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Künftig erscheinende Bücher. 237, 12. Oktober 1S1V. Verlag von S. Hirzel in Leipzig. <A Gegen Ende des Monats gelangt zur Ausgabe: Tragödie oder Komödie? Eine Frage an die Zbsenleser von Georg Groddeck Preis steif brosch. M. 2.40. Ein Buch von Georg Groddeck, dessen im vorigen Jahre bei mir erschienenen Vorträge „Hin zu Gottnatur" viel von sich reden machten und in kurzer Zeit zwei Auflagen erfuhren, wird mit dem Gedanken in die Hand genommen, daß etwas Eigenartiges und Wertvolles drin steht. Die Jbsenvorträge, die der Verfasser jetzt veröffentlicht, enttäuschen den Leser nicht. Sie werden für den Darsteller ebenso unentbehrlich werden, wie für den, der die Jbsenschen Dramen kennen lernen will. In bewußtem Gegensatz zu dem Gebrauch unserer Zeit, der die Dichtung aus dem Leben des Dichters erklärt, sieht Grod deck ganz von Ibsens Persönlichkeit und von allem, was über Ibsen geschrieben ist, ab und betrachtet das Werk des Dichters. Er kommt dabei zu dem Schluß, daß die Jbsenschen Dramen Komödien im höchsten Sinne des Worts sind. Aus dem Sittenrichter Ibsen wird in Groddecks Buch ein ruhig-heiterer Mann, der dem Treiben der Menschen mit dem Lachen der GöÜer zuschaut. Dem seltsamen Reiz dieser Gedankengänge kann man sich nicht entziehen, wenn auch oft der Wunsch bei dem Leser rege werden mag, an der alten Auffassung Ibsens als leidenschaftlichen Weltverbesserers festzuhalten. Die Jbsenschen Dramen sind so reichlich mit Literatur überdeckt, daß es schwer hält, bis zu dem leisen und versteckten Lachen des Dichters vorzudringen. Wem das ge lingt — und Groddecks Buch öffnet die Wege dazu —, dem öffnet sich auch die Schönheit der Dichtungen. Freilich muß der Leser selbst auf dem Standpunkt stehen, der die Dinge von oben sehen läßt. Sonst wird er es kaum vermögen, die sensationslüsterne Nora komisch statt schlecht zu finden, für Rebekka Wests oder Hedwigs Opfertod ein Lächeln zu haben, oder Frau Alvings Gespensterkampf und des Baumeister Solneß' Kletterkünste von der heiteren Seite zu nehmen. Georg Groddeck wendet sich in dem Titel seines Werks an die Jbsenleser. In Wahrheit redet aber das Buch zu allen Menschen, die reif genug sind, sich in stillen Stunden mit den Seltsamkeiten des Lebens auseinanderzusetzen. Es wird die Erwartungen erfüllen, die man von einem Werk des Verfassers von Gottnatur hegen darf. Ich bitte, das Buch allen Literatursreunden, die Ihnen als Besitzer von Ibsens Werken bekannt sind — und in welcher gebildeten Familie sollten wohl seine Dramen nicht zu finden sein? — vorzulegen. Besonders möchte ich Sie aber auch auf die Theaterkreise Hinweisen: Das Buch bringt für die Darstellung und Regie Jbsenscher Dramen so viel neue Gesichtspunkte, daß die berufsmäßige Schauspielkunst an seiner Auffassung künftig nicht Vorbeigehen kann. Zu Ihren Bestellungen wollen Sie sich des beigegebenen Verlangzettels bedienen. Leipzig, den 12. Oktober 1010. S. Hirzel.