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SS. Iahrg. Donnerstag, den 25. September 1879« Beilage zum „Elbe-latt und Anzeiger". .zr IIS Tagesgeschichte. Deutsche- Reich. Die über den weitern Verlauf der Kaisertage in Stratzburg eingehenden Be richte stimmen in der Anschauung überern, daß das Auftreten des Kaisers wiederum viele der neuen Reichsangehörigen gewonnen hat. Bon einem Festzuge elsässischer Landleute entwirft ein Berichterstatter de» „B. T." folgendes anziehende Bild: Den Zug eröffnete ein berittenes Musikcorps in elsässischer Landtracht mit bunt geblumten Westen, rothen, blauen und grünen Jacken und wehenden Bändern an den runden Hüten. Als der Kaiser auf die Ballustrade trat, brach ein orkanartiger Jubel der Menge unter dem Schwenken der Hüte los. Der Musik folgten paarweis mehrere Hundert berittene elsässer Landleute. Sie trugen deutsche Schärpen, an den Schultern deutsche Schleifen und im Knopfloch Kornblumen. Dann folgten in langem Zuge Wagen auf Wagen mit elsässer Landmädchen. Die Wagen, Erntewagen, wurden vierspännig von jungen Burschen ge fahren,dieaufden Handpferden ritten. Die Wagen waren in grüne Lauben verwandelt, andenen bunte Bänder flatterten. Auf diesen Gefährten saßen je zwei und zwei die Mädchen in Festtracht, jeder Wagen führte vorn als Inschrift den Namen des Heimathdorfes der Mädchen. Diese mit ihren schön geschnittenen Gesichtern und ihrem characteristischen Kopfputz sahen reizend aus. Die In sassen des ersten Wagens erschienen in weiß und roth, den Landesfarben; dann reihte sich Tracht an Tracht in bunter Folge: goldgestickte Mieder, schwarze Flügel hauben, goldgcwirkte Schauben mit hellblauen gebrannten Tüllfraisen, die wie Heiligenschein das Gesicht umrahmten, bunte seidene Kopftücher, großgeblümte Seidentücher um die Schultern n.s. w.; jedes Mädchen trug Kornblumen am Mieder, außerdem waren zwei Musikcorps auf Wagen im Zuge vertheilt. Die Mädchen eröffneten, als sie beim Kaiser vorbeipassirten, ein wahres Bombardement mit Blumensträußen und manchen zu gut gezielten fing der Kaiser lachend mit beiden Händen auf. Tie Straß burger Jugend hatte inzwischen munter die Ballustrade erklettert, und als der Kronprinz sich mit den Jungen scherzend unterhielt, drang alsbald eine dichte Schaar mitten in die Reihen der hohen Herrschaft« n ein. Zum Schluß des schönen Schauspiels wurde eine Deputation der Burschen und Mädchen des Festzuges vom Kaiser empfangen, der sich mit ihr längere Zeit leutselig unter hielt. Hinter dem Zuge her aber defilirte das Publikum in dichten Masten am Kaiser unter endlosen Hochrufen und Hüteschwenken vorbei, und der Kaiser dankte fort während von der Ballustrade herab. Bei der am 1. October stattfindenden feierlichen Eröffnung des Reichsgerichts wird, wie die „Post" meldet, der Staatssecretär des Reichs-Justizamts, Herr Or. Friedberg, nach einer Ansprache den Präsidenten des Reichsgerichts, vr. Simson, und den Reichsanwalt, Freiherr» v. Seckendorfs, als Reichsbeamte vereidigen und Herrn vr. Simson er suchen, den Mitgliedern des obersten deutschen Gerichts hofes, soweit sie nicht bereits im Reichs-Oberhandels gericht im Dienst des Reiches fungirt haben, den Eid abzunehmen. Nachdem dies geschehen, wird Herr Präsident Or. Simson das Wort zu einer Ansprache ergreifen und das Reichsgericht als constitnirt erklären. Damit erreicht die officielle Feier, der seitens der Justiz minister der Einzelstaaten nur der sächsische, Herr v. Abeken, beiwohnt, ihr Ende. Zürn Nachmittag hat Herr v. Abeken im Namen der sächsischen Staatsregierung Einladungen zu einem Diner ergehen lasten. Der Bundesrath sowohl als das preußische Staats ministerium haben nach einer kurzen Anfangssitzung in ihren Berathungen wiederum eine Panse eintreten lasten; der Stillstand wird voraussichtlich bei beiden Körperschaften auch nock einige Tage bis zur Rück kunft des Fürsten Bismarck andauern. Im Bundes- rathe dürfte es sich zunächst darum handeln, abgesehen von den wichtigen Gegenständen, welche den Ausschüssen bereits früher überwiesen sind, als Aufstellung der Zollregulative, Aendernng der Etatsperioden und Ge setzentwurf, betreffend Eisenbahngütertarife, Stellung zu Len bereits vor längerer Zeit zur Vertheilung ge langten Eisenbahngesetzentwürfen zu nehmen. Zahlreiche Gerichtshöfe in Deutschland gehen ein und sind bereits geschloffen, die Uebersiedelung der Be amten, der Acten u. s. w. an die neuen Amtssitze führen nothwendig eine Pause in den Arbeiten herbei. Bei dem Obertribnnal in Berlin sind allein 1800 Proteste unerledigt geblieben und werden erst durck zweiHülfs- senate, die bei dem Reichsgericht in Leipzig gebildet sind, ihren Abschluß finde». Die soeben beendeten Verhandlungen der Eisen bahn-Tarifcommission und deS Ausschusses der Ver kehrs-Interessenten zu Lindau haben zu dem gemein samen Beschluß geführt, der General-Versammlung der deutschen EisenbahnendieAblehuung des württembergrschen Antrages zu empfehlen, welcher verlangt, die Artikel Mehl und Malz nn Specialtarif zu streichen und durch Versetzung in die allgemeinen Wagenladungs- claffen in der Fracht zu erhöhen. Die große Trans portbewegung in Mehl, dieses wichtigen Consumtions- artikels der Bevölkerung, innerhalb Deutschlands ist durch diese Beschlüsse auf Antrag der Eisenbahn-Ver waltungen gesichert, welche hier, wie so oft die Interessen des Verkehrs, ohne Rücksicht auf den eigenen finanziellen Vortheil wahrgenommen haben. Oesterreich. Wien, 22. September. Zu dem Cortöge, welches Erzherzogin Christine nach Spanien geleiten wird, sind von Sr. Maj. dem Kaiser ernannt worden: Fürst Kinsky zum Obersthofmeister; die ver- wittwete Markgräfin tzlabriele Pallavicini, geborne Land gräfin Fürstcnberg, zur Obersthofmeisterin; Graf Feri Bellegarde und Graf Anton Mittrowsky zu Kammer herren; Gräfin Irma Andrasty Tochter des Grafen Emanuel und der Gräfin Gabriele Andrasty) und Gräfin Henriette Cappy (Tochter des Adjutanten Erz herzogs Albrecht's, Oberst Grafen Cappy) zu Hofdamen. Die Frau Erzherzogin wird, wie das „Salonblatt" meldet, mit ihrem Gefolge am 18. October die Reise antreten, da am 28. October die Vermählung statt finden soll. Der deutsche Reichskanzler Fürst Bismarck kon- ferirte heute von 12 bis 1>/s Uhr mit dem Grafen Andrasty und dem Baron Haymerle und fuhr hieraus zu der Audienz bei dem Kaiser, welche Stunde dauerte. Uin 2^ Uhr stattete Fürst Bismarck in Begleitung des Grafen Andrasty dem Ministerpräsi denten, Grafen Taaffe, einen Besuch ab und besuchte sodann die Baronin Haymerle. Von dort aus fuhr der Fürst, immer in Begleitung des Grafen Andrasty, in das Hotel zurück. Punkt 3 Uhr traf daselbst der Kaiser ein, bei der An- und Abfahrt von der dicht gedrängten Volksmenge stürmisch begrüßt. Fürst Bis marck erwartete den Kaiser im Vestibüle; der Kaiser reichte dein Fürsten die Hand und begab sich in die von der fürstlichen Familie bewohnten Gemächer. Der Besuch dauerte eine halbe Stunde. — Um 4 Vs Uhr begann in dem Schönbrunner Schlosse die Auffahrt der zur Hoftafcl geladenen Gäste. Fürst Bismarck trug Galauuiform. Nach dem Diner hielt der Kaiser 1 Stunde Cercle und verabschiedete sich sodann von dem deutschen Reichskanzler, da sich der Kaiser heute Abend 9 Uhr zur Jagd nach Steiermark begiebt. Morgen findet bei dem Grafen Andrasty ein Diner statt. Für übermorgen ist ein Ausflug mit der Zahn radbahn nach dem Kahlenberg in Aussicht genommen. Die Abreise des Fürsten ist auf Donnerstag festgesetzt. Die Fürstin Bismarck diuirte heute bei der Prinzessin Reuß und besuchte Abends die Vorstellung im Hoftheater. Wien, 23. September. Es verlautet, Fürst Bis marck und Graf Andrasty hätten sich, um ein freund liches Verhältnis; zwischen Oesterreich-Ungarn und Deutschland auch auf dem Gebiete der materiellen In teressen zum Ausdrucke zu bringen, bei ihren Pour parlers principiell geeinigt, um möglichst weitgehende Tarifs und Vcrkehrserleichterungen zwischen beiden Staaten eintreten zu lasten, zu deren Vereinbarung spezielle Delegirte sogleich entsendet werden, um die betreffenden Vorlagen noch im Laufe des nächsten Jahres vor die Parlamente bringen zu können. Frankreich. Paris, 22. September. Gestern und heute haben in allen größeren Städten Frankreichs Bankete zur Feier der ersten Proclamirung der Republik im Jahre 1792 stattgefnnden. In Marseille hielt Louis Blanc eine große Rede in dem Theater Valette über die Zukunft und Bedürfnisse der Repuhlik. Bei der Ankuft Blanc's wurden ihm die Pferde ausgespannt und der Wagen vom Publikum gezogen. Gestern fanden 10 Bankete hier statt; kein störender Zwischenfall kam vor. Italien. Rom, 22. September. Der „Courier d'Jtalie" pnblicirt eine Wiener Privatdepefche, worin das Verbleiben des Grafen Andrasty im Amt und dje Rückkehr des Barons Haymerle nach Nom als Bot schafter in Aussicht gestellt ist. — Morgen werden im Palazzo Venezia, dem Sitz der österreichischen Botschaft bejm Vatikan, die Kardinäle Haynald »nd Simor in großer Soiräe die Glückwünsche ihrer Landsleute em pfangen. Der König und die Königin sind in Monza eingetroffen. Großbritannien. London, 23. September. Die „Times" erfahren, die Zusammenkunft Lord SaliSbury'S mit dem französischen Conseilprästdenten Waddington bade eine vollständige Verständigung über die Hauptpunkte in der ägyptischen und griechische« Frage ergeben. Um die Lösung der ägyptischen Finanz schwierigkeiten zu erleichtern, sollen künftig Mißver ständnisse zwischen Frankreich, England und dem Khedive möglichst vermieden werden. Spanien. Madrid, 22. September. Die Eröffnung der KorteS ist auf den 3. November an beraumt worden. — Verschiedene Sklaveneigenthümer auf Kuba haben eine Eingabe an die Regierung ge richtet, in welcher sie um Ergreifung umfastender Maßregeln ersuchen. Im entgegensetzten Falle würden sie genölhigt sein, alle Sklaven freizulaffen, um die Jnbrandsteckung ihrer Besitzungen zu verhindern. Die Regierung hat darauf telegraphisch geantwortet, sie hoffe, daß die Sklavenbesitzer in Uebereinstimmung mit der Negierung von Kuba handeln und sich hierbei von ihrem Patriotismus leiten lasten würden. Vermischtes. (Zur Heilung der Lungentuberculose.) Aus Innsbruck wird der Recchenberger Zeitung ge schrieben: Durch Einathmung einer fünfprocentigen wässerigen Lösung von benzoesauerem Natron berichtet Or. Ferdinand Kroczak, Assistent der medicinischen Klinik, des Professors Or. Prakaß, Freiherr» von Rokitansky in Innsbruck, daß in den Monaten Juli und August v. I. fünfzehn Kranke auf diese Mise be handelt wurden, von welchen keiner starb. Drei der schwersten Fälle von Kranken werden mitgetheilt, welche sterbend auf die Klinik gebracht wurden, bei denen das Lungcnleiden sehr ausgebreitet war (Cavernenbildung war vorhanden), und die nach 5—6 Wochen geheilt die Klinik verließen, blühend aussahen und eine Zu nahme von 3—8 Kilo darboten. Die oben erwähnte Behandlungsweise stützt sich auf die von verschiedenen Beobachtern in den letzten Jahren gewonnene Erfahrung, daß die Tuberculose durch Ansteckung, wie z. B. Blattern, Diphteritis, Fleischtyphus rc., verbreitet werde, und zwar sind es mikroskopische Pilze (Batterien), welche Träger des Krankheitsstoffes sind und auf geeignetem Boden jenes gefürchtete und weit verbreitete Leiden, die Tuberculose und deren Ausgang, die Schwindsucht erzeugen. Das benzoesauerc Natron ist nun ebenso wie die Carbolsäure, Salycilsäure rc. geeignet, jene kleinen Organismen zu tödten und deren Wirkungen aufzuheben. Die oben erwähnten praktischen Erfolge würden also den theoretischen Erwartungen vollkommen entsprechen und wir dürfen mit Spannung weiteren Mittheilungen von den verschiedensten Seiten, da es ja an Beobachtungs-Material leider nirgends fehlt, entgegensehen. Nach einer kürzlich im „Bremer Handelsblatt" ver öffentlichten eingehenden statistischen Arbeit sind den gegenwärtig bestehenden 49 deutschen Lebensversicherungs anstalten, von denen 35 im deutschen Reiche, 12 in Deutschösterreich Und 2 in der deutschen Schweiz ihren Sitz haben, im Jahre 1878 wieder 77,128 Personen neu beigctreten und haben damit ihren Angehörigen Erbschaften im Betrage von 269,618,187 M. begründet. Im Ganzen waren am Schlüsse des vorigen Jahres bei den gedachten 49 Anstalten 775,771 Personen mit zusammen 2,428,367,947 M. versichert, wovon auf die älteste und größte Anstalt, auf die Lebensversicherungs bank für Deutschland in Gotha, 347,119,300 M., auf die „Germania" in Stettin 223,647,203 M, auf dis Leipziger Lebensversicherungsgesellschaft 137,670,350 M-, auf die „Concordia" in Cöln 136,142,785 M., auf die Stuttgarter Lebcnsverstchcrungs - und Ersparniß- bank 133,840,063 M., auf die Lübecker Gesellschaft 111,509,356 M. entfielen. Bei den obengenannten 6 größten deutschen Lebensverstcherungsanstalteu war somit zusammen mehr als 1 Milliarde Mark ver sichert. Nach Abzug der Sterbefälle und sonstigen Ab gänge ergab sich bei den sämmflichen 49 Anstalten im vorigen Jahre eine reine Zunahme des Per sicherungsbestandes um 92,413,210 M. Den stärkste» Antheil an diesem Reinznwachs hatte die Gothaer Lebensversicherungsbank mit 19,107,500 M.; ihr zu nächst stehen die Stuttgarter LebensversicherungS- und Ersparnißbank mit 12,787,464 M., die .Karlsruher Bersorgungsanstalt mit 11.940,549 M. und die Leipziger Lebensverstcherungsgesellschaft mit 8,672,450 M. Für gestorbene Versicherte wurden im Laufe des vorigen Jahres 35,327,789 M. anfällig; gewiß eine beträcht liche Summe, durch deren Auszahlung unzweifelhaft Tausenden von Witwen und Waisen das Fortkommen nach dem Tode ihrer Ernährer erleichtert worden ist.