Volltext Seite (XML)
4S. Jehrz. Sonnabend, 14. Juni 1890. !S! Beilage zum „Elbeblatt und Anzeiger" Tagesgeschichtc. Die „Hamb. Nachr." bringen einen Artikel, welcher die Uebe,schüft „Fürst Bismarck" trägt und flch mit der Meldung über daS vielbesprochene Rundschreiben beschäftigt, dessen Existenz jetzt von den verschiedensten Seiten als eine ganz zweifellose Thatsache bezeichnet wird. DaS Hamburger Blatt erklärt, diese Meldung bezweifeln zu müssen, weil man nicht glauben könne, daß di« maßgebenden kreise Mittheilungen hätten machen lasten, die doch nur Allbekanntes und Selbst verständliches enthalten würden und darum befremdlich erscheinen müßten. — Daß der Artikel indem er eine scharf« Antik an einer Maßnahme übt, welch-, wie sich jetzt herausstellt, auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers Verfügt wurde, an den leitenden Stellen böses Blut machen wird, kann wohl mit Sicherheit vo ausgesehen weiden. Der Eindruck wird um so ungünstiger sein, als er durch eine neue Unterredung, die der Fü'st nut dem bekannten Mitarbeiter des „Daily Telegraph" in London, dem Mr. Kingston, einem vielerfahienen Kriegs berichterstatter, kürzlich gehabt hat, noch verschärft «erden dürfte, denn hier hat der Fürst sich über die angebliche Unzweckmäßigkeit der gegenwärtigen Sozial politik noch rückhaltsloser geäuß rt, als in seinen Be sprechungen mit dem russischen Berichterstatter. Nach eurem dem „B. T." vorliegenden Bericht, hätte sich Fürst Bismarck gegen den Mitarbeiter deS „Daily Tele graph" folgender Maßen ausge'prochen. „Haben Sie je einen Millionär g kannt, der zuf ieden war? oder einen Gelehrten, Politiker, Künstler, Anwalt zufrieden mit seiner Stellung und seinen Einnahmen gefunden? Ich g he noch weiter und frage Sie: Haben Sie je einen zufriedenen Menschen gekannt? Ich meine unter den Rücken, den Erfolgreichen, den Hochgeborenen und Hochstehenden? Wie soll bann der Arbeiter zufrieden sein, besten Leben rothwendigerweise wenig Freuden und vi-lr Lasten, häufigen Mangel und nur selten Ueberfluß mit sich bringt! Angenommen, man giebt ihm zwanzig Mark täglich — in vierzehn Tagen wird es nicht mehr ge nug sein; dafür sorgt schon seine Frau, um ihn unzu frieden zu machen! Ze mehr dre Arbeiter bekommen, desto mehr verlangen sie. Ich sage nicht, daß dies unnatürlich ist, noch daß sie sich darin von anderen Menschen unterscheiden; aber die Thalsache bleibt be stehen. Sie wissen, wie ungeheuer, wie staunenswerth sich die Lage der Arbeiter während der letzten 50 Jahre geb.ffert. Sind sie dadurch auch nur einen Tag zu- friedengestellt worden? Man lasse doch, waS die Arbeiter noch bedrückt und ihnen Grund zur berechtigten Klage giebt, sich im natürlichen Verlaufe der Dinge selbst entwickeln, wie dies ja immer nach und nach geschieht. Lor oÜ<m aber lasse man die Arbeiter ihre Stellung selbst, ohne Einmischung des Staates verbessern, welche ihnen doch nur mehr schadet als nützt und außerdem unwiederbringlich eine Zahl anderer Leute schädigt, welche gleicher Berücksichtigung Werth find, wie der Arbeiter. Ich heiße es unverschämt und aufdringlich, dem Arbeiter vorzufchreiben, wie viele Stunden er täglich arbeiten soll, und ihm daS Recht zu rauben, über die brodge- winnende Beschäftigung seiner Kinder zu entscheiden. Man sagt, daß ich in Deutschland damit den Anfang gemacht hätte, sich in die Angelegenheiten des Arbeiters einzumischen, und daß ich damit begonnen, eine Art Stqats - Sozialismus einzuführen. Das ist aber durchaus nicht zutreffend. WaS ich that, lag in der Richtung der Wohlthätigkeit und nicht der Einmischung. Ich befürwortete, eine gewisse Vorsorge für den vom Alter geschwächten, oder durch Krankheiten und Un glücksfälle arbeitsunfähig gewordenen Arbeiter zu schassen. Ich glaube, daß in solchen Fällen etwas ge- than werden sollte, um den Arbeiter vor Hunger und äußerstem Elend zu bewahren. Ich dachte auch, eS sei wünschenswerth und im Jntereffe der Arbeiter- Nassen gelegen, daß die Verwaltung und Kontrole der zu diesem Behuf« gesammelten Fonds den Händen bürcaukratischer Beamten abgenommeo und an selbst ständige Genosseuschaften übertragen werde; ich wollte auf diese Weise die Entwicklung deS Genossenschafts wesens und deS Unternehmungsgeistes unter unseren Arbeiterklassen fördern. Ich wollte sie von der amt lichen Einschränkung und Bevormundung befreien, sie in der Selbsthilfe und dem Gefühle männlicher Unab hängigkeit erziehen, und sie zugleich mit dem Bewußt sein erfüllen, daß sie gegen die schlimmsten Lebens schicksale: Krankheit, Verkrüppelung, und daS durch die Noch verbitterte Alter gefeit seien. Als ich meine Pläne zuerst Wilhelm I. empfahl, verstand er sie nicht sofort in ihrer ganzen Tragweite; als sie ihm aber vollständig klar und einleuchtend geworden waren, er ¬ faßte er sie begierig, und »ährend seiner letzten Lebens jahre bildete die Ausführung dieser Pläne seine» Lieblingsgedanken. Niemand war mehr interesstrt an der Sache und besorgt für ihr Gelingen, als er. Allein die Arbeiter auf dem Wege gesetzlicher Be stimmungen zufrieden machen zu wollen, ist eine bloße phantastische Uebertreibung — ein Phantom, daS unS entwischt und sich nicht fasten läßt, wenn man ihm nahe kommt. Wenn eS möglich wäre, die Menschen zufrieden zu machen, so wäre dies ein Unglück. WaS wäre verhängnißvoller, als ein allgemeines Niveau deS Zufriedenseins, daS jedes Vorwärtsstreben und den Ehrgeiz ersticken, den Fortschritt lähmen und die moralische Stagnation herbeiführen müßte? Biel nützliche Arbeit bleibt aber zu thun übrig, und zwar in der Richtung des gewerblichen Unterrichts der Arbeiter, ihrer Befreiung von den Fesseln der sie be mutternden Bureaukratie, in der Anregung zur gedeih lichen Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten, und in der Sicherung ihrer eigenen Internsten durch gesetz liche und die Ordnung wahrende Mittel, anstatt der jetzt üblichen Kriegführung gegen rhre A bütsgeber. Kapital und Arbeit sollten die besten Freunde sein, und st; wären es auch, wenn sie sich nicht gegenseitig übervortheilen wollten. Das ist aber menschlich, und wir können nicht hoff-n, die menschliche Natur zu ändern Die R chte des Kapitals sind aber gleichfalls vorhanden und muffen ebenso geachtet werden, wie jene d-r Arbeit. Wir dürfen dies nicht vergessen!" Schließlich hätte sich der Fürst über seinen Amtsnach folger wieder sehr lobend ausgesprochen. General Cap ivi sei ein vo trefflicher Soldat, ein Mann von außer ordentlicher Intelligenz und umfassendem W st n — vor Allem ein vollendeter Gentleman. Er sei überzeugt, daß Caprivi seine Ernennung zum Reichs kanzler als vollständige Ueberraschung kam, daß er den Posten, nur von einem edlen und loyalen Pflichtgefühl geleitet, übernahm, und daß ihm alles über hebende ehrgeizige Streben fremd ist. Er hat einen klaren Kops, ein gutes Herz, eine großmüthige Natur und eine große Arbeitskraft. AlleS zusammengenommen, sei er u kirst clL88 merra. Deutsches Rtich. Der Kaiser traf am Mitt woch Vormittag mit dem Aronp inzen von Italien, dem Prinzen und der Prinzessin Heinrich, dem Prinzen Fiiedrich Leopold in Berlin ein und begab sich nach dem Invaliden park, um der feierlichen Grundsteinlegung der neuen Kirche zum Gedächtniß der Kaiserin Augusta beizuwohnen. Der Kaiser konferirte später mit dem Reichskanzler v. Caprivi und arbeitete darauf mit dem Kriegsminister. Ueber die Reisedispositionen des Kaiser- erfährt man, daß derselbe am 25. Juni, Morgens, in Kiel eintreffen und bis zum 27. Juni im dortigen Schlosse Wohnung nehmen will. Am 26. Juni wird der Kaiser der Regatta des Marine-Regatta-Vereins beiwohnen und am 27. an Bord des „Kaiser" in Begleitung der Manöver flotte nach Helsingör in See gehen. Der Kaiser übernahm das Protektorat über die zum Gedächtniß Wilhelms I. und Friedrichs III. geplante Oberlausitzer Ruhmeshalle. Kaiserin Friedrich trifft am 14. d. zu längerem Aufenthalt in Berlin ein. Gerüchte von einer Dreikaiserbegegnung tauchen wieder auf; so meldet man auS Pest, daß als Ort der Begegung der Kaiser von Deutschland und von Oesterreich-Ungarn mit dem Zaren, falls eine solche, wie mehrfach gemuthmaßt werde, stottfinden würde, Liegnitz auSersehen sei. — Diese Gerüchte sind sehr bestätigung-bedürftig. Der Chef deS GeneralstabeS der Armee, General Graf Waldersee, hat sich nach Liegnitz begeben, um die endgültigen Bestimmungen wegen der Kaiser manöver zu treffen. Hieran wird sich die große Generalstabsreise anschließen, die unter seiner Leitung bis etwa Ende Juni in der Grafschaft Glatz stattfindet. Die nordschleSwigschen Dänen planen eine Kund gebung gelegentlich der im Herbst stattfindenden An wesenheit deS KaiserpaareS. „FlenSb. Avis" theilt mit, daß eS sich bei einer unlängst abgehaltenen Fahrerversammlung um die Haltung der Partei während deS bevorstehenden KaisermariöverS und der Anwesenheit unseres KaiserpaareS gehandelt habe, und daß seitens der Parteiführer bestimmte Pläne hierfür inS Auge gefaßt seien, welche jedoch derzeit noch nicht verrathen werden sollte». Petitionen in großer Zahl sind im Reichstag nach dem soeben erschienenen Petitionsverzeichniß einge- gungrn sür Aushebung deS Impfzwang-, für Be ¬ schränkung d«S HaufikgewrrbeS, für Erlaß einer Novelle zum Patentgesetz, sowie zur GewerbeoidnungSoovelle. Line Anzahl laudwirthschaftlicher Vereine auS Schleswig- Holstein bittet um den Erlaß eines Zusatzes zu» UnterstützungSwohnsitzgesetz dahin, daß die Versorgung rc. der beim Bau deS Nord-OstseekanalS verarmende« Arbeiter vom Reiche übernommen werde. Die persönlich zugespitzten Streitigkeiten innerhalb der deutschfreifinnigen Partei sind nunmehr gütlich bei gelegt worden. Vom Reichstag. Im Reichstage wurde am Mittwoch der Antrag Auer auf Ergänzung deS Uo- fallversicherungSgesetzeS berathen. Die Antragsteller zogen denselben jedoch, nachdem Staatssekretär v. Bötticher für die nächste Session eine Novelle zum Unfallver sicherungsgesetz in Aussicht gestellt hatte, zurück. Bei der darauf erfolgenden Berathung über den Antrag Biömel auf Entscheidung von Zollstrcitigkeiten im Rechtswege oder durch verwaltungsgerichtliches Ver fahren vertagte sich das HauS nach einer Begründung des Antrages durch den Antragsteller und nach einer kurzen Eiöcterung über denselben mit Rücksicht auf die am Nachmittage statlfindende Leichenfeier für de« verstorbenen Abg. v. Wedell-Malchow. —Am Donners tag wurde die Berathung des Antrages deS Abg. B öiwl. betreffend die Entscheidung von Rechtsfragen in Zollsachen, fortgesetzt und nach der Befürwortung durch die Abgeordneten Goldschmidt, Hammacher, Rinteln und Schumacher mit großer Mehrheit angenommen. Alsdann folgte die zweite Berathung des NachtragS- etars sür Ostafrika. Der Abg. Windthorst erklärte, sein Standpunkt sei unverändert der früher von Bis marck dargelegte, er wolle den Reichsschutz für die in fremden Ländern angrsiedelten Gesellschaften, nicht aber K oncolonien; es sei unklar, ob die Ostafrikanische Ge sellschaft künftig leistungsfähig sei. Nach der Zusicherung des Staatssekretär« v. Bieberstein über die demnächstige Vorlegung eines vollständigen Programms sehe er davon ab, die Rückverweisung der Vorlage an die Commission zu beantragen; man würde das Ansehen deS deutschen Namens vor der ganzen Welt herabsetzeu, wenn man sich jetzt auS Afrika zurückziehen «olle; eS wäre freilich bester gewesen, damit gar nicht anzu fangen, die Folgen deS einmal gethauen Schrittes müsse man aber auf sich nehmen. Redner wünschte schließlich, daß wesentlich deutsche Missionare in Afrika wirkten, und für deren Vorbildung geeignete Anstalten in Deutschland geschaffen würden. Der Abg. Frege ist für die Vorlage. Der Abg. Dohrn kommt auf daS schädliche Klima Ostafrikas zurück. Der Abg. Ham macher wies die Behauptung zurück, die Deutschen interesstrten sich für die Colonialunternehmungen nicht. Die Behauptung sei unzutreffend, daß die Colonial politik eine Parteisache der Nationalliberalen sei. Alle Parteien seien daran bcthciligt, jeder einsichtsvolle Kaufmann in den Seestädten verfolge eifrigst die Ent wickelung der zielbewußten deutschen Colonialpolitik; keineswegs falle daS Inter, st- der deutsch-ostafrikanischen Colonien mit dem Jntereffe der deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft zusammen, man könne der letzteren also nicht zumuthen, alle Ausgaben für Aufgaben zu tragen, die sie sich gar nicht gestellt habe. Der Abg. HauS- mann lBolkspartei) sagt, Deutschland dürfe von der Aufgabe, fremden Nationen die abendländische Cultur mitzutheilen, nicht ausgeschlossen sein. Der Abgeordnete Meyer (Berlin) meinte, die Freisinnigen stünden noch auf dem ersten Colonialprogramm, dem Colonialvro- gramm Bismarck, welches jede Colonisation nach französischem Muster ausschloß; die Thätigkeit der Hanseaten habe Deutschland großen Nutzen und in die Reihe der Seemächte gebracht, das sei echt deutsche Colonialpolitik, fern von der französischen; mit der Flinte und Bibel allein gehe es nicht, der Hauptpunkt sei der Handel. Der civilisatorischen Thätigkeit des Handels müsse man freie Bahn lasten, dürfe dieselbe aber nicht in falsche Bahnen lenken. Nach einer Reihe persönlicher Bemerkungen ward die Forderung von 4^/, Millionen für Ostafrika und der Rest deS Nach- tragsetatS genehmigt. Oesterreich-Ungarn. In der Berathung deS auswärtigen Ausschusses der ungarischen Delegation erklärte Graf Kalnoky, die Anerkennung deS Prinzen Ferdinand von Kokung stehe für die Regierung trotz der großen Wichtigkeit der Frage in zweiter Linie. Oesterreich-Ungarn such? anf der Balkanhalbinsel lediglich die möglichst« Kräftigung und Förderung der Selbstständigkeit der dortigen Staaten. Auch Serbien gegenüber kann der Minister der Anregung auf Er greifung schärferer Maßregeln gegen Serbien nicht beipflichten.