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14890 Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel Nichtamtlicher Teil. ^ 300, 28. Dezember 1908. zustellen, damit sie nirgends den Anschluß verpaßt, eine im letzten Augenblick eintreffende wichtige Nachricht noch aufzu nehmen, ohne daß der Rahmen der Zeitung überschritten wird, und ebenso bei Stoffmangel dafür zu sorgen, daß im redaktionellen Teil keine Verlegenheitslücken entstehen! Und was für ein besseres Quellenmaterial könnte es für den Historiker späterer Jahre geben, als das Studium unserer heutigen Zeitungen! Allerdings ist ein Sammeln vollständiger Jahrgänge von Zei tungen bei Privatleuten schon wegen Platzmangels völlig aus geschlossen; aber auch große Bibliotheken, die im Raume nicht so beschränkt sind, wissen ein Lied davon zu singen, wieviel Platz etwa fünfzig oder hundert komplette Jahrgänge einer einzigen Die Zeitungen gelten heute, und mit vielem Recht, als die siebente Großmacht. Ihr Einfluß auf die breiten Volksmassen ist im Laufe der Jahre so groß und so mächtig geworden, daß spiration« der Presse für dieses oder jenes Projekt Stimmung zu machen. Eine Zeitung mit großer Auflage ist heute eine Macht geworden, mit der man rechnen muß, eine Macht, die zwar auch viel kann hier die Presse nützen oder schaden, je nachdem sie zum Frieden oderzum Kriege rät! Der Chefredakteur einer gro' en Zeitung hat unter Umständen mehr zu sagen und durch die Verbreitung seines Organs einen größeren Einfluß auf die Hunderttausende seiner Leser, als vielleicht mancher Staatsminister; er kann viel Segen, aber auch viel Unheil stiften. Ein sehr typisches Beispiel für diesen Fall haben wir kürzlich in Paris erlebt: Bis vor kurzem ihr, d. h. vor ihrem Chefredakteur, beugen mußten, um Skandal geschichten zu vermeiden; denn schließlich hat jeder Mensch, auch der harmloseste und beste, einige Vorkommnisse in seinem Leben, von denen ihm lieber ist, wenn sie nicht in großen Tageszeitungen mit entsprechendem »Kommentar« breitgetreten werden. Dieser Chefredakteur ging im Bewußtsein seiner Macht sogar so weit, zu erklären, es würde sich in ganz Frankreich kein Gerichtshof finden, der den »Mut« hätte, ihn und feine Zeitung zu verurteilen. Dieser Gerichtshof hat sich zwar doch gefunden, und die Verur teilung ist erfolgt, aber erst nach zwei Jahre langem Prozessieren, und welcher Unsumme von Zeit, Geld, Mühe und Arbeit! Ein Preßgesetz ist gut, aber eine Zensur für politische Tageszeitungen in einem modernen Kulturstaate undenkbar. Die Presse muß frei sein, nur so kann sie etwas nützen; aber andrerseits muß die Justiz für Gesetze sorgen, die es ermöglichen, sich gegen Übergriffe der Presse zu schützen. Es gibt nämlich Blätter, gegen die, wenigstens nach dem heute in Frankreich bestehenden Preßgesetz, nicht viel auszurichten ist. So gehört z. B. eine große Zeitung, die ich speziell im Auge habe, nicht einer Gesellschaft, sondern einem Einzelnen, der ohnehin schon sehr reich ist (er gilt für einen vierzigfachen Millionär) und dem es daher weniger darauf ankommt, hohe Einnahmen aus Verteilung eine große Rolle spielt. Geldstrafen dieser Zeitung gegenüber sind fast wirkungslos, selbst in einer Höhe, die andere Blätter geradezu ruinieren würde. Ebensowenig erfolgreich sind Gefängnisstrafen, da für solche Gelegenheiten immer ein »Sitz redakteur« vorhanden ist und die wirklich Schuldigen garnicht ge troffen würden. Der einzige Nachteil oder die einzige Strafe, die man solchen Blättern zufügen kann, wenn man sich die Sache Zeit und Geld kosten läßt, ist nur moralischer Natur und besteht darin, daß ihnen das Odium eines verlorenen Prozesses anhaftet, der von beiden Seiten mit gleich großer Reklame in Szene gesetzt werden müßte. Was nun die französische Presse speziell betrifft, so unter scheidet sie sich von der deutschen in mehr als einer Beziehung. Während die großen deutschen Tagesblätter häufig zwei-, nicht selten aber auch dreimal täglich erscheinende Ausgaben veranstalten, erscheinen alle französischen Zeitungen nur einmal, entweder morgens oder abends. Während ferner die deutschen Zeitungen beim Ver triebe das größte Gewicht auf viertel-, halb- oder ganzjährliche Abonnements legen, betrachten die französischen den Vertrieb durch Abonnements nur als Nebenerwerb und begünstigen den Verkauf der einzelnen Nummer, auch beim Versand in die Pro vinz. Jedes System hat viel für und viel gegen sich; doch scheint ment durch die Post fort. Beim täglichen Kauf einer Nummer stellen sich im Laufe des Jahres die Kosten meistens billiger als im Abonnement, in keinem Falle aber teurer. Auch spricht die hohe Auflagenzahl der Pariser Blätter gegenüber den deutschen sehr zu gunsten der französischen Vertriebsart. Eine weitere Eigen tümlichkeit der französischen Presse ist ferner, daß sie sich fast aus nahmslos auf Paris konzentriert, während die deutsche Presse über das ganze Reich verbreitet ist und Blätter wie die Münchener Neuesten Nachrichten, die Kölnische oder Frankfurter Zeitung u. a. einen mindestens ebenso großen Leserkreis und Einfluß haben wie die Blätter der Neichshauptstadt. Das ist nun in Frankreich garnicht der Fall; wenn man ganz allgemein von der französischen Presse spricht, so meint man damit immer die Pariser Presse. Ihr Einfluß und ihre Verbreitung ist selbst in großen französischen Provinzstädten, die eigene Zeitungen mit oft hoher Auflage drucken, häufig größer, als der der Lokalblätter. Endlich unterscheidet sich die französische Presse von der deutschen dadurch, daß dort fast alle Beiträge, besonders aber alle politischen Leitartikel, mit dem Namen der Verfasser gezeichnet sind. Dieses System hat ungemein viel für sich: der Leser weiß sofort, mit wem er es zu tun hat, und kauft sich die eine oder andere Zeitung häufig nur deshalb, weil er weiß dort einen Artikel dieses oder jenes Mitarbeiters zu finden, dessen Ansicht über irgend ein Tages ereignis er gerne hören würde Der Redakteur seinerseits kann der Zeitung im Laufe der Jahre so sehr den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrücken, daß er die Zeitung geradezu verkörpert; so ist z. B. die »Uro ?arol6« mit dem Namen Edouard Drumont, der »Nelair« mit Ernest Judet, die »I1unmnit>6« mit Jaurös un zertrennlich verknüpft. Der einzige Nachteil dieses Systems liegt darin, daß der Tod oder der Abgang des betreffenden Chef redakteurs häufig auch den Tod der Zeitung selbst bedeutet, daß diese nicht nur ihren ganzen Einfluß verliert, sondern, was für den Verleger oder Besitzer viel empfindlicher ist, unter Umständen auch neun Zehntel ihres Wertes als Verlagsobjekt. Als Beispiel dafür möchte ich den »Intran^eant« anführen: Dieses Blatt wurde im Jahre 1880, wenn ich recht unterrichtet bin, von Henri Nochefort selbst gegründet, und viele Tausende von Lesern haben durch diese achtundzwanzig Jahre den »Intransi^eant« sicher nur deshalb gekauft, um die Leitartikel des berühmten Pamphletisten zu lesen. Jetzt plötzlich, vor einigen Monaten, hat Rochefort seine zwar witzige und geistreiche, aber vielfach auch verletzend scharfe Feder in den Dienst eines Konkurrenzblattes, der »kati-io«, gestellt, und durch diesen Schritt steht der »Intran8i»errut« geradezu vor dem Ruin. Einmal schon hat das Gerücht von seinem Untergang in Paris zirkuliert, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann dieses Gerücht zur Wahrheit wird. — Meistens gehören solche Blätter einer Gesellschaft von politisch gleichgesinnten Männern, von denen der betreffende Chefredakteur häufig der Hauptaktionär, manchmal auch der Gründer und alleinige Besitzer des Unternehmens ist. Es zeigt sich ferner, daß Blätter mit einer leitenden, hervor tretenden Persönlichkeit immer eine bestimmte politische Richtung vertreten. Dadurch ist aber auch ihre Auflage begrenzt; außer von den Mitgliedern der betreffenden Partei werden diese Blätter wenig gelesen und sind deshalb auch nicht erweiterungsfähig; ihre Auflage dürfte selten die Zahl von 100 000 Exemplaren über schreiten. Ganz anders verhält es sich mit denjenigen Zeitungen, die keiner ausgesprochenen Richtung huldigen, obgleich auch in diesen Blättern alle Beiträge gezeichnet sind, die aber, in dem Wunsche, es allen oder doch möglichst vielen recht zu machen, ihr Mäntelchen meist nach der Richtung hängen, aus der gerade der politische Wind weht. Diese Blätter, die natürlich auf sehr breiter Grundlage aufgebaut sein müssen, um dem Lesebedürfnis der Arbeiter- und Landbevölkerung entgegenzukommen, sind dagegen immer erweiterungsfähig und können dadurch, daß sie den für »Vermischtes«, für Verbrechen und Liebesdramen be-