sie aber bitte, mir allein nur ein paar Minuten zu schenken, weil ich Sie — ich wollte Ihre Ansicht hören. Um Ihren Rat wollte ich Sie bitten." Sein verlegenes Stammeln wirkt beunruhigend. Die Freundin seiner Frau errötet und erwidert sehr leise: „Ich möchte wirklich nicht — ich meine, nicht in MtmiS Abwesenheit. Vielleicht kann ich wiederkommen, wenn sie zurück ist." „Mimt ist verreist!" sagte er brüsk. „Ja, sie ist zu ihrer Mutter gefahren. Sie sagte, sie würde nicht mehr wteder- kommcn. Sie will sich scheiden lassen. Wir haben uns ge- zankt. Und darum möchte ich Sie bitten —" Er bricht ab, weil die junge Dame diese Nachricht mit größerer Erregung entgegennimmt, als er erwartete. Dies« Beobachtung ermutigt ihn. Er legt die Hand leise aus ihren Arm und sagt eindringlich: „Liebes Fräulein Gert, ich bitte Sie herzlich. Nur auf ein paar Minuten! Wir können hier auch nicht länger an der geöffneten Tür stehen — der Nachbarn wegen." Sie läßt sich willenlos in den Korridor ziehen. Er öffnet die Tü. zum Eßzimmer und sagt mit leichtem Spott: „Sie scheinen sich wahrhaftig vor mir zu fürchten. Sagen Sie einmal, Fräulein Gert, kennen wir uns nicht jetzt schon über drei Jahre?" Sie schämt sich ihres SträubenS, weil sie den Eindruck hat, baß sie dadurch der harmlosen Situation erst das Ge- präge des Verbotenen gab. Entschlossen geht sie an ihm vor. bet in die Helle des Zimmers und setzt sich auf die Ecke eines Stuhles. Gezwungen und kühl sagt sie, ohne ihn anzusehen: „Wenn es durchaus sein muß, bitte. —' Aber ich Hab« w«nig Zeit." Langsam, die Hände auf dem Rücken verschränkt, geht er zum Fenster. „So wird e« nicht gehen, Fräulein Gert. Ich meine: so werde ich mich nicht aussprechen können, denn Sie wollen mich ja nicht hören." Mit halber Drehung zu ihr fügt er bitter hinzu: „Es hat Sie noch nie interessiert, was ich Ihnen zu sagen habe." Sie will etwas erwidern. Unmerklich hebt sie die rechte Hand. Aber sie schluckt und schweigt. Die Dämmerung breitet sich mit grauen Schatten im Zimmer aus. Der Mann am Fenster -wird zur leblosen Silhouette. Als wolle er sich vergewissern, ob das junge Mädchen wirklich noch auf dem Stuhl sitzt und ihn anhürt, dreht er sich unvermittelt um. Seine Augen begegnen so plötzlich ihrem unverhüllt offenen Blick, daß keiner von ihnen ausweichen kann und sie sich sekundenlang ineinander ver senken, hingegeben, rückhaltlos. Es ist, als hätten sie sich mit diesem einen Blick gesagt, was jahrelang unausgesprochen zwischen ihnen stand. Unbewußt nähert er sich mit einigen kurzen Schritten, da erwacht sie aus ihrer Erstarrung und läßt errötend, gleich- sam schuldbewußt die Lider sinken. Sie sicht wieder auf ihre Hände herab, die im Schoß die Handtasche krampfhaft um« spannen. „Sie find in den letzten Jahren zu still und ernst ge worden, Fräulein Gert," sagt er, die Hand auf den Tisch ge- stützt, der mit der Schmalseite zwischen ihnen steht. „Wenn ich daran denke, wie heiter Sie damals waren, ehe Mimi und ich uns verlobten. Sie gingen immer so leicht an Mimts Arm, wenn ich vorbei kam und grüßte. Und dann wurden Sie rot und lächelten. Man konnte Sie so schnell erröten lasten, und wenn wir darüber sprachen und Mimi Sie auslachte, dann wurde es noch schlimmer. Sie glühten bis über den ganzen Halsausschnitt —" „Das mag an Ihrer zarten Haut liegen," fügte er wie zur Entschuldigung hinzu. „Aber ich entsinn« mich noch, wie Ihnen einmal die Tränen kamen, weil wir Sie so lange damit quälten, und da waren Sie wortlos davongerannt. Ich habe Ihnen später sagen wollen, wie leid mir das damals tat, denn es mar herzlos von uns, so lange darüber zu reden und soviel zu lachen, aber ich fand keine Gelegenheit, mit Ihnen allein zu sprechen. Sie wichen mir immer wieder aus. Schließlich mußte man ja auch anirehmen, daß Sie nichts mehr von mir wissen wollten." Sie sicht einen Augenblick zu ihm hoch, ganz kurz, mit einem warmen Leuchten, als wolle sie ihm jetzt noch für die Absicht danken und seine Vermutungen widerlegen. Er läßt sich auf einem Stuhl an der anderen Seit« des Tisches nieder, legt die Hände weit ausgcstreckt auf die breite Platte, gleichsam um ihr damit etwas näher zu sein, und sagt leise, stockend: „Sie waren zu herb, und ich — ich war zu jung. Man wollte lustig sein und keinen jener warmen Sommertage ver trauern. Ja, man glaubte doch, das Leben müßte nur mit Lachen und — und Küssen ausgefüllt werden. Nach allem brauchte man nur die Hand auszustrecken, ohne Mühe wollte man in Empfang nehmen, was für einen bestimmt sei. Mimi war immer lustig, sie hatte dieses warme Lachen, das allen ge fiel, und sie zeigte ihre Gefühle so offen. Du wärst ja etn Narr —, sagte ich mir. Zuerst war ja auch alles so hell, das ganze erste Jahr in unserer Ehe — da hat man nichts vermißt. Ach, Sie wissen ja. Fräulein Gert: Sie selbst und die andern, die sich vielleicht nur Freunde nennen, kamen seltener. Und das bewies ta, daß wir glücklich waren und niemand brauchten. Etn paar Schatten, kleine Dissonanzen, die man fast entbehrt hätte, wenn sie nicht gewesen wären, denn Mimi braucht den Wechsel, die Versühnungen nach dem Streit. Vielen ist das etn Bedürfnis." Er lehnt sich erschöpft zurück, als Hab« diese lang« unge wohnte Rede ihn angestrengt. Wieder versucht seine stille Zn» hörerin, etwas zu sagen. Sie öffnet den Mund unmerklich, aber ihre Kehle ist wie eingerostet. Ein zaghaftes Räuspern wird vernehmbar. Sie rückt an ihrem Stuhl, um die Ver legenheit durch ein Geräusch, eine Bewegung zu verdecken. Er nimmt die Hände vom Tisch und legt den Kopf stützend hinein. „Erst als das Kind so schnell gestorben war," fährt er langsam fort, »und als ich dann meine Stellung verlor und
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