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.ü L76, 28. November 1918. Redallioneüer Teil. Ebenso einfach, ja noch einfacher ist das Reisegeschäft, das Barsortiment und das Kommissionsgeschäft, die als genossenschaftliche Gründungen der Gilde ins Leben ge rufen werden sollen. Wenn je der Satz: Du glaubst zu schieben, und Du wirst geschoben, Berechtigung hat, so ist es bei genossen schaftlichen Unternehmungen der Fall. Das Beispiel des Grosso und Kommissionshauses, auf das Herr Nitschmann verweist, zeigt nur, das; er die Verhältnisse, aus denen die Prosperität dieses Un ternehmens beruht, nicht kennt. Sie können zum Vergleich schon deswegen nicht herangezogen werden, weil das Unternehmen ganz in derselben Weise betrieben wird wie jedes andere Grosso und Kommissionsgeschäft, nur daß die satzungsgemätz festgelegte Kreditbeschränkung hier noch viel weitergehend ist als in den gleichen Zwecken dienenden Privatbetrieben. Außerdem aber hat das Grosso- und Konimissionsgeschäft das Glück ge habt, von Anfang an in der Person des Herrn Theodor Hel bing einen Geschäftsführer zu erhalten, der mit nicht gerin gerem Eifer »seinem« Betriebe vorsieht wie ein Privatunter nehmer. Würde zudem eine Genossenschaft, die sich von vorn herein in einen bewußten Gegensatz zum Verlag stellt, so viele Förderer in Verlegerkreisen finden wie das Grosso- und Kom- missionshaus, das sich doch auf eine viel bescheidenere Grundlage gestellt hat und seine Meisterschaft gerade in der Beschränkung zeigt? Jede Genossenschaft, die wie die Buchhändlergilde kein eigenes Grundkapital besitzt und mit der persönlichen Haftpflicht der Mitglieder rechnen muß, ist auf Kredit angewiesen. Ob eine Genossenschaft, die sich gegen Verlag, Kommissionsgeschäft, Reise buchhandel und Barsortiment gleichzeitig wendet und über kurz oder lang auch in Widerstreit mit den privatwirtschaftlichen In teressen ihrer eigenen Mitglieder geraten muß, ihn finden wird, erscheint uns mehr als zweifelhaft, da Wohl schwerlich ein Verleger so ganz von Gott verlassen ist, um nicht einzusehen, daß er sich dadurch nur sein eigenes Grab bereiten hilft. Von diesem Kredit weiß freilich der Artikel des Herrn Nitschmann nichts, wohl aber stellt er unter Kapitel 3.: Bezugsgenossenschafl (ge meinschaftlicher Bezug von Waren und Material zu eigenem Verbrauch der Mitglieder) eine Abhandlung über eine Kredit genossenschaft — »Buchhändlerbank« — in einer späteren Nummer des Gildeblattes in Aussicht. Daraus geht schon her vor, daß auch nach seiner Meinung Kreditnehmen vorerst wichtiger ist als Kredit g eben. Die Genossenschaften haben den Zweck, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder mittelst gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebs zu fördern. Sie sind also vorzugs weise als lokale Unternehmen gedacht, da nur bei sol- chen die Genossen Einfluß auf die Geschäftsführung nehmen können. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß wir Ge nossenschaften haben, die über ganz Deutschland verbreitet sind. Dem Geiste des Genossenschaftsgesetzes werden sie, worauf schon so genaue Kenner des Genossenschaftswesens wie H. Crüger hin gewiesen haben, ebensowenig gerecht wie Unternehmen, die we niger der Wohlfahrt der Genossen als dem Kampfe gegen andere Berufsständc dienen sollen. Und auf nichts anderes als einen Kampf ist es bei diesen Gründungen doch abgesehen. Denn daß ein Bedürfnis zur Herausgabe von Konkurrenzartikeln be steht, wird wohl niemand behaupten können. Zum Glück ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Lehrt doch die Erfahrung, daß Unternehmungen, die sich gleichzeitig mit Vertrieb und Produktion beschäftigen, auf eine sichere kapi talistische Grundlage gestellt werden müssen, wenn sie Erfolg haben sollen. Schwerlich kann bei dem Umfange der genossen schaftlichen Unternehmen des Herrn Nitschmann eine genügende Sicherheit, in den Halbjahrsraten der Genossen von je SV ./k und in Ihrer Haftpflicht gefunden werden, selbst wenn es ihm gelingen sollte, 600, 800 oder 1000 Genossen vor seinen Wagen zu spannen. Daher wird man den Mitgliedern der Gilde nur raten können, ihr Geld in den eigenen Betrieben anzulegen, wo es wahrscheinlich besser und zweckmäßiger verwendet werden kann als in der »Produktiv-, Verwertungs- und Bezugsgenossen schaft-, in die sie Herr Nitschmann verstricken möchte. Jugend und Heimat *) Diese Lebens- und Familien-Erinnerungen las ich gleich nach Er scheinen und war hingenommen und beglückt wie selten in meinem Leben von einen. Buch. Als die Schriftleituug des Börsenblatts mich damals aufsorderte, durch eine kurze Besprechung die Plauderei zu > ergänzen, in der Eugen Jsvlani die buchhaudelsgeschichtlichen Partien ! hervorgchoben hatte (Börsenblatt Nr. 84 von, 11. April 1916), war ich ! froh, öffentlich den Dank bezeigen zu können, den ich Buch und Ver- ' fasser schuldete, aber nicht ohne Scheu, als sicheres Urteil auszugebcu, ! was vielleicht nur erster Eindruck war. Seither habe ich das Buch nach Wochen ein zweites, nach Monaten ein drittes Mal von der ersten bis zur letzten Seite ausgerüstet, einige ! Kapitel ein viertes Mal, durchs Ohr, aufgenommen und wage nun zu j sagen: es scheint nicht nur mir, es ist eins der besten Bücher seiner ! Gattung, die wir überhaupt besitzen. Das Buch läßt in buntem Wechsel Schauplätze, Zeiten, Menschen ! und Dinge an uns vorüberziehen. Tage der Kindheit in ! dem Land- und werdenden Jndustriestädtchen an der da mals noch nicht schwarzen Niers. Der urgroßväterliche Schultenhof im märkisch-bergischen Grenzlande, die Franzosenzeit im belgischen ! Lande und ihre Helden Fink, Stricker, Ommerborn. Der Großvater- Verleger und der weinfrohe Freiligrath; der Mord der Frau C. bei ^ Obercassel und der seltsame Fang des Mörders. Ohm Jacob und sein ^ Kutscher Casimir; das überschwemmte Düsseldorf. Der adlige Husaren- lcutnaut aus Schlesien, der unter den Bauern des Weserlaudes als ein i Prophet gesprochen und im Gefängnis das Martyrium erlitten hat. I Das Nesidenzstädichen Nh. au der Ems, die neun Musen und die Kri- uolineu. Der westfälische Mcierhof als Ferieuparadies, der Brunnen- § kötter und die Umflut. Das westfälische Heidestädtchen G., sein Gym- j uasium: das Bienchen und ihre Pfleglinge: Beaugestc, der zukünftige . Diplomat; Oberlehrer Sonnenschein im amerikanischen Circus. Dann j wieder die Heimatstadt; die Pastorwahl und die drei Bedenken des ! Ältesten Kiekebosch; die Einholung zu Pferde und das erste Auto; ^ der Kaiserpark mit dem tönernen Alten Kaiser; das Spukhaus mit dem Türken; die Geschichte von den falschen Ellen, den frommen Webern und dem traurigen Ende der Renate van de Sande. Die ! kreischende Pumpe mit dem preußischen Adler als Marktbrunnen; die ! drei Erbinnen auf der Wasserburg Schloß Nh., ihr Freier und der ! Igel; der Pastor mit dem Hirsch. Die Nathauseinweihung mit dem historischen Grafen, der Kirchen-Neubau und der merkwürdige Toast — diese paar Stichworte mögen die Vielseitigkeit der Dinge auöeuten; aber nicht die sind es, nicht das Was, das uns au das Buch fesselt und nicht losläßt; es ist die Kunst des Erzählers, es ist die Persön lichkeit, die Seele, die aus jeder Seite zu uns spricht. Der Verfasser ist geborener Fabulierer und Erzähler, man spürt das Behagen, mit dem er den Faden spinnt, keinen kurzen, sondern einen gemächlich langen; und doch steht da kein Wort zuviel: jeder Satz gesättigt mit Anschauung. Der Verfasser ist eben Gestalter, er hat jenes Irrationale, jene nicht definierbare Gabe des wirklichen Dichters, und was mehr ist, eine Hand, die zu Gold werden läßt, was sie berührt. Nicht als ob er ein flacher Optimist wäre oder ein bequemer Jdealisierer. Auch die Tragik hat in diesen Blättern ihren Platz, und sic faßt den Leser um so stärker, je still-gelassener die Worte scheinen; und des Erzählers Urteil, wo es etwa Hcrzenshärtigkeit oder hohlem Strebertum gilt, fühlt der Leser au halben Worten, da fühlt er des Erzählers Stimme hart werden, der sonst immer versteht und verzeiht und Menschen und Dinge mit überlegenem, erquickendem Humor durchleuchtet. Alles in allem ein Buch, so reich au Güte, an lauterem Men schentum, ein Buch von so gepflegter Sprachkunst, wie wir wenige besitzen. Es ist kein Buch von heute auf morgen, und ich habe den Glauben, daß es im deutschen Hause seinen Platz neben Kügelgcn und Ludwig Richter finden und behalten wird. Wer in diesen harten und unbarmherzigen Zeiten eine stille Insel des Friedens sucht, nicht oberflächliche Hinwegtäuschung, sondern dichterisch gehobene und durchsonnte Wirklichkeit, wer unfern Kriegern im Lazarett auch seelisch will genesen helfen, dem sei dies Buch aus voller Über zeugung empfohlen: er wird dem Verfasser mit mir aufs tiefste dankbar sein. Düsseldorf. Constanti n N örrenber g. *) Jugend und Heimat. Erinnerungen eines Fünfzigjährigen (Wilhelm Langewiesche). Ebeuhansen b. München: W Langewiesche- Brandt. (1916.) 8°. 814 L. .// 1.80; gcb. .// 8. L455