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Dem geselligen Leben fehlt es bei der Grösse der Stadt an einem gemeinsamen Mittelpunkte. Von den zahlreichen geselligen Vereinen haben die Ressource und das Casino, wie die Freimaurerloge eigene Gesell schaftsgebäude. Im Uebrigen bieten die meisten grossen Hotels und eleganten Restaurants, die Vergnügungsgärten, weniger die in Görlitz in yerhältnissmässig geringer Zahl vorhandenen Konditoreien, vollauf Ge legenheit, Geselligkeit ausserhalb des Hauses zu pflegen. In drei Schach gesellschaften finden die Freunde des Schachspiels, in fünf Schützenvereinen, drei Turnvereinen, vier Radfahrervereinen, Schützen, Turner und Radfahrer Gelegenheit, mit Gleichstrehenden sich zu messen. Der Rudersport^ hat dort noch keine Stätte gefunden, obwohl die Neisse an den schönen Sommerabenden von Hunderten von Kähnen und Gondeln belebt ist. Rechnet man zu diesen Annehmlichkeiten noch die schöne nähere und fernere Umgebung der Stadt, ihre bewährte Frei heit von Epidemien, die durch die grosse Baulust geförderte reiche Auswahl von Wohnungen, über die man sich leicht und bequem in dem Bureau des Hausbesitzervereins (Nonnen strasse 12) unterrichten kann, endlich die fast zum Sprichwort gewordene Billigkeit der meisten Lebensbedürfnisse, so wird man es begreiflich finden, dass das Wachsthum der Stadt ein anhaltendes ist. In erster Linie trägt dazu allerdings der Umstand bei, dass Görlitz Handels- und Industriestadt ist. Hat auch der Handel von Görlitz im Allgemeinen schwer durch die Zollpolitik gelitten, so ist doch der Waarenverkehr noch immer erheblich. Die Tuchweberei, welche in früheren Zeiten zeitweilig fünfhundert Meister und vierhundert Gesellen beschäftigte, wird in einer Anzahl grösser Fabriken betrieben, ausserdem setzt die Fabrikation von Kleider- und Schirm stoffen, von Konfektionsartikeln, Maschinen, Eisenbahnwagen, Kinderwagen und Spielpferden, Möbeln, Spazierstöcken, Reise utensilien, Hirschhorn- und Elfenbeinwaaren, Goldwaaren, Drabt- waaren und Cigarren und die chemische Industrie viele fleissige Hände in Bewegung. Die elegant ausgestatteten Läden aber bieten eine grosse Auswahl von Waaren aller Art. Die Bevölkerung, von der nur der kleinste Theil alt- görlitzischen Ursprungs ist, hat einen norddeutschen Charakter. Bemerkenswerth ist die tiefe Abneigung gegen religiöse Into leranz und die Unabhängigkeit der politischen Gesinnung, welche als ein Erbe der Väter im Kern der Bürgerschaft fort leben. Dass die Stadt keinen Janhagel besitzt, ist ein Vor zug, den sie vor vielen Städten voraus hat und der bei grossen Festen die Fremden immer wieder in angenehmes Staunen versetzt.