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Beilage zum „Mbeblatt und Anzeiger". iss. Sonnabend, den 30. August 1890. Tagesgeschichte. Ist eS die Bedeutung de» Fürsten BiSmar« an , sich, — ist cs trotz seines Rücktritts der Parteien Haß 'S und Gunst, — ist eS daS nicht ganz gewöhnliche vcr- i halten des ehemalige» Reichskanzler» seit dem März > — »der ist e» füglich die an positiven Nachrichten j und sonstigen Z-itungsstofs etwa» arme Zeit — genug: die Blätter beschäftigen sich unausgesetzt mit dem Fürsten ' BiSmarck und die Mittheilungen und Aeußerungen desselben begegnen stets einem hervorragenden Interesse. ! Bekanntlich weilt der Fürst z. Z. in Kissinger, und wird i dem Vernehmen nach der Kuraufenthalt dortselbst noch bis Ende d. M. anbauern und der Fürst zunächst nach ! Larzin reisen, um von dort erst nach Friedrichsruh zu- j rückzukehren. Am Sonntag hatten zwei Schweizer, : Kissinger Kurgäste (Stadtrath Schlatter und Oberst lieutenant Huber, beide aus Zürich), die Ehre, mit? dem Fürsten zu frühstücken. Außer jenen Beiden ! »ahmen an dem Frühstück Dr. Schweninger und Chry- ! sander Theil. Ueder die Neutralität der Schweiz im Falle eines neuen Krieges sagte der Fürst: Deutschland wird die Neutralität der Schweiz respectiren. Ob auch Frankreich, steht dahin. Bricht Frankreich die Neu tralität, so hoffe ich, wird die Schweiz an unserer Seite sein und mit uns siegen. Die schweizerischen Truppe» sind nicht zu verachten, sie haben sich immer gut geschlagen und stehen fest im Feuer. Auf die ihm von den Schweizern vorgelegte Frage, was er von der schweizerischen Sozialpolitik rin Gegensatz zur deutschen halte und ob er glaube, daß jene, welche durch Auf stellung des Arbeite,secretärs eine vermittelnde Haltung zwischen Arbeit «nd Capital anzubahnen suche, Aus sichten auf Erfolg in Lösung der sozialen Frage haben werde, erwiderte Fürst Bismarck: Für ihre Staats form mag das gehen, für die Monarchie geht es nicht. Die Monarchie giebt sich selbst auf, wenn sie sich auf die Arbeitermassen stützen will. Wir dürfen nicht mit Denen paktireu, die durch Streiks, du^ch Drohung mit Niederlegung der Arbeit u. A. einen Druck auszuüben suchen. Das ist wie eine Nebelwand: wenn man sich ihr nähert, bann w icht sie zurück und man greift ins Leere. Nach dem Dessert entwickelte der Fürst die Gründe, weshalb Deutschland keine Eroberungspolitik treiben wolle und könne, wobei er die sämmtlichen Nachbarstaaten, Frankreich, Holland, Dänemark, die Ostseeprovinzen und Oesterreich, endlich auch die Schweiz Revue passtren ließ. Um >/,2 Uhr hob der Fürst die Tafel auf und entließ die beiden Gäste in freundlichster Weise. Um 5 Uhr gleichen Sonntags folgte Fürst Bismarck einer Einladung des Regierungspräsidenten Trafen Luxburg auf Schloß Aschach zum Ess-n. Da zu waren auch u. A. geladen der deutsche Botschafter in Madrid, Freiherr v. Stumm, mit Gemahlin und Graf «nd Gräfin Henckel-TonnerSmarck, derzeit Kur gäste in Bad Krsstngen. Ganz erstaunlich ist des Fürsten Frische und Elasticität. Er trägt seine 75 Jahre wie ein hoher Fünfziger. Seine Bewegungen z. B. bei der Tafel sind von einer Sicherheit, Leichtig keit und Anmuth, die einem jungen Cavalier Ehre machen würden. Die Kissinger fahren fort, ihn mit Huldigungen zu bestürmen, wo er sich auch nur zeigt. Auf die Bemerkung eines Herrn aus seiner Umgebung, ob ihm dies manchmal nicht lästig sei, sagte der Fürst: „Keineswegs. Die Leute meinen eS gut mit mir." Mitunter wird es aber toch etwas zu viel. So z. B. lassen ihm namentlich die Photographen auf Spazier gängen keine Ruhe. Deutsches Reich. Mittwoch Abend traf Kaiser Wilhelm im Neuen Palais bei Potsdam wieder ein. Die Prinzessin Viktoria von Preußen, Braut des Prinzen Adolf von Schaumburg-Lippe, wird, wie ver lautet, eine Million Mark Mitgift nebst einer Jahresrente von 75,000 Mark erhalten. Der Kaiser soll seiner Schwester außerdem auch noch eine bedeutende Jahres rente auSgesetzt haben. Ueber die Reichsfinanzlage hatte der Staatssekretär v. Maltzahn Besprechungen mit den Finauzministern Bayerns, Badens und Württembergs, da hierüber Meinungsverschiedenheiten bestanden haben sollen. Es dürfte in den fraglichen Konferenzen eine Verständigung dahin erfolgt sein, daß die laufende Reichstagssession, deren Fortsetzung im November bevorsieht, mit Steuer fragen nicht befaßt werden wird. Nachdem der Bnndesrath wieder seine regelmäßige Thätizkeit ausgenommen haben wird, werden ihn jeden falls schon in der ersten Zeit seiner Berathung 2 Vor lagen beschäftigen, welche sich auf die Durchführung des JnvaliditätS- und Alter-versicherungSzesetzeS be ¬ ziehen. ES sind die» 2 kaiserlich« Verordnungen, von denen die eine da» Verfahren vor den Schiedsgerichten, die andere die Formen deS Verfahrens und den Ge schäftsgang deS ReichSverstterungSamtS regelt. Dem Bericht der „KgSb. Hart. Ztg." über den Aufenthalt Kaiser Wilhelm'S in Memel entnehmen wir folgende Schilderung: „Der Kaiser ist, »ährend er langsam die Ehrenpforten durchschreitet, überallhin vortrefflich sichtbar: er trägt, den weiten Mantel offen lastend, den Ucberrock Les 1. Sarde- Regiments, dazu dessen weißbescklagenen Helm und, wie auch sämmtliche Herren Les Gefolges, hohe Stiefel. Die SesichtS- sarbc ist gesund, wen» auch, als Folge der anstrengenden Seefahrt, anscheinend etwa» blaß, die Haltuna ist die gewohnt kräftige, dabei ungezwungene, die Miene ernst, nur dann und wann von. einem Aufleuchten »er Züge erbellt. Er besteigt den zw ispännigen offenen Wsqen. den nebst den Trakehnern der Mar stall hcrgelchickt hat, Regierungs-Präsident, Landratb und Ober - Bürgermeister fahren voraus, und nun gebt es unter dem unausgesetzten Jubel und Tücherschwenken der Menae vom Ballastplatz durch die Holzstraße, über den Markt de Markt-, Friedrich-Wilhelm-. Luisen-. Libauerftraße n'ch Tauerlauken, wo die von der Königin Luise gepflanzte Linde steht. Es war bereits recht spät geworden, als der Kaiser hier eintras. Auf dem freien Platze nabe der Kaisereiche wurde Se. Majestät von dem Srundberrn von Klein-Tauer lauken, Gutsbesitzer Sauthoff, emptangen und geleitet. Der Kaiser erkundiate sich bei Herrn Sautboff über den Ausfall und die Einbringung der LieSjäbrigen Ernte, über besten Familienvcrbältniste und 'ragte, wie lange er Besitzer von Tauerlauken sei und welche vewandtniß es mit der Kaffereiche bade, und hörte mit Interesse, daß dieses der LieblingSaufent- balt der königl. Familie im Jahre 1807 gewesen, daß auch der Geburtstag seiner Ahnherrn Friedrich Wilhelm III., von der königl. Familie daselbst gefeiert worden sei. und nahm schließlich einen Kranz geflochten aus Blättern der Kaisereiche, aus den Händen des Herrn S. entgegen. Sodann bat der ReaierungSvräsident. daß Se. Majestät sich noch eine kleine Huldigungsfcier welche die littauische Bevölkerung ver'nftaltct hatte, gefallen lasten möge. Eine Anzabl berittener Littauer- innen fang einige patriotische Lieder. 8ne derselben trug auch ein Gedacht m littau scher Sprache vor. gleichzeitig wurde ein m t deutscher ilebersetzung gedrucktes Exemplar diese- Ge dichts dem Kaiser überreicht. Schließlich nahte sich eine Littauerin und bot dem Kaiser nach LandeSgebrauch ein Paar ihrer selbstgestrickten Handschube zum Geschenk. Als nun der Kaiser dieses Geschenk huldvollst und dankend entgegenge nommen hatte, kam auch noch eine zweite dritte, vierte, eine ganze Anzahl mit Handschuhen, eine Littauerin brachte auch einige Paare für die Kaiserkinder. „Ja", meinte der Kaiser, „dar find warme Handschuhe und gut für den Winter", und schließlich hatte der Kaiser einen ganzen Arm voller Hand schuhe. Damit empfahl sich Se. Majestät von dem Gutsbe sitzer von Tauerlauken und trat gegen 7'/, Uhr die Rückfahrt nach Memel an. Der deutsch-tü'kische Handelsvertrag ist am Dienstag in Konstantinopel von dem deutschen Botschafter von Radowitz, dem Generalkonsul Gillet und dem Minister des Auswärtigen Said Pascha unterzeichnet worden. Der ungarische Abgeordnete Emil Nbranyi, der vom Fürsten Bismarck in Kisstnqen nicht empfangen worden ist, bot jetzt an denselben ein konfus-poetischeS Schreiben gerichtet, welches fast den Eindruck macht, als ob Abranyi mehr der Phantasie, als der Wirklichkeit Rechnung trüge. Es wäre daher gar nicht so wunderbar, wenn auch seine angebliche Unterredung mit dem Fürsten lediglich ein Produkt dieser Phantasie wäre. Vom preuß. Eisenbahn Ministerium wird auch für die nächste LandtagSsesfio« wie für die vorhergehenden ein Gesetzentwurf über Ergänzung und E-weiterung der bestehenden Eisenbahnen durch Legung neuer Geleise, Herstellung von BahnhofSeinrichtungen, Vermehrung des rollenden Materials vorbereitet ; ebenso wird eine Erweiterung des Netzes der Bahnen untergeordneter Bedeutung geplant. Auf der Insel Helgoland soll auch eine Reichs bank-Nebenstelle eingerichtet werden; eS ist bereits bei Beamten angefragt worden, ob sie dorthin versetzt werden wollten. Der deutsche Forst-Kongreß, welcher zur Zeit in Kassel tagt, bat als Versammlungsort für 1891 Karls ruhe, für 1892 vorläufig Stettin gewählt. Es verlautet, daß Dr. PeterS in den Reichsdienst übernommen werden soll, und zwar vermuthct man, daß ihm das Konsulat in Sansibar übertragen wird. Dem „Hamb. Korr." zufolge verlautet in Peters burg, daß Herr ». Caprivi und Herr GicrS eine An regung zu internationalen Maßnahmen gegen die Anarchisten und Nihilisten vorbereitet bätten. Der RegierungSp'üsident in Oppeln hat die Einfuhr von lebenden Schweinen auS Oesterreich-Ungarn in die öffentlichen Schlachthäuser zu Beuthen, Gleiwitz, MySlo- witz, Oppeln, Ratibor und Rybnik bis auf Weiteres unter der Bedingung gestattet, daß der Ursprung der einzuführenden Schweine nachgewiefen werde, und daß die Schweine an den Grenzeingangsstellen Oderberg, Szczakowa und Dzieditz durch einen preußischen be amteten Thierarzt untersucht würden. Oesterreich-Ungaru. Kaiser Franz Joseph 48. Jahr«. ». U», von Oesterreich wird, Breslauer Meldungen zufolge, am 17. September Mittags 1 Uhr, von Böhme» kommend, auf dem Ober schlesischen Bahnhofe in BreSla» eintreffen, bei der Kaiserin im königlichen Schlosse da» Diner einnehmen und um 3 Uhr mit der Eisenbahn seine Reise nach Rohnfiock fortsetze». Der böhmische Ausgleich ist bereits so gut N»ie gescheitert, die Jungtschechen treten in schärfster Weise gegen ihn auf. Am Sonntag hielt ihr Führer Greg« in Chotzen eine Rede, wie man sie so heftig noch nie mals gehört, und schwang gegen Deutsche, Alttscheche« und Regierung die Streitaxt mit solcher Erbitterung, daß der RegierungSvertreter ihn wiederholt auffordert^ sich zu mäßigen. Dabei wurden Herrn Rieger, de» ehemaligen „Vater der tschechischen Nation", zahllose Verwünschungen dargebracht und seine Anhänger wurde» als „Lumpen" bezeichnet. Frankreich. Das Projekt, Paris durch einen Kanal mit dem Meere zu verbinden, findet in der Provinz heftigen Widerspruch. Namentlich aus Havre und Rouen sind energische Proteste gegen dieses Unter nehmen eingelaufen. England. Ueber den Gesundheitszustand de» Prinzen Albert Viktor, des ältesten Sohnes des Prinzen von Wales, laufen sehr beunruhigende Gerüchte u». Balkanftaaten. Exkönig Milan hat, wie auS Belgrad gemeldet wird, seine angekündigte Reise in» Ausland aus finanziellen Rücksichten aufschieben müssen, da sich die Regierung weigert, ihm größere Summen vorzustrecken oder gar für seine Schulden aufzukomme». Die Königin-Mutter Natalie gedenkt vorläufig Serbie» nicht zu verlassen, sondern ihren ständigen Wohnsitz hier zu nehmen. Spanien. Ueber Attentate auf Aerzte in den Choleradistrikten der Provinz Valencia wird aus Madrid geschrieben: Bei der Bevölkerung dieser Gegend, welche unter der Einwirkung der seit Monaten dort wüthen- den Seuche fast völlig demoralistrt ist, hat eine kaum begreifliche Erbitterung gegen die Aerzte Platz gegriffen, welche als die Urheber der Krankheit bezeichnet werben. Biele der Leute erklären, die Cholera existire gar nicht, und die Aerzte behaupteten ihr Vorhandensein nur deshalb, um die arme Bevölkerung auSzubeuten, um die Reichen aus der Provinz zu vertreiben und die Grundstücke zu Gunsten einer Spekulationsgesillschaft zu entweichen. An anderen Stellen klagt man die Aerzte an, sie hätten durch voreilige Desinfektion die Krankheit nach Orten verpflanzt, wo bis dahin noch kein Keim der Cholera vorhanden gewesen sei. Diese thörichten Verdächtigungen haben auch thatsächlich eine» solchen Haß gegen die Aerzte hervorgerufen, daß am vorigen Sonntag Abend in der Stadt Valencia einer der bekanntesten Aerzte, der seit Wochen mit uner müdlichem Eifer die Desinfektion der ärmeren Stadt viertel geleitet hatte, auf offener Straße niedergestochen wurde, ohne daß man von dem Thäter eine Spur entdeckte. Schon 2 Tage darauf kam aus Lerda die Nachricht, daß dort ein Arzt von einer Frau, deren Kinder der Cholera erlagen, mit einem Beile dermaßen geschlagen wurde, daß er Tags darauf verstarb. In einem dritten Orte endlich, in Mogento, wurde eia Arzt von S Männern überfallen und mit Knütteln in der rohesten Weise mißhandelt. In den spanischen Regierungskreisen ist man rathlos, wie einem solchen Jrrwahne entgegenzutrcten sei. Belgien. Die Lage im belgischen Streikgebiet ist unverändert. Die Arbeiter der Kohlengruben deS Grand-Buisson in Hornu haben sich ebenfalls dem Streik angeschlossen. In Bouverie und Paturages am Dienstag abgehaltene Meetings haben unter Theilnahme von 3500 Arbeitern R-soluiionen für Einführung des allgemeinen Stimmrechts gefaßt und beschlossen, den Streik bis zum Beußersten fortzusetzen. Rußland. Die grundlose Meldung, baß Präsident Carnot vom Zaren mit dem St. AndreaS-Orden dekorirt worden sei, berührt die Petersburger leitenden Kreise sehr peinlich. Man vermuthct hinter den lügenhaften Meldungen Machinationen russischer Franzosenfreunde. Wie von gut unterrichteter Seite Versichert wird, äußerte sich Kaiser Alexander sehr abfällig über die Taktlosig keit, ein« derartige Meldung gerade in dem Moment zu verbreiten, wo der deutsche Kaiser sein Gast sei. Amerika. Der Krieg zwischen Guatemala und San Salvador wird fortgesetzt. Nach aus Mexiko stammenden Nachrichten hat General Ezeta abgelehnt, das Friedensprotokoll mit Guatemala zu unterzeichnen. Infolgedessen erhielten die guatemaltekischen Streitkräfte Befehl, gegen San Salvador vorzurücken. Das diplo matische Korps hatte einen neuen Aufschub der Wieder-