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9190 Börsenblatt f. d. Dtfchn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. 184. 9. August 1912. Sprechsaal. Nationalgefühl und Deutschschrift. Der Verfasser der beiden in den Nummern 178/17S des »Börsenblattes« veröffentlichten Aufsätze wünscht eine Stellung, nähme meinerseits. Ich bedaure, daß diese Stellungnahme nur eine schweigende sein kann. Düsseldorf-Grafenberg, den 6. August 1912. Karl Robert Langewiesche. Dadurch, daß eine irrige Behauptung immer wiederholt wird, wird sie nicht richtig. — Nicht die Fraktur ist »leserlich« und die Antiqua »unleserlich«, sondern: es gibt gut und schlecht leserliche Schriften in beiden Schriftarten.— Des Rätsels Lösung ist m. E. nicht, daß zwischen beiden gewählt werde, sondern daß nicht nur von beiden nur die tauglichen verwendet werden, sondern nament- lich, daß sie richtig angewendet werden! Oft läßt schon ein PunktDurchschuß zu wenig oder zu viel einen Satzspiegel »flimmern« oder die Flickarbeit des Setzers bei reichlichen Korrekturen hat die Worte zu nahe aneinandergerückt oder sonst ein Fehler ist be- gangen worden. Man theoretisiere doch nicht so viel und lasse die greisen Augenärzte aus dem Spiel (man kann sie offenbar heute gar nicht alt genug mehr bekommen). Sie haben ja doch ihre Wissenschaft aus Büchern, die in Antiqua gedruckt waren! Sind nicht z. B. die Propagandisten großer Firmen, wenn sie ihre Plakate und Inserate entwerfen, in bezug auf Lesbarkeit Prak tiker, wie sie im Buche stehen? In welcher Schrift werden fast stets die Worte gedruckt, die zuerst ins Auge fallen sollen? Doch meist in Antiqua! Man schlage den Inseratenteil auf von Zeitungen aller Richtungen; Titel, Schlagworte, Lockworte — fast ausnahmslos Antiqua! Das scheint mir empirisch gewonnene Weisheit. Ebenso wie die Tat- fache, daß bisher wenigstens die bekannten Tafeln für Seh prüfungen der Augenärzte und Optiker, die eine Schrift vom größten bis zum kleinsten Grade enthalten, meistens in Antiqua gedruckt waren! Wie unerfahren müssen also die Augenärzte bis vor einem halben Jahre gewesen sein und wie gescheit namentlich die ganz alten unter ihnen seitdem! Ich las den Artikel des Herrn Ruprecht in einem »Ameri kanerwagen« der Eisenbahn. — Die Hälfte der Reisenden in dem weitläufigen Wagen las Zeitungen, die Wände hingen voller Plakate und Verordnungen. Ein Rundblick genügte, um festzustellen, daß selbst in schiefgehaltenen Zeitungen die in Antiqua gesetzten Jnserat-Worte weithin lesbar waren, während ich auf gewisse Entfernungen nicht einmal alle Zeitungs titel, die in Fraktur gesetzt waren, gleich schnell entziffern konnte, von bekannteren Zeitungsköpfen natürlich abgesehen. Von den Plakaten aber war nur eins auf größere Entfernung nicht errat- bar: das in Fraktur gedruckte Wort »Notbremse«! Im Gespräch veranlaßte ich einige Mitreisende — allem Anschein nach typographisch ganz uninteressierte Leute — zu Äußerungen Über die gleiche Frage, und der Erfolg bestätigte mir, daß mein Urteil nicht von Voreingenommenheit diktiert war. Auf diesem und ähnlichen Wegen, meine ich, sollte man seine Prüfungen anstellen und Schlagworte ebenso wie unfruchtbare Theorien lassen. Wenn man aber eine von Jahrhunderten eigentlich längst entschiedene Frage durchaus von Augenärzten nachprüfen lassen will (ich selbst habe zu oft Arztestreit erlebt, um da nicht skeptisch zu sein), dann lasse man uns auch wissen, welche Antiquaschrift ihnen mißfiel und welche Frakturschrift ihre alternden Augen noch lesen konnten! Und man vergesse bitte nicht, nach Schriftgrad und Durchschuß zu fragen. — Kurze Notizen und ähnliche Autoritätsorakel scheinen mir recht unan gebracht, um eine Frage zu klären, die wenigstens insofern wirklich eine nationale ist, als alle gut geschnittenen Fraktur-, Antiqua- und gotischen Schriften ein kostbares Gut unseres Volkes sind, an dem weder die Fraktur- noch die Antiqua-Gegner rühren sollen! Muß denn immer die graue Theorie dazu dienen, um Schön heit zu zerstören? Wie ist eigentlich die ganze Frage ins Rollen gekommen? Ganz einfach durch das Gegenteil dessen, was wir jetzt erleben: Menschen, die sich allzusehr »modern« fühlten und gebärdeten, hatten gefunden, daß die Fraktur abgeschafft werden müsse, weil man eine Einheitsschrift brauche, weil das. Ausland angeblich nur Antiqua lesen könnte, weil die Schüler durch zwei Schriften gar zu sehr überanstrengt würden (weder einst als ABC- Schütze noch jetzt als Vater habe ich etwas davon gemerkt!) und weil wir überhaupt sozusagen Amerikaner wären. — So oder ähnlich war's. — Und weil das »Abschaffen« von so innig unserem geistigen Eigentum einverleibten Errungen schaften uns barbarisch dünkte, haben wir uns alle mit kräftigen Tönen dagegen gewehrt. Und nun schnellt die Schaukel, die zu hoch nach links gezogen worden war, ganz einfach zu hoch nach rechts! Jetzt sind die Sieger glücklich so weit, den anderen »ihre« Schrift »abschaffen« zu wollen. — Wo Schläge fallen, da gibt es Scherben. Hoffen wir, daß es nicht zu viele sein mögen! » * * VorstehendeZeilen waren bereits an die Redaktion abgegangen, als mir die Fortsetzung des Nuprecht'schen Artikels zuging. Herr R. bezweifelt, daß meine Überzeugung auf Kenntnis der Tatsachen beruht, und findet es »befremdlich«, daß ich »so etwas in vollem Ernste versichere«. Ich muß gestehen, daß meine Empfindungen seinen Ausführungen gegenüber und bei all den anderen oft allzu schulmeisterlichen Aufsätzen und Notizen der Fraktur-Fanatiker ganz ähnliche waren. Ich habe sie aber im Interesse einer unpersönlichen und sachlichen Aussprache bisher verschwiegen. Nun aber ist es mir wohl gestattet, an der Hand der zwei Beispiele, die bisher noch am suggestivsten für die »Lateinschrift«-Gegner zu sprechen schienen, nachzuweisen, daß jene diese Beispiele nur bringen konnten, wenn ihnen eine wohl allen Lesern dieses Blattes geläufige Tatsache merkwürdigerweise unbekannt war, nämlich die, daß die meisten Antiqua- Schriften genau wie die Fraktur langes s, Schluß-s, ß- und st-Ligaturen besitzen und daß dadurch das etwas weit hergeholte Paradebeispiel von der U3.88S cksg Lrsisedeos („Masse oder Maße?", „Kreischens oder Kreischens?") ebenso hinfällig wird wie Herrn Ruprechts neuentdeckte »Süßwasserseen«. Der Streit knüpfte diesmal u. a. an meine »Faust«-Ausgabe an. Die Redaktion, der ich einen Bogen sende, wird mir bestätigen, daß langes s, Schluß-s, ß, st sich in ihr finden.*) M. W. ist dies nicht nur bei dieser alten Schrift der Fall, sondern bei allen modernen Antiquaschriften, die von deutschen Künstlern für deutschen Gebrauch geschaffen wurden. Ein Beispiel: Oie Elaste des Kreischens Oie kdske des kreischens Oie des Kreischens Oie >1slle des kreischens Lühv/allerleen 5üh^vssserseen Oie klajre des kreischens Oie K1ü6e de; krei;chen; Oie des kreischens Oie kdsde de; kreischen; äüßxvaHerseen 5ü6xvüsserseen Das übliche Goethe-Zitat sei mit der Frage beantwortet« wie kommt es denn, daß die Erstausgabe des »Westöstlichen Divan« in Antiqua gedruckt wurde? Sollte der Altmeister »undeutsche« Anwandlungen gehabt haben? Oder hatte er — ästhetische Gründe? Entschieden muß aber einmal Einspruch dagegen erhoben werden, daß nun auch Herr Ruprecht, wie seine Parteigänger vor ihm, diejenigen, die in dieser Frage anderer Ansicht als er sind, gleich ihres Nationalgefühls für verlustig erklärt! Wenn ihm an Klärung dieser Fragen liegt, dann schlage ich ihm vor, seine Sachlichkeit mit der Achtung vor Andersdenkenden in Einklang zu bringen. Und wenn er so streng in der Forderung ist, daß alle nur seiner Auffassung des deutschen Gedankens huldigen sollen, dann sei er zunächst einmal streng gegen sich selbst in bezug auf seinen deutschen Stil: allein auf Seite 9011 seines Aufsatzes finden sich an über zwanzig Stellen Fremdwörter. Trotz seines »organischen« »National«.Gefühls dürften sich »Fanatiker« finden, die auch hierin ein »charakteristisches Produkt« des »undeutschen Gedankens« ent decken würden! München. Hans von Weber. ) Gern; die Unterschiede können nicht deutlicher sein. Red.