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Kreisen eifrig gelesen wurde und viele reiche und fürstliche Per sönlichkeiten sich eine Abschrift davon besorgen ließen, so sind denn auch die meisten Handschriften mit Miniaturen geziert. Und welch ein weites, von den üblichen Darstellungsszenen abweichendes Feld bot sich hier dem Künstler, für einen originellen Geist von gestaltungsreicher Erfindungsgabe so recht geeignet, etwas wirklich Neues und Schönes zu schaffen! Eine recht illustre Gesellschaft ist es, die uns der Künstler vorführt, Adam und Eva eröffnen den Reigen; es folgen dann Nimrod, Cadmus, Samson, Meleager, Agamemnon, Saul, Dido, Manlius Capitolinus, Croesus, Jugurtha, Hannibal, Darius, Antiochus, Diocletian, Zenobia usw. bis hinauf zur Amme des Königs Robert des Weisen von Neapel, Philippa von Catania, die Boccaccio am Hofe von Neapel vielleicht persön lich kennen gelernt hatte. Aus den einfachsten Verhältnissen zu hohen Ehren emporgestiegen, wurde sie später mit ihren beiden Kindern nach den grausamsten Qualen in Neapel verbrannt. Am Anfang von einigen der neun Bücher zeigt uns der Künstler Boccaccio mit der Abfassung seines Werkes beschäftigt, vor ihm teils stehend, teils sitzend die bunte Schar der meist ge krönten Häupter, deren unglückliches Geschick er jetzt beschreiben will, Leid und Kummer im Antlitz, und auf den Einzeldarstellungen sehen wir dann jeweils, welch tragisches Ende diese gekrönten und hochgestellten Männer und Frauen genommen haben. Es sind Bilder von wahrhaft ergreifender Wirkung. Wie nehmen sich diese figurenreichen und hochdramatischen Szenen aus gegenüber den Holzschnitten der ersten französischen Ausgabe von 1843! Und welchen Eindruck mußte diese Bilderfolge auf den Beschauer machen, selbst wenn er des Lesens unkundig war, in einer Zeit, wo das religiöse Empfinden noch tief wurzelte und man mystisch asketischen Regungen so leicht zugänglich war! Gar mancher mochte da an das Wort der Schrift erinnert werden: Vanitas vauitatum st omnia vauitas. Man erzählt, daß der Herzog Karl von Orleans, der als Gefangener in England weilte, sich ein Exemplar von Boccaccio's Werk kommen ließ, um mit der Lektüre seiner Schicksalsgenossen in seiner Einsamkeit die Zeit zu verkürzen. Die Reihe der Miniaturen wird durch eine ganzseitige Dar stellung eröffnet, die in keiner andern Abschrift ein Analogon aufzuweisen hat. Sie bezieht sich nicht auf den Text, sondern hat ein Ereignis zum Gegenstand, das eben in dem Jahre, in dem die Handschrift für Laurens Gyrard angefertigt wurde, in Frankreich großes Aussehen erregte. Es ist eine jener feierlichen Versammlungen, die man mit dem Namen »lat äs justios« bezeichnet, die unter dem Vorsitze des Königs Karl VII, zu Vendöme gehalten und in der das Todesurteil über einen der reichsten und angesehensten Prinzen des französischen Königshauses ausgesprochen wurde, über den Herzog Johann von Alenqon, der beschuldigt war, mit England gegen Frankreich gemeinsame Sache gemacht zu haben. Gewiß eine sehr zeitgemäße Ein leitung zu den Oas äss nobiss bowmss st kswmss. Die übrigen Miniaturen stehen alle in innigem Zusammenhang mit dem Text, Am Anfang der Dedikation und zu Beginn eines jeden der neun Bücher befindet sich eine große Miniatur; die übrigen achtzig kleinen dienen zur Illustration der in den ein zelnen Kapiteln berichteten historischen Tatsachen, Die zehn Seiten, die die großen Miniaturen tragen, sind außerdem mit reichen Bordüren umgeben. Oft sind auf einer Miniatur mehrere Szenen dargestellt, die alle die gleiche Persönlichkeit betreffen und in glücklicher Anordnung vereinigt sind. Gerade hierin zeigt sich die Meisterschaft des Künstlers, diese kleinen, szenen reichen, bis ins kleinste Detail aufs genaueste ausgeführten Darstellungen verdienen unsere vollste Bewunderung. Wie viel Leben und Bewegung ist da oft aus einem winzig kleinen Raum vereinigt! Besonders den zahlreichen Schlachtenbildern mit ihren bewegten Kämpfen, im einzelnen oft von fast mikroskopischen Ver hältnissen, wird man nicht leicht etwas Ähnliches an die Seite stellen können. Die Kostüme, die der Künstler seinen Personen gibt, die Architektur der Gebäude, in oder vor denen seine Handlungen vor sich gehen, weisen uns nach Frankreich und Italien. Die Krieger tragen die französischen Rüstungen des fünfzehnten Jahrhunderts, ganz gleich, in welcher Zeit die Ereignisse sich abspielen; auf den Schildern der römischen Feldherren liest man das 8. l>. tz, k. Versetzt uns die Handlung in den Orient, wie bei dem Bau des babylonischen Turmes oder bei der Geschichte Samsons, so werden die Kostüme mehr oder weniger jüdischen und türkischen Vorbildern entlehnt. Doch herrschen im ganzen die französischen Kostüme vor. Die Architektur zeigt uns teils so recht das Frankreich zur Zeit des Laurens Gyrard, teils den klassischen Stil der italienischen Renaissance des sünf- zehnten Jahrhunderts. Nicht selten sieht man die antiken Bauten Roms, so wie sie sich um diese Zeit dem Beschauer boten. Immer aber steht die jeweilige Architekturgattung, die der Künstler verwendet, im Einklang mit dem Boden, auf dem das Ereignis spielt. Was bei den architektonischen Ge bilden und namentlich bei den meisterhaft hingezauberten Land schaften noch besonders zu beachten ist, ist eine für jene frühe Epoche wahrhaft glückliche Lösung der Perspektive. Diese ab wechslungsreichen Landschaften aus so kleinem Raum sind so reizender Natur und bringen einen so wunderbaren Effekt her vor, daß sie, in ihrer Eigenart gewürdigt, den Werken deutscher und holländischer Meister im sechzehnten und siebzehnten Jahr hundert unbedenklich an die Seite gestellt werden dürfen. Und dennoch zwingt ein genaueres Studium des Originals zu der Annahme, daß hier mehr als eine Hand tätig gewesen. Sind auch die meisten Miniaturen von meisterhafter Ausführung, so gibt es doch bei anderen Verschiedenes auszusetzen. Man sieht sich hier einer Tatsache gegenüber, wie sie in der Geschichte der Kunst nicht selten vorkommt: der Meister überläßt einen Teil der Ausführung der ihm aufgetragenen Arbeit seinen Schülern. So wird es auch bei der Illustration des Münchener Boccaccio ge wesen sein. Nur so erklärt sich die Einheit in der ganzen Anlage und Komposition und die da und dort sich zeigende Ungleichheit in der Ausführung. Immer aber bilden die Miniaturen des Boccaccio eine wahre, mit feinstem Kunstverständnis zusammen gestellte Gemäldegalerie, deren abwechslungsreiche Stoffe uns bald in das Frankreich um die Mitte des fünfzehnten Jahr hunderts, bald in das Italien der gleichen Zeit versetzen. Es sind Blätter von höchstem Interesse für die Geschichte der Kunst, und besonders einige von ihnen bilden Dokumente ersten Ranges für die Geschichte der Darstellung von Landschaften der »ksiutres xriraitiks«. Diese interessante Bilderfolge wird auch den Literar historiker interessieren, der sich gern ein Bild davon machen möchte, wie das Altertum von Boccaccio und den Franzosen des fünfzehnten Jahrhunderts aufgefaßt wurde. Der gewöhnliche Leser selbst wird hier eine Art Bilderbuch finden, das die Erinnerung an seine klassischen Studien auffrischen und fort während seinen Geist in Spannung halten wird. Wer ist nun der Schöpfer dieses herrlichen Werkes gewesen? Graf Lson de Laborde hatte schon 1840 bei einer Besichtigung des Münchener Boccaccio die schönsten Miniaturen für Jean Foucquet in Anspruch genommen, und diese Meinung wurde von dem deutschen Kunsthistoriker Waagen geteilt. Letzterer hatte nämlich bereits die Ilsurss des Etienne Chevalier, von denen weiter oben die Rede war, in Verbindung gebracht mit einer Handschrift der ^.ntiguitss luäai'quss in der Libliotbsqus nationale zu Paris, deren Miniaturen durch ein Dokument als von Jean Foucquet herrührend beglaubigt sind, und wies so 1837 die Miniaturen der Ilsurss des Etienne Chevalier,diesem ebenfalls zu. Durch Vergleich kam man weiter zu dem Schlüsse, daß der Münchener Boccaccio, in der Hauptsache wenigstens, nicht minder ein Werk von Jean Foucquet sein müsse. Gerade Graf Durrieu war für den Ausbau dieser Beweisführung, besonders geeignet, da er über die ^.ntiquitss luäai'guss, das einzige beglaubigte Werk von Jean Foucquet, einen ausführlichen Band veröffentlicht hatte (Paris 1908) und, da die Ilsurss des Etienne Chevalier doch auch anonym sind und nirgends von dem Namen des Künstlers die Rede ist, eine Brücke von den ^.ntiguitös luäaüquss zu dem Münchener Boccaccio geschlagen werden mußte. Der Vergleichungspunkte in den Miniaturen dieser beiden Handschriften gibt es denn auch sehr viele. So sind z. B. die Ge stalten der Krieger so ähnlich, daß, wenn man aus beiden Manu skripten entsprechende Miniaturen herausnähme, man nicht mehr be stimmen könnte, welchem von beiden sie angehört hatten. Die Arbeiter, die im Boccaccio den Turm von Babylon erbauen, sind die gleichen wie die beim Tempelbau in den ^utiguitatss luäaieae. Die Perspektive, die Architekturmotive usw. bieten die gleichen Berührungspunkte. So konnte denn Graf Durrieu mitvollem Rechte die Behauptung ausstellen: Der Boccaccio von München