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298, 23. Dezember 1908. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel. 14889 Kleine Mitteilungen. * Vom Roman mit der Lchwindelreklame. (Vgl Nr. 296, 297 d. Bl.) — Dem schamlosen Treiben des neuesten Reklame künstlers mit den grüngrauen, auch weißen und graublauen Briefen an etwa 400 000 Privatleute widmet die »Welt am Montag« (Berlin) folgende nachträgliche Betrachtung: Im Zeichen des blauen Briefes. Nachdem die Empfänger des ominösen Briefes mit der Aufdeckung des Schwindels den ersten Schreck überwunden hatten, stand der gestrige Tag im Zeichen der Frage: »Wieviel kriegt der Kerl?« Die aus dieser Frage züngelnde Rachsucht ist begreiflich genug. Man hat sich ja als Großstädter leider daran gewöhnen müssen, einen erheblichen Tribut an Nervenkraft der modernen Wege lagerei zu entrichten, die als öffentliche Reklame uns auf Schritt und Tritt attackiert. Man läßt sich geduldig die Hände mit großen und kleinen Zetteln spicken; man nimmt wortlos die Gefahren der Drehkrankheit auf sich, die uns beim Anblick rotierender, taumelnder, schaukelnder, hüpfender, zuckender Licht ungeheuer bedräuen, und man seufzt nur zaghaft, wenn uns in unserer Eigenschaft als neu Verlobter oder Verehelichter, als neugebackener Vater oder trauernder Hinterbliebener ein Regen von Prospekten und Preiskurants überfällt. Aber Herr Peter Ganter hat uns denn doch zu fürchterlich erschüttert. Mit bös artig psychologischem Raffinement hat er seinen Mitmenschen den vergifteten Pfeil gerade dort ins Fleisch gejagt, wo es am kitzlichsten ist. Moral? Hm! Doppelte Moral? Verflixt . . . sollte so ein anonymer Romanschreiber wirklich eine Ahnung ...? Manch einem hat der verstohlen in der Brusttasche verborgene blaue Brief ein paar Stunden lang arg ins Gewissen gebrannt. Man begreift, daß so etwas nach Sühne verlangt. »Wieviel kriegt der Kerl?« Man geht wohl kaum fehl, wenn man die übrigen Maßnahmen der Polizei gegen das blöde Buch und seinen Verleger als zwar sehr löblich, aber als kaum von langer Dauer bezeichnet. Dies gilt besonders für die Beschlagnahme des Buches. Enthält dieses — wie es den Anschein hat — nichts Anstößiges, so ist seine Beschlag nahme ungesetzlich und wird sehr bald aufgehoben werden müssen. Bezüglich der Strafbarkeit des Briefschwindels wird das Gericht erst über das Delikt zu entscheiden haben, ob Herrn Peter Ganters Manöver als Betrug, als Betrugsversuch oder als grober Unfug anzusehen ist. Die schwerste Strafe für den Attentäter ist wohl in dem Verlust zu erblicken, den die Kosten dieser Riesenreklame ausmachen. Schätzt man die Zahl der zur Versendung gekommenen Briefe auf 300 000, so beträgt das dafür erlegte Porto bereits 30 000 Dazu kommen Papier-, Schreib- und Expeditionskosten, so daß im ganzen ein Be trag von ca. 40 000 ^ herauszurechnen ist. Es ist, nach dem bisherigen Verlauf des Schwindels, gar nicht daran zu denken, daß — selbst bei baldiger Freigabe der »Doppelten Moral« — der beabsichtigte »Run« auf das Buch eintritt, von dem der Riesen profit erwartet wurde. »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, — Herr Peter Ganter, der sich ein rechter Pfiffikus dünkte, hat sich als ein hoffnungsloser Stümper blamiert.« — Wie jetzt bekannt wird, hat die bedenkliche Handlungsweise Damen, schwere Stunden bereitet, Verdacht und Unfrieden in manches Familienleben getragen, bei vorhandener krankhafter Veranlagung sogar Nervenchoks verursacht. Durch die aufklärende Tätigkeit der Tagespresse und das schnelle Eingreifen der Be hörden ist weiteres Unheil verhütet worden. — Eine ganze Reihe von Berliner Rechtsanwälten hat gegen Ganter Strafantrag gestellt. Von einem dieser Rechtsanwälte wird den »Leipziger Neuesten Nachrichten« dazu geschrieben: »Es handelt sich bei dieser Reklame, die, wie uns bekannt geworden ist, viele Leute auf kurze Zeit in Unruhe versetzt hat, bis sie den Schwindel heraus hatten, um einen Betrugs versuch und groben Unfug schlimmster Art. Der Schreiber ver sucht, die Adressaten dadurch, daß er sie durch das Mysteriöse des Inhalts für den Roman zu interessieren sucht, zum Ankauf des Schundes zu verleiten. Charakteristisch ist für die Absicht des Ver fassers der fraglichen Schreiben, daß sie von ihm besonders an Rechtsanwälte gesandt worden sind, die verleitet werden sollten, unter der Zahl ihrer Mandanten eventuell nach den mysteriösen R. und H. zu suchen, und deren Interesse dadurch besonders er regt werden sollte. Das Eilfertige des Schreibens, die augen scheinlich versehentliche Verwendung der Zehnpfennigmarke für den Stadtbrief beweisen ganz besonders das betrügerische Raffinement des Absenders. Hoffentlich legt die Berliner Staatsanwaltschaft dem anonymen Briefschreiber gleichfalls gründlich das Handwerk und macht den Schlußsatz des ,hineinzieht'.« — Weiter wird, wie die »Leipziger Neuesten Nachrichten« er fahren, von amtlicher Seite folgendes bekanntgegeben: »Schon Anfang Januar d. I. erhielt die politische Abteilung des Berliner Polizeipräsidiums eine anonyme Anzeige, wonach ein Direktor und Makler Peter Ganter, der damals Direktor der Deutschen Darlehns- und Kautionsbank in Nowawes war, be absichtige, einen Roman herauszugeben. Den Stoff hätte ihm ein entlassener Offizier geliefert, der ganz in seiner Hand sich befinde. Ganter gewährte zahlreichen Leuten, die sich in Geld verlegenheit befanden, größere Beträge und kassierte sie nachher mit großer Schärfe ein. Von Nowawes zog Ganter hierher nach dem Kurfürstendamm, wo er in der Nähe der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche bis Ende September wohnte. Dann verzog er nach München. Infolge dieses Briefes stellte die Polizei fest, daß bereits am 29. Dezember 1907 in einer Ber liner Zeitung ein Inserat stand: »Schriftsteller, junger, sehr be fähigter und hochgebildeter Herr, gesucht, der imstande ist, einen hochpolitischen Stoff zu einem Roman zu verarbeiten. Großer finanzieller und schriftstellerischer Erfolg zugesichert.« — Aus München wird den »Leipziger Neuesten Nachrichten« weiter gemeldet: »Der Buchhändler Ganter wurde am Sonnabend bis spät nachts von dem Münchener Untersuchungsrichter verhört. Er ist wegen Urkundenfälschung und wegen Erpressung schwer vor bestraft. Er hat für den »Bluff« 200 000 ausgegeben, darunter 60000 ^ an die Münchener Druckerei des Schundromans, rund 30000 für Porto und den Rest für die Herstellung der Briefe, von denen noch 33 000 Stück in seiner Wohnung beschlagnahmt wurden. Er hat anscheinend alles bar bezahlt, da seine Frau, eine Hausbesitzerin in Nymphenburg, ziemlich vrrmögend ist. Die erste Auflage des Romans war 100 000, die zweite Auflage dagegen 200 000 Stück, deren Versand bereits seit dem 20. November geschah. In München lagen bei der Speditionsfirma Schenker L Co. 800 Ballen ä 250 Stück, 16 Ballen davon waren für München Sonnabend vormittag abgesetzt wurden. Schenker L Co. haben gegen Ganter Klage wegen Mißbrauchs ihrer Firma gestellt. Die Staatsanwaltschaft in Augsburg hat wegen Betrugs ebenfalls die Beschlagnahme des Romans verfügt.« — Dem »Berliner Tageblatt« wird von juristischer Seite folgende Aufklärung gegeben: Die Strafbarkeit des »Bluffs«. Die Frage, ob sich derjenige, der die Massenversendung der alarmierenden Karten bewirkt hat, einer Gesetzesverletzung schuldig ge macht habe, dürfte zu bejahen sein. Offenbar greift hier die Bestimmung des § 360 Nr. 11 des Strafgesetzbuchs Platz, nach der mit Geldstrafe bis zu 150 ^ oder mit Haft bis zu sechs Wochen bestraft wird, wer groben Unfug verübt. Des groben Unfugs macht sich schuldig, wer die öffentliche Ord nung dadurch stört, daß er das Publikum ungebührlich be lästigt. Eine solche Belästigung ist hier erfolgt. Allerdings wird festgestellt werden müssen, ob wirklich das Publikum, nicht etwa bloß einzelne Personen behelligt worden sind. Eine Be helligung des Publikums ist vorliegend aber anzunehmen, da anscheinend fast alle Leute, die in Berlin in der Öffent lichkeit eine Rolle spielen — also ein sehr weiter Personenkreis —, eine Zuschrift bekommen haben. Auch kann — nach 'der Rechtsprechung des Reichsgerichts — eine Störung der Rechte und Interessen des Publikums »in Handlungen liegen, durch die zunächst und unmittelbar nur einzelne an gegriffen werden, insofern dadurch zugleich eine Beein trächtigung der nicht unmittelbar angegriffenen Personen in dem Gefühl eigener Sicherheit bewirkt wird«. — Geht, wie an genommen wird, die Versendung der Karten vom Autor 1932*