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Tagesgeschichte. In der bayrischen Abgeordnetenkammer haben sich in voriger Woche bemerkenSwerlhe Vorkommnisse er eignet. Man beschäftigte sich nut dem Placet (landes fürstliche Genehmigung zur Bekanntmachung päpstlicher und bischöflicher Beifügungen) und äußert sich die der bayrischen Negierung nahestehende „Münchener AUg. Ztg." über die betr. Verhandlungen folgendermaßen: „Die dreitägige Redeschlacht um das Placet, richtiger um die Herrschaft des Staates oder der Kirche in Bayern, endete unerwartet und auf eine für den Frieden in Bayer» äußerst betrübliche Weise. Wohl war von vornherein klar, daß der Antrag der CentrumSfraction und der Abgeordneten Rittler und Bucher, den Prinz- Regenten zu bitten, den Minister anzuweisen, daß künftighin daS Placet auf die Glaubens- und Sitten lehre nicht mehr angewendet werde, trotz des klaren Wortlautes dec Verfassungsrukunde und desll.ReligionS- edicteS, trotz des erdrückencen juristischen und geschicht lichen Beweises sür die Unrichtigkeit der Anschauung der Antragsteller und trotz der offenbar inconstitutio- nellen Form des Antrages mit einer Majorität von drei Stimmen angenommen werden würde. Allein ein Unerwartetes geschah. Die 79 Mitglieder des Cent, ums — also mit Ausschluß der Abgeordneten Rittler und Bucher — gaben folgende Erklärung ab: „Sie sehen sich nach der in der Plenarsitzung vom 6. und 8. No vember auf ihre Anträge abgegebenen Erklärung des Herrn Cultusministers genöthigt, zu erklären, daß sie den von ihnen geleisteten VerfassungSeid als in der durch die ministerielle Interpretation der VerfassungS- urkunde versuchten Ausdehnung geschworen nicht aner kennen. Ferner erklären sie, daß sie gegenüber der neuerdings bekundeten Stellungnahme des Herrn Mi nisters eine dementsprechende Haltung bei Berathung des CultusbudgetS annehmen werden". Diese Erklär ung bezieht sich jedenfalls auf die Worte deS Ministers, daß er seinen VerfassungSeid brechen würde, wenn er anders handeln würde, als er gethan habe und thue. Der Antragsteller Or. Datier begründete diese Erklär ung im Schlußworte noch damit, daß die Kirche die Weltherrschaft besitze und die Verfassung für die Katho liken nur mit dem Concordate als bindend anerkannt werden könne. ES soll heute noch nicht auf die Auf kündigung deS Gehorsams gegenüber einer vom Prinz- Regenten bereits gebilligten Auslegung der Verfassung, auch nicht auf die Unzulässigkeit eines bedingten Ver- fassungseides sür die Ausübung des Abgeordneten- Mandates hingewiesen werden, eine Frage, welche bereits in den ersten Fahren des bayrischen Parlementarismus dahin beantwortet wurde, daß kein VerfassungSeid unter Reservation angenommen werden könnte, auch nicht darauf, daß die sämmtlichen Mitglieder deS CcntrumS vor der Abstimmung über ihren Antrag erklärten: mögt Ihr beschließen, was Ihr wollt, wir verweigern schon im Voraus unser» Gehorsam, aber darauf soll heute schon aufmerksam gemacht werden, daß bayerische Ab geordnete die Antwort deS Prinz-Regenten, der Krone, um die sie in ihrem Anträge bitten, gar nicht abwarten, sondern heute schon erklären, daß, wenn sie ablehnend ausfallen sollte, wenn also der Prinz-Rezent, an den sie sich direkt «enden, die ministerielle Jnterpredation wiederum billigen sollte, sie den von ihnen geschwornen VerfassungSeid als geschworen nicht mehr anerkennen wollen! Daß Unerhörte diese- Vorganges braucht nicht weiter auSgeführt zu werden. Ob wohl alle Beamten, Professoren und Geistlichen — ausschließlich solche haben den Centrumsantrag vertreten — welche ihre Unterschrift unter die Erklärung setzten, der Tragweite ihres Actes sich bewußt waren? Jedenfalls sind die Folgen dieses GebahrenS im Interesse des ganzen Landes auf da- Tiefste zü bedauern. Herr Or Daller hat heute von Denunciationen nach oben hin durch die Presse gesprochen und geglaubt, eS sei eine unerhörte Beleidigung, der CentrumSfraction Eingriffe in die Kronrechte zu imputiren. Dagegen muß doch einmal Verwahrung eingelegt werden. Denuncirt nach oben hin kann nur etwas werden, waS „oben" noch nicht bekannt ist, daß aber die versuchten Eingriffe in die Kronrechte oben sehr wohl bekannt sind und gefühlt werden, weiß die CentrumSfraction recht genau. Wenn man aber in Schriften oder in der Kammer und schließlich in einer officiellen Erklärung eine publicirte Anschauung der Krone bekämpft und sogar erklärt, man halte den Verfassungseid nimmer, wenn dieselbe An schauung noch als geltend angesehen werde, dann ist ja keine Denunciation nach oben hin mehr möglich, denn die Herren denunciren sich ja laut genug selber. Wem das Sprechen darüber unangenehm ist, der über lege zuvor, was er sprechen, schreiben oder erklären will. Aus wohlunterrichteter Quelle und die Erkundigung bei maßgebenden Persönlichkeiten verlautet übrigens, baß die Kammer Vorgänge Folgen wie de» Rücktritt deS Ministeriums oder die Kammecauflösung nicht haben werden. Die Frage, ob der Ministerpräsident v. Lutz vom Regenten zu einer Erklärung ermächtigt wird, ist noch unentschieden. Die Regierung wird in aller Ruhe einen abwartenden Standpunkt einnehmen. Die Auf regung über die Kriegserklärung der Ultramontanen spiegelt sich in allen Münchner Blättern wieder. Selbst die gemäßigt katholischen Blätter beklagen den leicht fertig heraufbeschworenen Conflict mit Krone und Verfassung, von dem das katholische Volk nichts wissen will. Deutsches Reich. Dem Fürsten Bismarck ist von dem Kaiser bas nachstehende Telegramm aus Corfu zugcganqen: „Vorzügliche Fahrt von Stambul bis hierher. Wtter prachtvoll. Farben-Effekt und Beleuchtungen un Land und auf See in ungekannter Schönheit gesehen. Klarheit gestern so stark, daß sämmt- liche 3 Spitzen und zwischenliegendes Festland des Peloponnes auf einmal zu üb.rsehen, waS sonst noch nie vorzekommen. Alle wohl. Wilhelm, I. R.." Wie man hört, hat das tragische Ende des Dr. Peters auch die aufrichtige Theilnahme des Fürsten BiSmarck erregt, welcher an dem Ermordeten, so wenig er auch dessen letztem, in der Anlage wie in ter Aus führung verfehlten Unternehmen geneigt war, doch die ungewöhnliche Energie ehrt, mit der Dr. Peters ein weites Gebiet in Ostafrrka für Deutschland eroberte und mit der er seine Landsleute für eine als gut er kannte Sache zu gewinnen suchte. Die Nachricht von der Aufreibung der Expedition ist, wie man annimmt, mit schnellster Gelegenheit durch besonderen Boten von Lamu nach Zanzibar gebracht worden, wo sie der deutsche Konsulatsvcrweser sofort an das Auswärtige Amt und ebenso die Vertretung der ostasrikanischcn Gesellschaft an ihre Direktion in Berlin weiter gab. M>t Rücksicht auf das vorliegende Arbeitsmaterial des Reichstages hält man es in Abzeordnetenkreisen für sehr wahrscheinlich, daß schon in den nächsten Tagen eine Unterbrechung in den Plenarsitzungen ein tritt. Diese Pause würde auch den Commissionen, insbesondere der Budget-Commission und derjenigen für das Sozialistengesetz die rascheste Förderung ihrer Beralhungen gestatten. Wenn die Commissionen in die Lageversetztwerdcn, sich eine Zeit lang, unbehindert durch Plenarsitzungen, lediglich ihren Aufgaben zu widmen, so hofft man, daß es möglich sein wird, die Commissionsberathungen noch im Laufe dieses Monats abzuschließen. Es scheint hiernach nicht ausgeschlossen, daß die Session doch noch vor Weihnachten zum Ab schlüsse gebracht werden könnte. Die nächste Volkszählung wird am 1. Dezember 1890 stattfinden und ganz den früheren entsprechend eingerichtet werden, wenn der Bundesrath die Vor schläge annimmt, welche die Conferenz der Vorstände der statistischen Zentralstellen der deutschen Staaten in diesen Tagen beschlossen hat. Der Handelskammer zu Osnabrück, welche beim Reichstage eine Petition um Ermäßigung der Fern sprechgebühren in den Städten von nicht mehr als 5000 Einwohnern auf zwei Drittel der in größeren Städten erhobenen eingcreicht hat, haben sich die Handels- und Gewerbekammer zu Plauen i. V., sowie die Handelskammern zu Nordhausen, Göttingen, Minden (Westfalen) und Stralsund angeschloffen. Oesterreich. Wien, 10. November. Das „Fremdenblatt" bespricht den Besuch des Grafen Kalnoky in Friedrichsruh und die bevorstehende Be gegnung des Kaisers Franz Joseph mit Kaiser Wilhelm in Innsbruck und bemerkt: Es liege nahe, zwischen den Begegnungen der Staatsmänner und der Monarchen Beziehungen zu suchen und in Wahrheit sind auch diese im Momente von der großen gemeinsamen Idee erfüllt, Europa durch ein enges, starkes Zusammenhalten die Wohlthaten des Friedens möglichst lange zu wahren und den Durchbruch der bestehenden Rechtsordnung, worauf der Friede fußt, hintanzuhalten. Diese größte Aufgabe der Staatskunst bildete in Frankreich zweifel los die wichtigste Sorge der Staatsmänner. Man darf mit großer Bestimmtheit die Annahme aussprechen, daß die beiden Staatsmänner gewichtige Momente festzustellen vermochten, welche die Hoffnungen der Völker auf eine friedliche Entwickelung ihrer Schicksale neu kräftigen können. Man darf nunmehr als Erfolg des Besuches des russischen Kaisers das anschen, daß es dem Reichskanzler Fürsten Bismarck gelungen ist, daS Mißtrauen deS russischen Kaisers gegen die Zwecke Beilage zum MbeblM «ns Anzeiger." 142. Dienstag, den 12. November 1889. 42. Jadrg der Friedensliga wesentlich zu entkräften, und auch Graf Kalnoky sowohl wie Fürst BiSmarck haben die berechtigte Erwartung gewonnen, daß der Kaiser von Rußland keineswegs den Frieden Europas stören will. Mit solchen Ergebnissen dürften wohl alle Freunde des Friedens zufrieden sein. Der allgemeine Friede muß allen sich allmählich in die Völker einlebenden Verhältnissen di« Möglichkeit einer friedlichen ruhigen organischen Selbstentwickelung sichern; die« gilt auch von den bisher unabgeschloffenen Orientfragen. Deutsch lands Ocientpolitik ist kein Geheimniß, ebenso ist die Politik Oesterreich-Ungarns wiederholt offen als loyal dargelegt; sie wurzeln beide in der Nolhwendi.,keit, den ungeregelten Verhältnissen eine friedliche Ueber» tragung auf den Boden der Legalität zu ermöglichen. Oesterreich-Ungarn strebt nichts Anderes alS die autonome und friedliche Selbstentfaltung der Balkan völker an, wovon es jeden äußeren gewaltsamen und illegalen Einfluß abgehalten haben will. Dieser Prozeß schreibe vor, daß die Völker so lange als möglich die Autonomie ungestört genießen. Nur vermöge des Friedens und auf Grund der vvn der deutschen Thron rede schon betonten geltenden Verträge können die noch bestehenden Schwierigkeiten auch ohne etwaige politische Abmachungen eine legale Lösung finden. Die Begegnung in Friedrichsruh sei diesem Grundziele der Politik zweifellos gerecht geworden, in ihr, wie in den Be gegnungen der beiden Herrscher seien neuerliche Bürg schaften für die friedlich« Consolidirung Europas zu suchen. Frankreich. Ter Marine-Minister Krantz be absichtigte wegen der im Ministerrath erfolgten Miß billigung seiner militärischen Maßregeln in Tonkin seine Entlassung zu nehmen. Auf die Bitte seiner Kollegen hin verschob er seine Absicht bis nach Be endigung der Wahlprüfungen. — Floquets Wahl zum Präsidenten der Kammer gilt als gesichert. Die Republikaner sind eifrig bestrebt, eine Einigung der verschiedenen republikanischen Elemente herbeizu führen. Die republikanischen Deputirten, welche augenblicklich in Paris anwesend sind, etwa 80 an der Zahl, hielten am Donnerstag im Palais Bourbon eine Versammlung ab. In derselben wurde ein stimmig beschlossen, daß die zur republikanischen Mehr heit gehörenden Deputirten am 11. d., Nachmittags, im Palais Bourbon behufS der Verständigung über die vorzunehmendc Büreauwahl zu einer Vollver sammlung zusrmmentreten sollen. Ter Antrag Reinachs, die boulangistischen Deputirten von dieser Versammlung auszuschließen, wurde angenommen. Spanien. Erzherzog Albrecht hat vor Kurzem seiner Nichte, der Königin-Regentin von Spanien, in Madrid einen Besuch abgestattet. In der spanischen Deputirtenkammcr Hal dieses Ereigniß zu einer selt samen Debatte Anlaß gegeben. In einer der letzten Sitzungen ergriff der Abgeordnete Pedregal (Republikaner) das Wort und sagte mit Beziehung auf die Reise des Erzherzogs Albrecht, es scheine ein Familien-Ueberein- kommen zu bestehen, um Spanien zur Mitwirkung an den europäischen Fragen zu veranlassen. Der Redner erinnerte hierbei an die Reise des Kronprinzen von Deutschland, des nachmaligen Kaisers Friedrich, nach welcher die conservative Partei ans Ruder be rufen wurde. Canovas de Castillo und Romeroy Robledo protestirten entschieden gegen diese Behauptung, indem sie erklärten, daß die conservative Partei niemals das Werkzeug eines auswärtigen Einflusses gewesen sei. England. London, 10. November. Heute Nachmittag fand im Hybepark ein großes Meeting der Bäckergesellen und der anderen dieselben unter stützenden Gewerbe statt. Eine ungeheure Menschen menge umstand die 3 Rednertribünen. Der Hauptredner BurnS griff die Bäckermeistrk heftig an. Folgende Resolution wurde einstimmig angenommen: Im Fall nicht bis zum 16. November eine kürzere Arbeitszeit bewilligt und die Ueberzeit um die Hälfte besser bezahlt wird, legen die Bäcker die Arbeit nieder und bvycottiren die ihre Forderungen nicht bewilligenden Bäckermeister. Rußland. Die „Nowoje Wremja" läßt sich auS Wien telegraphieren, man sage »ach der Rückkehr des Grafen Kalnoky aus Friedrichsruh, die bulgarische Frage sei der hauptsächliche Gegenstand der dortigen Unterredungen gewesen. Ueber die Thäligkeit deS russischen Justiz ministeriums während der Jahre 1886 und 1887 werden aus Petersburg einige Zahlen mitgetheilt. Danach wurden in den beiden Jahren zusammen wegen Theilnahme an der sozialrevolutionären Be wegung 1424 Personen (1090 Männer und 334