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lebens verschafft. München, das jetzt mit etwa 230 Zeitungen und Zeitschriften die deutsche Leserwelt beglückt, hat es ver- standen, auch diesen verwöhnten Gästen diese Tage organi satorischer Arbeit, die Tage der Klärung und Sichtung, durch einen würdigen Empfang zu verschönen. Begrüßt von den Spitzen der Behörden, von denen besonders unser Oberbürger meister vr. von Borscht aller Sympathie gewann, nahmen etwa 300 Helden der Feder, unter denen sich auch Di. Dreese- mann (Kölnische Volkszeitung), vr. Max Halbe, Karl Henckell, Georg Hirschfeld, Paul Marx (Chefredakteur des »Tag«) u. a, befanden, an den Beratungen teil. Eine wichtige Resolution wurde über die Gerichts- berichterstattung gefaßt; sie dürfte als vielleicht beste Frucht dieses Kongresses betrachtet werden, da sie die Inter essen des ganzen Volkes wahrnimmt: »Der Verein beauftragt den Vorstand, dahin zu wirken, daß Gerichtsberichterstatter und Zeitungen sich der Bericht erstattung über denjenigen Teil von Prozessen, in denen von sexuellen Verfehlungen die Rede ist, enthalten, für den die Öffentlichkeit zwar ausgeschlossen, die Presse aber zugelassen bleibt. Auch ist anzustreben, daß bei derartigen Prozessen die Erörterung über diese Verhandlungen in Stimmungs bildern wie die äußere Ausmachung der Berichte selbst sich von jeder sensationellen Ausschmückung fernhalten. Geboten scheint schließlich, zu bewirken, daß Konflikte zwischen Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern im Interesse des Ansehens der Rechtspflege nicht zum Gegenstände sensa tioneller Darstellung gemacht werden.« Durch die Hamburger Vorkommnisse wurde den Verhand- Iungen»llber den Z e u g n i s z w an g « ein besonderes Inter esse entgegengebracht, und die Resolution, nach der »nicht nur im Strafverfahren der Zeugniszwang ausgehoben, sondern auch bei den Bundesstaaten dahin gewirkt werden solle, daß imDisziplinarverfahren von dem Zeugniszwang kein Gebrauch mehr gemacht wird«, nach kurzer Debatte einstimmig ange nommen. Daß der Antrag des nächsten Redners, Redakteurs Hein rich Hink, der über »Nachdrucksfrage und Schieds gericht« sprach, und dessen Grundforderung war, daß auch nicht eine Zeile ohne Entschädigung nachzudrucken sei, de battelos angenommen wurde, ist leicht erklärlich, berührt er doch bessernd die vitalsten Interessen aller Journalisten. Die Formulierung dieses Antrags hat ja allerdings das erhobene Verlangen gemildert, indem sie nur »den Hauptvorstand be auftragt, die Nachdrucksfrage weiter zu verfolgen«. In der Debatte über die »Vorbildung der Jour- nalisten« hat der gesunde Mutterwitz gesiegt, indem nach vieler Rede und Gegenrede dem Vorschlag des Chefredakteurs der Münchener Neuesten Nachrichten, vr. Mohr, beigestimmt wurde, »daß der journalistische Beruf ein freier Beruf bleiben und nach wie vor jedem Berufskreise offen stehen mutz«. Da mit hat sich Deutschland den Standpunkt Amerikas zu eigen gemacht, des Landes der besten, schlagfertigsten Journalisten; es hat sich von einer ihm drohenden Zwangsjacke befreit. Und ganz zum Schluß kam der uns am meisten inter essierende Vortrag von Friedrich Huth über »Ver lagsbetrieb auf Kosten des Autors«, der sich unter Bezugnahme auf die Mitteilung des Knnstwarts über den eigenartigen Fall Pierson eingehend mit dem Kommissions verlag beschäftigte. Er hat einen praktischen Vorschlag ge bracht, der beiden Jnteressentengruppen zum Vorteil gereichen wird, da er beantragt, sich mit unserm Börsenverein und dem Deutschen Verlegerverein in Verbindung zu setzen, um mit ihnen geniFinfchaftlich vorzugehen. Nach all' den vielen bereits feststehenden Anmeldungen derartiger Versammlungen und nach den Berichten der Reisebureaus ist für München Heuer eine außerordentlich starke Fremdensaison zu erwarten; sie wird, da Cook für > Deutschland diesmal mehr in Anspruch genommen ist, als im Passionsjahr 1910, besonders viele Engländer und Amerikaner bringen, die allgemein nicht als schlechte Bücherkäufer einge schätzt werden. Es fällt mir schwer, von so manchem literarischen Er eignis der letzten Wochen nichts zu berichten. Lassen Sie mich deshalb nur noch einige kurze Angaben machen, um noch über ein gutes interessantes Buch über München plaudern zu können. Das hiesige Kartell der freiheitlichen Vereine hält in jedem Frühjahr wissenschaftliche Kurse ab, die die Ethik und die Ergebnisse der Wissenschaft in Einklang zu bringen suchen. Für Heuer wurden 4 Kurse zu je 6 Vorlesun gen abgehalten: R. H. Francs, Natur und Mensch, H. Bohlen, Einführung in die Soziologie Müller-Lhers; E. Homeffer, Religion und religiöse Zukunft, und A. Horneffer, Herkunft und Ziele des Freimaurerbundes. Professor Paul S. Reinsch von der Wisconsin- Staatsuniversität in Madison hielt als erster amerikanischer Austauschprofessor in München eine Vorlesung über den »Kampf zwischen Privat- und öffentlichen Interessen in Amerika«, die von einem sehr zahlreichen Auditorium von Studenten, Professoren und geladenen Gästen mit begeister tem Beifall ausgenommen wurde. Besonders bemerkenswert sind noch die religionsphilo sophischen Vorträge von vr. Johannes Müller über »Das Leiden unter dem Leben«, »Genius und Persönlichkeit«, »Schöpferische Entfaltung und Arbeit an sich selbst« und »Menschen untereinander«. Sie zeugen von einem reichen inneren Erleben, wie seine Werke, und fesseln durch die Per sönlichkeit des Vortragenden selbst, der aus reifster Über zeugung um die Erhaltung und den Ausbau echter Religion besorgt ist. Sein Antipode, eines von den Kindern der Welt, das feine Religion stets im Reiche der Kunst, und zwar der dra matischen, gesucht und auch gefunden hat, FelixPhilippi, hat uns in seinen »Münchener Bilderbogen« zur gleichen Zeit ein prächtiges Buch über München und über die Münchener beschert. Wenn er sich in ihm auch hauptsächlich über Mün chener Künstler vernehmen läßt, so ist doch so manches Liebe und, was die Hauptsache ist, Treffende über die Stadt selbst wie über die Autochthonen, die Ur-Münchener, eingeschlossen, daß man merkt: hier spricht einer, der unser Isar-Athen in den 15 Jahren, die er in ihm verbracht hat, liebgewann, der die rauhe Schale sprengte und den schmackhaften Kern genoß. Hier erzählt einer, der durch all die Bierdünste und Weihrauch düfte noch den Menschen sah und ihn liebgewann. Und was er als Preuße, »ja, ich glaub' sogar, es is a Berliner«, über den Temperaments- und den Nationalitätsunterschied sagt, das können sich die Norddeutschen, noch mehr aber die Münche ner fest einprägen. Der alte Dünkel, den jeder der beiden Wilden hegt, daß sie doch bessere Menschen seien, wird dann allmählich schwinden und nur noch der Mensch zum Menschen sprechen. Und menschlich nahe bringt er uns auch die Großen aus dem Genieland, die er getroffen und mit denen er gelebt, mit denen er gelacht und mit denen er gelitten hat. Und wie er plaudert, so fesselnd und dabei plastisch gestaltend; cs wird alles wieder lebendig, und manche liebe Schatten steigen ans. Lenbach, der sich durch alle Malweisen durchgearbeitet hat, um schließlich zum unübertrefflichen Darsteller des Auges, dieses Spiegels der Seele, zu werden. Der alte Graf Schack, der, schon halb blind, feinem Besucher noch die Schönheit seiner Gemäldesammlung zeigt und erklärt. Franz von Defregger, dem auch das Adelsprädikat seine natürliche Liebenswürdig- keit nicht genommen. Wilhelm Trübner, den er als Menschen 'mit einem starken Selbstbewußtsein, mit einem Hang zum