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174, 29. Juli 1912. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 8839 Und der Hans schleicht umher. Was kommt dort von der Höh'? Wo a klein's Hüttle steht. Zu Lauterbach Hab' i mein Strumpf verlor'n. ^ilel-slurberickt cies Verlages Oeorg Müller. dlüncken 1912. 6r 8°. 80 8. Der deutsche Büchermarkt, so reich seine Produktion von jeher gewesen ist, hat, was Sorgfalt in der Auswahl der Publikationen und in der Buchausstattung betrifft, seit Beginn des neuen Jahr hunderts sich ganz erstaunlich rasch und glücklich entwickelt. Die Anregungen, die der Jnsel-Verlag, Eugen Diederichs u. a. zuerst hier gegeben, haben sich als äußerst förderlich erwiesen. Die anfänglichen Bedenken, daß der erfreuliche Aufschwung in erster Linie einem kleinen Kreis von Bücherliebhabern zugute komme, daß verstiegen mystische Werke bezw. Neudrucke sich an einen exklusiven Kreis von Ästheten wenden und so einen gewissen Büchersnobismus zeitigen würden, sind längst zerstreut. Neben anerkannten Werken der Weltliteratur und Philosophie sind unsere besten neuen und alten Dichter in geschmackvollen, handlichen Ausgaben zu er- schwinglichen Preisen uns gewonnen bzw. wiedergewonnen worden. Unter den Verlegern, die sich hier unbestrittene und oft gewürdigte Verdienste erworben haben, steht in erster Reihe Georg Müller. So jung der Verlag — er besteht kaum zehn Jahre — noch ist, so groß ist schon die Zahl seiner Verlagswerke, so weit das Gebiet, das er pflegt. Er hat sich von Anfang an keine Beschränkung auf bestimmte literarische Richtungen oder rein bibliophile Tendenzen auferlegt und infolgedessen seinen Rahmen stetig erweitern können. An der Spitze des modernen Verlags steht natürlich die Pflege modernerDichter.Hiermöchte ich zuerst auf dieverdienstvolle deutsche Gesamtausgabe von Strindbergs Werken Hinweisen, die der jüngst verstorbene Dichter unter Mitwirkung von Emil Schering als Übersetzer selbst veranstaltet hat. Das gedruckte Werk, das Strindberg hinterläßt, findet heutzutage an äußerem Umfang kaum seinesgleichen; man müßte denn schon in die klassischen Zeiten zurückgehen. Es zählt über hundert Titel, und zwar, zum Unterschied von andern starken poetischen Arbeitern, die gewöhnlich Spezialisten waren, auf allen Gebieten; die Hälfte davon Dramen, über ein Viertel Romane, Novellen und Autobiographisches, dazu Verse und wissenschaftliche Studien. Er allein erreicht damit fast den Umfang von Zolas Prosa, überflügelt weit den von Ibsens Dramatik. Diesem äußeren Umfang, dieser Mannigfaltig keit des Ausdrucks entspricht eine gleichfalls außergewöhnliche Universalität des Gehalts, der Stoffe und Anschauungen. Kein anderer europäischer Dichter seiner oder der jüngeren Generation hat so vielfältig und rastlos die Fragen seiner Zeit gestaltet und damit zu beantworten gesucht, kein anderer sich so furchtlos und verschwenderisch, bis an die Grenze der Selbstvernichtung, mit seinem ganzen Menschen dafür eingesetzt. Die erste Abteilung, Dramen, auf 13 Bände angelegt, zählt schon deren 7, die zweite Abteilung, Romane, liegt in 5 Bänden fertig vor, die dritte, Novellen, zählt bis jetzt deren 6, die vierte, Lebensgeschichte, ist in 5 Bänden abgeschlossen, die fünfte, Wissenschaft, die siebente, Synthese, sind schon erfreulich gefördert. Über des großen nordischen Grüblers Werk orientiert vortrefflich Eßweins »August Strindberg im Lichte seines Lebens und seiner Werke«. Dieser bedeutenden Gesamtausgabe reihen sich an die ge sammelten Werke Frank Wedekinds in sechs Bänden; sie sollen das noch umstrittene Bild des jetzt fünfzigjährigen revolu tionierenden Dichters ins rechte Licht rücken helfen. Zwei schon verstorbene Dichter der jüngsten Generation werden ebenfalls durch Gesamtausgaben geehrt, Otto Julius Bierbaum mit zehn, Hermann Conradi, dessen 50. Geburtstag in diesen Tagen auf das früh verstorbene, noch ungeklärte Talent des jüngsten Sturms und Drangs hinwies, mit fünf Bänden gesammelter Schriften. Die meisten der Werke Wedekinds und Bierbaums sind auch in Einzelausgaben im gleichen Verlag erschienen. Eine besondere Gruppe bilden die modernen deutschen Autoren des Verlags. Fast alle stehen sie für sich allein, ohne Zugehörigkeit zu einer bestimmten literarischen Gruppe und repräsentieren sich dadurch gerade als scharf umrissene Persönlich keiten. Wir wollen hier nur an wenige Namen, an Wilhelm Weigand, Johannes Schlaf, Richard Schaukal, Wilhelm von Scholz und die jüngeren Kolbenheyer, Freksa, H. H. Ewers, an Namen wie Anna Croissant-Rust, Wilhelm Fischer-Graz, Adolf Pichler (Gesamtausgabe) erinnern. Unter den Lyrikern des Verlags treten außer den schon erwähnten Namen Ludwig Jacobowski, Hermann Hesse, Margarete Beutler hervor. An der Spitze moderner Essayisten steht natürlich Honorä de Balzac. Die »Physiologie des eleganten Lebens«, die »Phy siologie des Alltagslebens«, »Die Kunst seine Schulden zu zahlen«, alle drei zum erstenmal in deutscher Übersetzung erscheinend und mit Bildern von Daumier und anderen zeitgenössischen Illustratoren geschmückt, sollen eine Gesamtausgabe: »Balzacs Lebenskunst« bilden. Barbey d'Aurevilly, der Engländer Chesterton, die Deutschen Schaukal, Schmitz, Fred, Isolde Kurtz u. a. reihen sich als gern gelesene Essayisten an. Unter der deutschen Literatur und Weltliteratur stehen obenan die mustergültigen Ausgaben Schillers und Goethes, die Propyläenausgabe von Goethes Werken in 40 Bänden und 3 Supplementbänden, die Horenausgabe von Schillers Werken in 16 Bänden und 2 Supplementbänden, von denen bis jetzt 16 bzw. 5 Bände vorliegen; ihnen folgen die längst nötige Gesamtausgabe von Lenzens Werken, von deren 5 Bänden 4 abgeschlossen sind, eine zweibändige Sammlung von Herders Volksliedern. Unserer klassischen Dichterzeit ge hören gleichfalls an: Justus Mösers Patriotische Phanta sien und Karl Philipp Moritzens psychologischer Roman Anton Reiser. Der Kreis der Romantiker wird bis jetzt vertreten durch die stattliche Gesamtausgabe von Clemens Brentanos Werken in 18 Bänden, bis jetzt erschienen 6, E. T. A. Hoffmanns Werken in IS Bänden, Eichendorffs Werken in 5 Bänden. Zu Friedrich Hebbels 100. Geburtstag 1S13 wird die große Säkular ausgabe in 14 Bänden abgeschlossen sein. Grimms »Märchen« und »Deutsche Sagen«, Arnim-Brentanos »Des Knaben Wunder horn« bringen diese besten deutschen Hausbücher in sorgfältigster Ausgabe. Geplant sind ferner Neuausgaben der gesammelten Werke Otto Ludwigs, Friedrich Hölderlins und der Annette von Droste-Hülehoff, der Werke Jmmermanns, Bürgers und Jean Pauls. Das Scholzsche Balladenbuch (Bürger bis Lilien- cron) und Benzmanns Deutschlands Lyrik im Zeitalter der Romantik sind als fein abgewogene Auslesen längst vorteilhaft bekannt. Auch dem Ausland hat der junge Verlag seine Aufmerk samkeit zugewendet; hier treffen wir zunächst die klassischen eng lischen Erzähler Lawrence Sterne, Henry Fielding, Thackeray Edgar Allan Poe. Eine gute Thackeray.Ausgabe war längst ein Bedürfnis. Und so steht wohl zu hoffen, daß uns der Verlag eines Tages auch die deutsche Dickens-Ausgabe in der bei ihm gewohnten sorgfältigen Übersetzung und Ausstattung bescheren wird. (Auch zwei große deutsche Erzähler, Willibald Alexis und Jeremias Gotthelf, in würdiger Ausstattung herauszubringen, wäre eine dankenswerte Aufgabe.) Die großen französischen Erzähler und Dichter repräsentieren sich in Rabelais, Fabliaux, Montaigne, Le Sage, Lafontaine, Moliere, Scarron, Voltaire, Diderot, Beaumarchais, in den Romantikern Bertrand, Merimee, Villiers de l'Jsle-Adam u. a., in den Modernen Peladan, Anatole France, Farröre u. a. Von den Italienern wollen wir nennen Ariost, Cellini, die treffliche Sammlung »Perlen älterer roma nischer Prosa« und den jüngst verstorbenen Fogazzaro. Von den großen Russen sind Puschkin, Gogol, Turgenjew, Saltykow-Schtschedrin in Gesamtausgaben, von modernen russi schen Erzählern Artzibaschew. Kuprin, Ssollogub, Kusmin, Hippius, Remisow, Strug in einer Auswahl ihrer besten Werke bis jetzt vertreten. Bei einer Auswahl aus der Weltliteratur darf natürlich das Altertum nicht fehlen; die »Klassiker des Altertums« (erste Reihe, 24 Bände) bringen Plutarch, Horaz, Lukian, Sueton; die zweite Reihe soll im Herbst 1912 erscheinen. Die gebotene Aus wahl ist kulturhistorisch von höchstem Wert. Das Buch der Bücher, die Bibel, vier handliche Bände in edler Breitkopf-Fraktur und würdigster Buchausstattung von P. Renner, ist um so mehr zu begrüßen, als die Prachtausgabe der Reichsdruckerei die Apo kryphen, u. a. also den köstlichen Jesus Sirach, unbegreiflicherweise Die Abteilung: »Memoiren, Briefe und Bekenntnisbücher* 1152'