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211, 10. September 1SI2 Nichtamtlicher Teil, VSrtrublatt k, d, Dychn, vnchimdkl 10437 Nichtamtlicher Teil. Ein Ausnahmegesetz? Bei der Wichtigkeit der in diesen Blättern wieder holt erörterten Frage haben wir geglaubt, auch de» nachstehenden Ausführungen Raum geben zu müssen, obwohl wir uns nicht mit ihnen einverstanden erklären können. Denn es ist an sich belanglos, daß der Ver leger zusällig Kenntnis von der Beschlagnahme seines Verlagswerks in dem gegen einen Sortimenter an hängig gemachten Strasversahren erlangt hat, wesent lich ist vielmehr, daß das Gericht nicht zu einer Be nachrichtigung an ihn verpflichtet und er somit in den meisten Fällen nicht in der Lage ist, seine Inter essen bei derartigen Verhandlungen wahrnehmen zu können. Hätte der Verleger gewußt, daß das später gegen ihn und den Versasser ergangene sreispre- chende Urteil, soweit es sich aus die Einziehung und Vernichtung des Buches bezieht, als ohne jede Wirkung aus den Rechtsbestand des in jenem Rcbenverfahren gesällten Urteils hingestellt wird, so hätte er sicher alles darangesetzt, den künstlerischen Charakter des Werkes schon in dem ersten Prozesse zu erweisen, selbst aus die Gefahr hin, daß dessen »Analyse« in der Urteilsbegründung noch ein paar Dutzend Seiten umsangrcicher geworden wäre. Was ihm in seinem eigenen Prozeß gelungen ist, nämlich der Nachweis, daß cs sich hier um ein künstlerisches Wer! handelt, hätte er schließlich, trotz aller Souveränität der einzelnen Gerichte in der Beurteilung dieser Fragen und ihrer Unabhängigkeit von Sachverstän digengutachten, auch in dem Verfahren gegen den erwähnten Sortimenter bei einiger Anstrengung er reichen können. Denn von Prozessen gilt dasselbe was Laube vom Theater gesagt hat: es kommt immer anders. Wenn Herr vr. Possner aus die verschiedenartige Beurteilung anderer Fragen unseres öffentlichen Lebens hinweist, so kann dem gegenüber gehalten weiden, daß eine solche widerspruchsvolle Behandlung durch Hinz und Kunz niemand ernstlich weh tut und weit eher Klärung als Verwirrung schafft, während die sich direkt widersprechenden Ur teile unserer Gerichte nicht nur die Rechtssicherheit gefährden, sondern auch materielle Schädigungen herbeisühren. Da man sich jetzt bemüht, sür be stimmte, besonders schwierige Fragen unserer Recht», sprechung eigene Kammern zu errichten, so ist nicht einzusehen, warum man sür die Strasversahren gegen Bücher, Versasser, Verleger und Sortimenter nicht eine Instanz schaffen könnte, durch die nicht nur eine Zusammenfassung der mit einander in Beziehung stehenden Fälle, sondern auch eine Vereinheitlichung der Beurteilung ermöglicht werden könnte. Ob der von Herrn vr, Posener gezeigte Ausweg sür den Ver leger gangbar ist, möchten wir dahingestellt sein lassen, u E. kann er nur durch Veranstaltung einer neuen Auflage die Folgen des erstergangenen Urteils abwenden, wenn er sich und das Sortiment nicht mit zweiselhastcn Prozessen belasten will, obgleich natür lich beide auch in diesem Falle vor einer neuen Anklage nicht sicher sind. Red. In Nr, 206 des Börsenblatts vom 4, September 1SI2 wird auf den Fall des Buchhändlers M, Bezug genommen, dessen Verurteilung zugleich die Einziehung des Romans »Die Ve>führten» aussprach. In dem bezeichneten Aufsätze wird, ebenso wie in einem daselbst erwähnten Zeitungsartikel, tadelnd hervorgehoben, daß die Einziehung rechtskräftig aus gesprochen werden konnte, obwohl weder der Versasser noch der Verleger vorher oon diesem Verfahren Kenntnis erlangt hätten. Diese Darstellung bedarf, ohne daß aus die legislatori schen Vorschläge eingegangen wird einiger Berichtigungen, 1. Offenbar hat der Versasser des Zeitungsartikels ebenso Börsenblatt sür de» Deutschen Buchhandel, 79, Jahrgang wenig wie der Verfasser des obenbezeichneten Aussatzes sich auch nur die Mühe genommen, den Sachverhalt zu prüfen. Man ist es allerdings gewöhnt, daß die weit ausschlagende Kritik um solche Kleinigkeiten sich nicht kümmert. Der Buchhändler M, den ich in der vom 2, bis zum IS, Dezember 1911 dauernden Hauptoerhandlung vor der 4, Strafkammer des Kgl, Landgerichts 1 in Berlin verteidigte, hat seinerseits die beteiligten Verleger, darunter, wie er ganz bestimmt angibt, den Verlag des Buches »Die Verführten«, von dem schwebenden Verfahren benachrichtigt. Aus welchen Gründen ihm nicht geantwortet worden ist, weiß ich nicht; vermutlich hat er von ihnen einen Kostenbeitrag für die Gestellung von Sachverständigen erbeten und ist daher ohne Antwort geblieben. Vielleicht auch aus anderen Gründen: dieser Prozeß wurde, soweit ich unterrichtet bin, mit jeder Erwähnung in der Presse verschont. Es fungierten weder berühmte Verteidiger noch berühmte Sachverständige, so daß sür den Verlag per Saldo nichts herausschaute. Man kann eS einem Sortimenter nicht verübeln, wenn er nicht für die Interessen eines Verlags, der durch sein Schweigen sich gleichgültig gegen die ganze Sache zeigt, noch Aufwendungen macht, die für ihn beträchtlich sein würden. Ist cS auch gelungen, dem M,, dessen Weihnachtsgeschäft sonst schwer gelitten hätte, das Erscheinen zur Verhandlung an allen Tagen mit Ausnahme des ersten und des letzten zu ersparen, so sind doch die Prozeßkosten, die er neben der geringfügigen Geldstrafe tragen muß, noch immer groß genug. 2. Die Verhandlung hat sich — neben einer großen Zahl anderer Bücher — auch mit den »Verführten« ein gehend befaßt. Es kann nur bestätigt werden, daß sowohl die Kammer als auch der Staatsanwalt mit größter Sachlichkeit ihres Amtes walteten, und daß allen An trägen der Verteidigung, soweit sie nicht durch Unter stellung der Richtigkeit überflüssig wurden, stattgegeben wurde. Das Urteil zählt 112 Folioseiten, von denen einer Analyse der »Verführten» die Seiten 8 bis 45 und Seite 48 gewidmet sind. Aus jenen beiden Artikeln scheint, wie auch unbefangene Leser geurteilt haben, die Ansicht heroorzugehen, die Anklage behörde habe das Verfahren gegen M. in strengster Heim lichkeit durchgeführt, um — ohne Kenntnis des Verlages und des Verfassers — einen Einziehungslitel zu erlangen. Richtig mag sein, daß bereits damals das Verfahren gegen Verlag und Verfasser schwebte, so daß das Schreiben des M. vom Verlage, der sich auf seine eigene Hauptverhandlung rüstete, achtlos beiseite geschoben wurde. Diese Unterlassung berechtigt aber weder den Verlag, noch seine Anwälte, die gekränkte Unschuld zu spielen, (?Red) 3, Welches Ergebnis hätte es denn, wenn Verlag und Verfasser an diesem (und anderen gleichzeitig schwebenden) Verfahren teilgenommen hätten? Denn soweit mir bekannt ist, schwebten etwa zu jener Zeit noch zwei oder drei Ver fahren gegen Sortimenter, bei denen die »Verführten- be schlagnahmt worden waren. Eine Zeugenschaft des Verfassers kam aus verschiedenen Gründen nicht in Frage, Der Verlag hätte also höchstens noch mehrere Sachverständige gestellt, welche in den — ach so sehr bekannten — Gcdankengängen ihre Sprüche über Lite ratur, Kunst, Sitte, Sittlichkeit, Geschlechtsleben hergesagt hätten. Wenn der Verlag Sachverständige stellt, so wird er gewiß nicht die Vorsitzenden von Keuschheits- und Sittlich keitsvereinen auswählen. Er sichert sich nur solche Beurteiler, deren Ansicht ihm genehm ist. Für den Prozeß gegen M, ist damit zwar etwas Sensation, aber sonst nichts gewonnen, illso