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114, 18. Mai 1912. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt s. d. Lischt!. Buchhandel. 6123 doch mindestens ein Gymnasium absolviert haben, da auch, der einfache Mann aus dem Volke und das Ladenmädel eine Bildung aufweisen können, um die sie bei uns mancher Ge» bildete beneiden dürste. Von den zweihundert Trambahn« schaffnern sagte mein Kollege, sei er sicher, daß 75 Prozent das Buch abonnierten. Wenn ich in München einen finde, der es abnimmt, darf ich froh sein. Leihbibliotheken gibt es nicht. Man empfindet es eines besseren Hauses für unwürdig, Bücher, die man nicht selbst besitzt, zu lesen. Einen sehr erfreulichen Aufschwung hat der Buchhandel in Norwegen genommen, seit durch Einsetzen einer strengen Gesetzgebung dem Alkoholgenutz, der die Nation in ihrem tief sten Mark zu entarten drohte, Einhalt geboten ist. Fast im gleichen Verhältnis, wie der Schnapsberbrauch zurückging, stieg der Verbrauch von geistiger Literatur, und zumal in Ar beiterkreisen wächst das Lese- und Bildungsbedürfnis ganz außerordentlich, sodatz diese Kreise heute schon viele Tausende der besten Bücherkäufer stellen. Da alle Werke in 50 Öre-Liefe- rungen erscheinen, ist es auch dem Arbeiter und Ladenmädchen möglich gemacht, sich diese Werke anzuschaffcn. Der deutsche Buchhandel hat somit auch ein großes Inter esse daran, an der Eindämmung der Trinksitten mitzuwirken. Wenn der Arbeiter und der Gebildete sein Geld nicht mehr im Wirtshaus vertrinkt, wird sich in Deutschland genau wie in Skandinavien ein erhöhtes Bedürfnis nach geistiger Unterhal tung einstellen, und abgesehen davon, daß die Nation als solche außerordentlich gewinnt, hat der Buchhandel seinen unmittel baren Nutzen von dieser Bewegung. In Norwegen haben wir gesehen, datz der Sortimenter noch der fast ausschließliche Vermittler zwischen Verleger und Abnehmer ist. In seinen Händen laufen auch alle Fäden des ganz eigenartig organisierten Rcisegeschäfts zusammen, und man kann sich kaum für Verlag und Sortiment idealere Ver hältnisse denken. In Deutschland geht dem Sortimenter die Fühlung mit den breiten Schichten des Volkes immer mehr verloren. An sichtssendungen werden in den großen Städten fast nicht mehr gemacht, und das flache Land liegt ganz brach, da die Be stimmungen unserer Post derart sind, daß sie dem Sortimenter ein ziclbewutztes Ansichtsversenden fast unmöglich machen. Da mit verliert er die Verbindung mit dem Volk, und der Verleger ist genötigt, durch Verbreitung von Millionen von Prospekten die Kauflust auf diese Weife zu reizen. Sollte sich hier kein Wandel schaffen lassen? Sollte es nicht möglich sein, wie z. B. in der Schweiz, Postbestimmungen zu erhalten, die es ermöglichen, daß erste Hefte oder Bro schüren von jedem Sortimenter an alle bessergestellten Be wohner seines Kreises gesandt werden können? Es ist für die Verhältnisse doch bezeichnend, wenn es z. B. einer einzigen Schweizer Handlung möglich war, durch eine allgemeine Ver sendung eines populärwissenschaftlichen Werkes in ihrem klei nen Kanton so viel Exemplare abzusctzen, wie die Sortimenter der Hauptstadt des Deutschen Reiches zusammen verkauft haben. Im ersteren Falle hat der Sortimenter gearbeitet — und wird dafür natürlich auch entsprechend vom Verleger unterstützt, im letzteren Falle warteten alle Buchhändler Ber lins, bis die Kunden kamen und das Buch verlangten. Im besten Falle wurde durch Ausstellen im Schaufenster oder Vor zeigen im Laden dafür Reklame gemacht. Immerhin ist es doch typisch, datz eine einzige Sortimentsbuchhandlung, die zielbewußt unter guten Postverhältnissen arbeitet, soviel ab setzt wie die Reichshauptstadt, die nicht bearbeitet wird oder dank der unzweckmäßigen Postvorschriftcn nicht bearbeitet wer den kann. Auch in Oesterreich bestehen Postvorschriften, durch die es dem Sortimenter außerordentlich erleichtert wird, für Lieferungswerke zu arbeiten. Wenn ein Werk beim Zeitungs postamt angemeldct wird, darf die erste Lieferung innerhalb der , Stadt um einen Heller, innerhalb des österr. Postgebietes um 2 Heller mit Zeitungsmarken srei gemacht, versandt werden. Die ganze Fortsetzung kann zu denselben billigen Sätzen expe diert werden. Verhältnisse wie in Norwegen sind bei uns so leicht nicht zu schaffen, aber Postbestimmungen wie in der Schweiz oder in Österreich lassen sich auch bei uns einführen. Der ganze Unterschied besteht in der Hauptsache darin, daß in Deutsch land der Empfänger von der Ansichtssendung nicht Kenntnis nehmen darf, ohne verpflichtet zu sein, das Buch frankier, zurückzusenden. In der Schweiz darf man eine Sendung prü fen und sie nach 3 Tagen postfrei unfrankiert zurllcksenden. Ich zweifle nicht, daß, wenn diese Bestimmung in Deutschland eingeführt wird, auch die Post insolge von vielen Millionen Kreuzbändern, die alsdann mehr versendet werden, ein glänzendes Geschäft macht. Abgesehen davon, wird aber auch eine Reichsbehörde, wenn sie auf diese Weise zur Ver breitung von Bildung und damit von Volkswohlfahrt bettragen kann, gewiß gern ihre Hand dazu bieten und mtthelfen, Ein richtungen zu schaffen, durch die die ganze Nation im allgemei nen und einer der wichtigsten Berufsstände des Reiches im be sonderst gefördert wird. Mich selbst würde es sehr freuen, durch diese Anregung, die ich übrigens im engeren Kreise auch schon früher gemacht habe, dem deutschen Buchhandel einen Dienst geleistet zu haben. Wenn Börsenverein, Verleger- und Sortimenter-Vereine die Anregung aufgreifen und mit den maßgebenden Behörden Fühlung nehmen, so ließe sich das Ziel Wohl erreichen. Damit bekommt das Sortiment wieder einen neuen großen Wirkungs kreis, und damit werden so zahlreiche Brücken vom Sortiment zum Verlag geschlagen, datz zweifelsohne eine unendliche Zahl der gegenseitigen Anklagen verstummen, da das Sortiment Ge legenheit bekommt, sich selbst zu betätigen,fund der Verlag einen guten Teil des Geldes, das er für direkte Reklame auszugeben gezwungen ist, den Firmen Mlkommen lassen kann, die sich be sonders für ihn verwenden. I. F. Lehmann. z. Z. auf Burg Persen, dem Paradiese von Südtirol. Berliner Briefe, v. Kamps gegen die Unsittlichleit. — Von den Bibliotheken. — Aus dem Buchhandel, — Kunst und Wissenschaft. Auf der »ordentlichen Vereinsversammlung der Berliner Mitglieder des Börsenvereins Deutscher Buchhändler», über deren Verlauf von anderer Seite noch berichtet werden wird, interessierte die verschiedene Stellungnahme zum Kampf gegen die Unsittlichkeit. Herr Nitschmann veranlaßte die Debatte. Er stellte sich aus den Boden der realen Verhältnisse, beleuchtete die ungünstige Lage des Buchhändlers in unseren Tagen, der trotz aller Vorsicht dauernd in Gefahr wäre, mit Polizei und Gerichten in Konflikt z» kommen, und sprach den Wunsch aus, daß ein regelmäßiges Verzeichnis der verbotenen Bücher veröffentlicht werde, das zugleich durch Bekanntgabe der inzwischen wieder freigegebenen Bücher den Buchhandel immer aus dem Laufenden halte. Diese rein praktischen Vorschläge führten zu einer prinzipiellen Erörterung über die Stellung des Buchhandels im Kampf gegen die Unsittlichkeit, in der Herr Prager scharf gegen jede Be vormundung durch die Polizei Stellung nahm, während Herr Kommerzienrat Siegismund für ein verständnisvolles Zusammenarbeiten der Berliner Buchhändler mit der Staats anwaltschaft plädierte, im weiteren aber die rein praktische Forderung des Herrn Nitschmann anerkannte und ihr mög lichste Berücksichtigung zusagte. Gegen die »Kientöppe», die, wie zugegeben werden muß, teilweise recht zweifelhafte Kunst zum besten geben, scheint