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Eine ganz andre Reihenfolge entsteht, wenn wir die Bilder nach der Zeit ihrer Entstehung und Veröffentlichung zu ordnen versuchen. Von einigen läßt sich das Datum aus den Buchhändler anzeigen in der Leipziger Zeitung gewinnen, und da sehen wir, daß die letzten an die ersten Stellen rücken. Am 10. Februar 1814 zeigt die Baumgärtnersche Buch handlung als neuen Kupferstich an: »Die Ankunft der hohen verbündeten Monarchen in Leipzig« (auf starkem Velinpapier sauber colorirt 16 Gr.). Das ist das Blatt Nr. 13. Zwei Wochen später, am 28. Februar, erläßt C. D. Löscher — ein Kramer auf der Katharinenstraße in Leipzig — folgende »Kunstanzeige«: »Die Ansichten des Grimmaischen, Halleschen und Nanstädter Thores am 20sten Oct. 1813, in 3 Blättern ausgenommen, werden auch dem auswärtigen Publikum interessant sein. Der ungeteilte Bei fall, mit welchem selbige hier ausgenommen worden sind, und das mühevolle und saubere Colorit derselben gestatten mir erst heute die Erscheinung dieser Blätter öffentlich zur Kenntnis zu bringen«. Der Preis für alle drei war 1 Tlr. 12 Groschen. Das sind die Blätter Nr. t6, 17 und 18. Aus der Anzeige geht hervor, daß sie schon eine Zeit lang fertig, aber anfangs nur in Leipzig verkauft worden waren. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß sie das erste sind, was Geißler sofort nach der Schlacht gezeichnet und gestochen hat. Die ersten Abdrücke sind wohl schon im November 1813 zu haben gewesen. Darauf deutet auch die etwas flüchtige, rohe Arbeit; die Blätter wollten rasch das Nächstliegende Bedürfnis befriedigen. Am 16. März 1814 teilt die Vossische Buchhandlung mit, daß von »Napoleons Flucht aus Leipzig den 19len October 1813« bei ihr wieder sauber illuminierte Exemplare zu 12 Groschen zu haben seien. Das ist das Blatt Nr. 5. Auch dieses war also schon früher, wohl schon zu Anfang des Jahres — denn mit 1814 hat es der Stecher be zeichnet — erschienen und wegen der starken Nachfrage in den letzten Wochen vergriffen gewesen.*) Am 7. Mai 1814 macht das »Jndustriecomptoir« bekannt: »Schlachtszenen von der Gegend um Leipzig im October 1813 in 3 Blatt. Jedes Blatt in Folio nach der Natur treu gezeichnet, gestochen und color. kostet 1 Thlr. Der Anblick, den Leipzig nach dem IS. October darbot, war entsetzlich, fast ohne Beispiel. Die hier gegebenen Partien sind von den besonders merkwürdigen Seiten genommen.« Die Bekanntmachung erweckt zunächst den Anschein, als ob es sich hier um ähnliche Darstellungen handle wie die vor den drei Toren. Der Schluß beweist aber, daß es sich um Vorgänge aus der Schlacht selbst handeln muß. Unzweifelhaft sind also Nr. 1 und 2 gemeint, die ja geradezu die Unterschrift »Schlachtscenen« tragen. Ein Blatt mit der Unterschrift »Schlachtscenen. Nr. III« habe ich freilich nie gesehen. Ist es so selten geworden? Oder ist es gar nicht erschienen? Am 19. Oktober 1814 endlich, am ersten Jahrestage der Schlacht, macht die Sommersche Buchhandlung bekannt, daß bei ihr unter dem Titel »Leipzigs merkwürdigster Tag« »eine von Hrn. Geißler nach dem Leben gezeichnete und von ihm selbst in Kupfer gestochene fein illuminirte Darstellung der Flucht der Franzosen nach der Grimmischen Vorstadt zu« zum Preise von 16 Groschen erschienen fei. (Nr. 3.) »Dieses Blatt, welches die große Eile der sogenannten großen Armee am Morgen des 19. Oct. und ihre allgemeine Verwirrung ganz naturgetreu dar stellt, ist keine Caricatur, sondern bestimmt, als bleibende Erinnerung an den anbrechenden Tag deutscher Freiheit unter Glas und Nahmen gefaßt zu werden.« Damit wäre die Entstehungszeit von acht Bildern ziemlich genau festgestellt. Und an diesen sind nicht weniger als vier Ver leger beteiligt. Von allen Seiten also waren buchhändlerische Aufträge an Geißler gekommen, so viel, daß er selbst sie gar nicht alle ausführen konnte. Einzelne Blätter, wie Nr. 6, 11 und 12, hat er nur gezeichnet, die Ausführung im Stich andern überlassen. Für zehn Bilder bleibt die Entstehungszeit noch festzusiellen. Darunter sind aber gerade die wichtigsten, nämlich die vier, die den Schlußakt der Schlacht, die letzten Kämpfe der fliehenden Franzosen mit den verfolgenden Siegern auf dem Fleischerplatze *) Jedem Sammler ist auch der Plan von Leipzig bekannt, auf dem der Weg eingezeichnet ist, den Napoleon bei seiner Flucht aus der Stadt nach dem Ranstädter Tore nahm. Er er schien im Jndustriecomptoir und kostete koloriert 8 Groschen. (Vergl. die Anzeige am 5. Mai 1814.) Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 77. Jahrgang. (oder Kohlenplatze) zeigen. Die wichtigsten sind sie deshalb, weil Geißler Augenzeuge dieser Vorgänge gewesen ist, nämlich von den Fenstern seines Wohnhauses aus, während alle übrigen — abgesehen von den drei Bildern vor den Toren — nur Erzeug nisse seiner Phantasie sind. Geißler wohnte 1813 am Fleischerplatz in dem zweiten Hause rechts von den Schlachthöfen, das damals die Nummer 986 trug. Aus den Leipziger Adreßbüchern läßt sich das allerdings nicht entnehmen; aus diesen erfahren wir vor dem Jahre 1815 überhaupt nichts über seine Wohnung. Er steht zwar schon seit 1800 im Adreßbuch, aber nicht unter den Zeichnern und Kupfer stechern, sondern nur unter den Mitgliedern der Linneischen Gesellschaft, die Professor Ludwig 1789 gegründet hatte und in die er wohl als Illustrator der beiden botanischen Pracht werke seines Gönners Pallas eingetreten war; die Mitglieder sind aber sämtlich ohne Angabe ihrer Wohnnng aufgeführt. Erst im Jahre 1816 erscheint er unter den Künstlern (Kupferstechern, Kunstmalern, Zeichnern) und nun mit Angabe der Wohnung: Fleischerplatz 986. Hier wohnte er aber damals schon längere Zeit; wie lange, und wo er vorher gewohnt hatte, ergibt sich aus den 1811 eingerichteten Büchern des Meldeamts der Polizei und andern Quellen. Aus Briefadressen von 1806 und 1810 und aus einer Annonce in der Leipziger Zeitung (22. September 1808), worin er »junge Leute« sucht, »welche das Jlluminiren verstehen«, wissen wir, daß er damals und wahrscheinlich schon seit seiner Verheiratung auf der Hintergasse (der heutigen Schützenstraße) im Lehmannischen Hause wohnte. Auch 1811 wohnte er noch dort, wie die Bücher des Meldeamts zeigen, und zwar in dem Hause Nr. 1216 (d. i. eben das »Lehmannische Haus«). Es ist also kein Zufall, daß gleich die erste der hübschen »Leipziger Kriegsscenen«, die er 1808 herausgab, in der dargestellt ist, wie kleine Vorstadtgassenjungen gutmütig und zutraulich die ersten eingerückten Franzosen in ihre Quartiere führen, auf der Hinter gasse spielt. Im Jahre 1814 erscheint er in den Meldebüchern zum erstenmal auf dem Fleischerplatze. Dorthin war er also 1813, wohl kurz vor der Schlacht, vielleicht zu Michaeli, gezogen. Welch wunderbarer Zufall! Als er nun am 19. Oktober die Schlußszene des großen Dramas mit ansehen konnte und mußte, die sich hier vor seinen Augen abspielte, hat er sich wohl sofort vorgenommen, das ge waltige Erlebnis in einem großen Gesamtbilde darzustellen. Aber dazu gehörte Zeit und Ruhe. Zunächst wollten die Buch händler befriedigt sein. Am 25. April 1815 zeigt die Sommersche Buchhandlung in der Leipziger Zeitung an, daß in ihrem Verlag zum Preise von einem Zwanzigkreuzer ein Kalender erschienen sei, der eine aus führliche Beschreibung der Völkerschlacht enthalte und »eine von Hrn. Geißler nach dem Leben gezeichnete Darstellung der Flucht der Franzosen am 19len Octbr. 1813 über den Kohlenplatz durch Richters Garten«. Natürlich war dieser Kalender — es war der »Kalender für gebildete Leser« vom Jahre 1815 — nicht erst jetzt, sondern schon gegen Ende des Jahres 1814 herausgekommen. Das beigegebene Bild ist Nr. 6 unsrer Reihe. Was den Verleger bewog, den Kalender gerade jetzt in Erinnerung zu bringen, war: es war Messe, und auf der Messe war — die Völkerschlacht zu sehen! Sie war schon zur Ostermesse 1814 zu sehen gewesen- Damals war der junge, später berühmt gewordene Berliner Deko rationsmaler Wilhelm Gropius mit seinem »Mechanischen Theater« in Leipzig gewesen und hatte in der Reitbahn hinter dem Komödien hause Vorstellungen gegeben. Was er vorführte, waren ge malte Prospekte (der Aetna, Gegend aus Norwegen, Innenansicht eines ägyptischen Tempels, Moschee in Jerusalem, Vogelschießen in Tirol usw.), belebt durch mechanisch sich bewegende Figuren und verschiedene Beleuchtungseffekte und mit Musik begleitet, also eine Art Vorläufer unserer heutigen Kinematographen. Unter anderm hatte er auch den Brand von Moskau und endlich auch die Schlacht bei Leipzig vorgeführt. Uber die letzte spricht er sich selbst freilich sehr vorsichtig im Leipziger Tageblatt aus (11. Mai 1814): »Um nicht durch Mißverständnis Gelegenheit zu Anforde rungen zu geben, welche in einem und demselben Tableau zu befriedigen durchaus zu den Unmöglichkeiten gehören würde, be merke ich, daß der Moment gewählt wurde, wo die französische Armee auf allen Seiten geschlagen und von den verbündeten 861