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Tagesgeschichte. Die Anklage gegen Boulanger bildet gegenwärtig und nicht etwa in Frankreich allein den hauptsächlichsten Gegenstand der öffentlichen Beachtung. Wähnt man doch, daß von der geschickten Durchführung diese« Prozesses da« Schicksal der Republik abhängt. Man erwägt jetzt die Aussichten der Regierung nach allen Richtungen hin, ob:r eS kann heute schon gesagt werden, daß dieselben nicht gerade glänzend sind. Beide Theil«, d. h. die in Frankreich am Rude, be findliche Partei, sowie Boulanger und seine Trabanten, blasen gewaltig die Backen auf und bestreben sich gleich zeitig, die Welt an den unausbleiblichen Sieg ihres Prinzips bei den bevorstehenden Kammerwahlen glauben zu machen. — Die Regierung scheint die Berurtheilung BoulangerS als Vorbedingung ihre- völligen Sieges über den BoulangiSmuS zu betrachten und man muß gestehen, daß sie und ihre Anhänger alles gethan haben, um den Boulangisten nach Möglichkeit den Weg zur Macht zu verlegen. So haben sie zunächst das Listen wahlsystem wieder abgeschafft, damit durch dasselbe nicht etwa, wie zu befürchten stand, ein Plebiszit für Boulanger zu Stande käme. Sie haben die Viel kandidaturen untersagt und sogar zu einem strafbaren Vergehen gemacht; sie haben die Organisation der boulangistischen Leibgarde, der Patriotenliga, zerstört; sie haben Boulanger zur Flucht genöthigt und seine Ausweisung aus Brüssel turchgesetzt; sie haben ihm seine Pension vorenthalten; sie verfolgen ihn steckbrief lich und haben der gegen ihn erhobenen Anklage auch noch die Beschuldigung gemeiner Verbrechen hinzugefügt; der Senatsgerichtshof schließlich wird sich willig zeigen und den Abwesenden verurtheilen — daran isi nicht zu zweifeln. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist in der Republik eine außerordentlich zweifelhafte Sache und ein politischer Gegner hat keine Gnade zu erwarten. — Da natürlich nicht anzunehmen ist, daß der Ange klagte sich seinen Richtern stellt, so wird sich das Ver fahren gegen ihn in folgender Weise abspielen: Nach Verlauf von zehn Tagen, von der Zustellung der Klage an gerechnet, giebt der Vorsitzende nochmals eine Frist von zehn Tagen. Stellt der Angeklagte sich bis dahin nicht, so wird er als Aufrührer wider daS Gesetz er klärt, seine Bürgeirechte hören auf und seine Güter werden vom Staate bis auf Weiteres mit Beschlag belegt. Das würde im vorliegenden Falle am 26. Juli zu geschehen haben. Am folgenden Sonntag — am 23. Juli — ist dieser Beschluß „unter Pauken- und Trompetenschall" bekannt zu geben und an der Wohnung des Beklagten und am GerichtSgebäude an zuheften. Dann hat «in abermaliger Verzug von zehn Tagen einzutreten, so daß am 8. oder 9. August, da die Verhandlungen kurz sein und weder Zeugen ver nommen werden, noch ein Vertheidiger redet, daS Ur- theil gefällt werden dürfte. Für die Vergehen, deren Boulanger beschuldigt wird, sind folgende Strafen vor gesehen: für daS Attentat: die Deportation in einen feste» Platz; für das Komplott: die Deportation oder einfache Einsperrung; für die Entwendung öffentlicher Gelder: Zwangsarbeit. Mit der Berurtheilung ist der Verlust deS Rechtes der Wählbarkeit verbunden. — So weit wäre für die Regierung alles günstig ver laufen und eS ist ja auch, wie schon oben bemerkt, un zweifelhaft, daß sie die Berurtheilung deS gefährlichen Mitbewerbers um die Macht beim Senate durchsetzen wird. Anders lautet jedoch die Antwort auf die Frage, ob die öffentliche Meinung Frankreichs daS parteiische Urtheil gegen den Verbannten gutheißen wird. Die Anklageschrift liegt zwar im Wortlaute vor, aber wie eS mit der Beweisführung beschaffen ist, das mögen die Götter wissen. Dank den beständigen politischen Um wälzungen in Frankreich ist dort die politisch« Moral nicht allzu zart, „Verschwörung" und „Komplott" stad Anklagen, di« sich dort mit gutem Recht gegen jeden älteren Politiker erheben lassen. Anders würde eS allerdings stehe», wenn man Boulanger der gemeinen Vergehen, Veruntreuung amtlicher Gelder, überführen könnte, was aber nicht wahrscheinlich ist. Denn der artige Beschuldigungen sind unter der Herrschaft der Republik schon so häufig geworden, daß man ihnen ohne schlagende Beweise kaum noch Beachtung schenkt; man weiß eben, daß persönliche Verleumdung ein Mittel zur Vernichtung des unbequemen politischen Gegners ist. — Mag der Proceß einen Vang wie immer nehmen, auf die boulangistische Bewegung wird er kaum Anfluß üben. Kein einziger der Unzu friedenen wird seine Stimme bei der Wahl dem Re- gierungScandidaten geben, weil etwa Boulanger als „Verschwörer" verurthrilt worden ist. Erhalten aber Dienstag, de« 23. Juli 188S. BoulangerS Anhänger die Mehrheit, so ist e» ihnen ja ein Leichtes, ihren Herrn und Meister durch eia Kammervotum im Triumph und im weißen Unschulds kleide nach Paris zurackzuführen. Deutsche- Reich. Ane anscheinend offiziöse Korrespondenz der „Köln. Ztg." bestätigt, daß der Zar schon auf der Hinreise nach Kopenhagen und zwar am 20. August mit dem deutschen Kaiser zusammentreffen «erde, er wünsche jedoch, daß dies nicht in Berlin, sondern in einer Küstenstadt (Kiel?) geschehe. Durch die Blätter gehen verschiedene, einander wiedersprechende Angaben über die nächsten Reisebr- stimmungea des Kaisers. Während von einer Seite behauptet wird, der Kaiser weide sich nach der Rückkehr von seiner NordlandSrcise sofort von Wilhelmshaven auS nach England begeben, wird anderseits gemeldet, daß sich der Kaiser zuvor nach Berlin begeben und von dort auS die Reise nach England antreten werde. Beide Angaben scheinen nur auf Vermuthungen zu be ruhen, da bis zur Stunde eine endgültige Bestimmung überhaupt noch nicht bekannt ist. Prof. Schweninger ist der „Post" zufolge am Frei tag nach Varzin berufen worden. Ob die Berufung wegen einer Erkrankung deS Reichskanzlers erfolgt ist, sagt daS Blatt nicht. Zu einer Kündigung des deutsch-schweizerischen NiederlaffungSvertrageS soll eS nach einer Meldung eines auswärtigen Blattes nicht kommen und die diplomatische Aktion, vorausgesetzt daß nicht neue Zwischenfälle sich ereignen, könne als abgeschlossen gelten. Man wolle in Berlin abwarten, ob die Schweiz durch strengere Handhabung der Fremdenpolizei den Wünschen der deutschen Regierung entgegenkommt. Zufolge höherer Anordnung finden gegenwärtig Ermittelungen darüber statt, ob die im Interesse des Krankenversicherungsgesetzes festgesetzten „ortsüblichen Tagelöhne gewöhnlicher Arbeiter" noch den thatsächlichen Verhältnissen entsprechen, oder ob eine Abänderung dieser Sätze geboten »erscheint. In der Bischofskonferenz, welche am 20. August in Fulda stattfindet, soll dem Vernehmen nach über einen Protest gegen die Giordano-Bruno-Feier in Rom und über die Besetzung erledigter Bischofsstühle berathen werden. Für den Bergmannstag in Dorstfeld, der am 18. August fiattfindcn soll, ist folgende Tagesordnung auf gestelltworden: 1) Berichterstattung deS Central-Comitees. 2) Die gegenwärtige Lage der Bergarbeiter und Ab stellung von Uebelstünden beim Betriebs- und Knapp- schaftswesen durch eine Vereinigung der Bergarbeiter. Referent Schröder. 3) Wirken Gedinge und Ueber- schichten (verlängerte Schichtzeit) vom materiellen und sittlichen Standpunkte auS nützlich oder schädlich? Referent Siegel. 4) Welches ist die zweckmäßigste Organisation, um auf dem Wege der Gesetzgebung eine Besserstellung der Bergarbeiter herbeizuführen? 5> Wann soll der erste deutsche Bergarbeiter-Delegirtentag stattfinden? 6) Anträge. Oesterreich. Ungarn. Wie aus Wien ge meldet wird, wird den Kaiser Franz Joseph bei seinem Berliner Besuche entweder sein Bruder, der Erzherzog Karl Ludwig, oder dessen ältester Sohn, Erzherzog Franz Ferdinand, als zukünftiger Thronerbe, begleiten. Frankreich. Behufs Aburtheilung BoulangerS wird gleichzeitig mit dem Senatsgericht rin KriegSge- richt rinberufen werden. Anlaß hierzu geben die Er mittelungen wegen seiner angeblichen Veruntreuung von Kriegsgeldern. Abermals hat Boulanger ein Manifest erlassen, in welchem er erklärt, daß das Gesetz gegen die Viel kandidaturen eine Verletzung des allgemeinen Stimm rechts sei. DaS Nativnalcomitee habe beschlossen, Vie Kandidatur BoulangerS bei den GenerolrathSwahlen in 80 Bezirken aufzustelle». Er (Boulanger) fordere die Wähler auf, ihn in denjenigen Bezirken, welche er bezeichnen werde, zu unterstützen. DaS Manifest schließt': „Diese erste Entscheidung deS Volkes wird ein Vorspiel sein für den großen Triumph, welcher, waS immer auch di« Männer an der Spitze der Regierung thun mögen, jetzt nahe bevorsteht. Es lebe Frankreich! Es lebe die Nationale Republik!" Außer dem haben Boulanger, Dillon und Rochefort ein Mani fest erlasse», in welchem sie in sehr heftigen Ausdrücken erklären, daß sie «S verschmäht haben, auf die gegen sie zusammengebrachten Verleumdungen zu antworten. Di« Thatsachea würden ihre Zurückhaltung recht fertigen. Der Staatsgerichtshof und die Regierung hätten sich au Sträflinge gewendet, um falsche Zeugnisse 4S. Jahrg. zu erhalten. Nichts habe man gegen sie beweisen können. Die Wähler würden darüber zu richten haben und sähen die Unterzeichner der Entscheidung ver trauensvoll entgegen. England. ES wird offiziell gemeldet, daß Graf Fife gelegentlich seiner Vermählung mit der Prinzessin Luise von Wale» zum Herzog ernannt werden wird. Bei der Berathung der Dotationsfrage vor der Eommisston deS Unterhauses nahm die Regierung unter Vorbehalt den von den Führern der Opposition gemachten Vorschlag au, nach welchem die Apanage deS Prinzen von Wales um 40000 Pfd. jährlich vermehrt werden soll, anstatt eine besondere Dotation für jedes seiner Kinder auSzusetzen. Die Frage der Dotirung der anderen Enkelkinder der Königin bleibt noch unerledigt. Wie verlautet, wird die Opposition dieselben unbedingt verweigern. Schweiz. Die Schweiz scheint die Verpflicht ungen gegen Deutschland ernstlich aufzufaffen. Es bestätigt sich, daß der vom „Landesausschuß der deutschen Sozialisten in der Schweiz" in der Züricher „Arbeiterstimme" an die deutschen Sozialisten erlassene Aufruf eine eidgenössische Untersuchung veranlaßte, welche muthmaßlich dessen Auflösung zur Folge haben wird. Belgien. Dem „Antwerp. Handelsbl." zufolge hat General Brialmont dem Kriegsminister Pläne und Anschläge für unabweisbare Antwerpener Ergänzungs- Befestigungen überreicht. Die Kosten betragen 30 Millionen Frank. Italien. Das „Amtsblatt" veröffentlicht einen Bericht des Generaldirektors der öffentlichen Sicherheit an den Minister deS Innern, betreffend die Constituirung einer Verbindung, genannt „Comitä für Triest und Trient in Rom." Dieses Comitä, heißt es in dem Bericht, verfolge dem Staate zuwiderlaufende Ziele, dasselbe habe der Polizei ein Manifest an die Italiener überreicht, um die Erlaubniß zu erlangen, diesen Aufruf durch Plakate zu verbreiten. Diese Erlaubniß sei dem Comitö verweigert worden. In diesem Manifest fordere das Comite das Volk, unter dem Vorwande Triest und Trient zu befreien, zu Unruhen und Agitation in Italien auf, es beleidige die Regierung und das Parlament, indem eS ihnen den Vorwurf mache, die Rechte des Volkes zu vergessen. DaS Comitä verwünsche die Allianz, welche das Fundament des europäischen Friedens und die Gewähr der Unabhängigkeit und Einheit Italiens gegenüber einer hinterlistigen Nation und den offenen und versteckten Feinden Italiens sei. Das Vorgehen des ComitäS ziele darauf ab, die internationalen Be ziehungen der Regierung und einer auswärtigen Macht zu trüben und Italien zu isoliren. Aus diesen Gründen habe der Polizeivräfect dem Generaldirektor der öffent lichen Sicherheit ein Dekret, betreffend die Auflösung des Comitäs, unterbreitet. Das „Amtsblatt" veröffentlicht dieses von Crispi unterzeichnete Dekret, wonach das „Comitä für Triest und Trient" für aufgelöst erklärt wird. Spanien. Gegen den früheren spanischen Bot schafter in Berlin, den Grafen Benomar, war bekannt lich in Madrid ein Prozeß angestrengt worden. Diese Angelegenheit kam nun in der Deputirtenkammer zur Sprache, wobei der ehemalige Ministerpräsident Canovas del Castillo erklärte, der Graf sei ein Ehren mann und habe nie ei» StaatSgeheimniß verrathen; er (Canovas) könne die Vorladung BenomarS nur mißbilligen. Balkaustaaten. Wie aus Konstantinopel gemeldet wird, ist einer der Sekretäre der dortigen englischen Botschaft unweit Bruffa verschwunden und befürchtet man, daß er von Räubern gefangen genommen ist. Der Botschafter hat den Dragoman Block abge sandt, um Nachforschungen anzustellen. Amerika. Noch fehlt jede nähere Nachricht über den gegen den Kaiser Dom Pedro von Brasilien verübten Mordversuch. Es ist der erste thätlich« Angriff, welcher gegen den jetzt im 64. Lebensjahre stehenden und über die Grenzen seines Reiches hinaus populären Monarchen während seiner nahezu 50jährigen Regierung versucht worden ist. Der Thäter ist be kanntlich kein Brasilianer, sondern ein Portugiese; an ein politisches Motiv der That zu glauben fällt schwer. Von der wirthschaftlichen Lag« der Arbeiter in den Bereinigten Staaten entwirft der englische Consul in Baltimore ein nichts weniger denn verlockendes Bild. Allerdings sind die amerikanischen Lohnsätze höher als die englischen und — wie wir hinzusetzen — die deutschen; dafür ist die Arbeitsgelegenheit aber bei weitem weniger beständige und sind die Preise de.