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41, 18. Februar 1895 Nichtamtlicher Teil. 905 Gewerbeordnung dem Hausierhandel auferlegt, für so bedeutend, daß man sie nicht gern einem anderen Berufe aufhalsen möchte. Dann kommt aber noch weiter hinzu: der Detailreisende ge hört auch zu einer anderen Berufsgruppe als der Hausierer im allgemeinen. Wen treffen denn gerade diese Bestimmungen, die in der Gewerbeordnung gegenüber dem Hausierhandel zur Durchführung gelangen sollen? Sie treffen den Handelsan gestellten; er hat die ganze Last zu tragen. Was fragt der große Kaufmann danach, ob er einen fünfundzwanzigjährigen Mann engagiert oder einen älteren Mann? Er kann sic be kommen, sie sind ja im Ueberfluß vorhanden, so daß für ihn diese Bestimmung kein Erschwernis ist, daher auch keine Ab nahme des Hausierhandels in dieser Form zu verzeichnen ist. Aber auch die Besteuerung der Wandergewerbescheine wird hierdurch den Handelsangcsteltten aufgelegt; es wird ihnen die Verpflichtung übertragen, sich diesen Wandergcwerbeschein zu verschaffen und auch die Steuern noch dafür zu tragen. Einer solchen Bestimmung, welche die Handclsangestelltcn schädigt, die so schon unter den schwierigsten Verhältnissen zu leiden haben, können wir niemals zustimmen Ich habe nur noch eine Bestimmung zu kritisieren, und das ist folgende. Nach dem Zentrumsentwurf soll ein Hausierer ein Haus oder Gehöft nicht betreten, wo ihm der Eintritt ausdrücklich untersagt ist. Wenn Sie diesem zustimmen, dann würde eigentlich das Hausiergewcrbe vollständig beseitigt sein. Denn wenn diese Bestimmung gewissenhaft durchgcführt werden könnte — was ja wiederum schwer ist —, dann dürfte heute kein Hausierer ein Haus oder Gehöft betreten; denn es gicbt fast kcins, wo nicht eine dahingehende Bekanntmachung an geheftet wäre. Ich sage also zum Schluß: es liegt gar keine Veran lassung vor/ derartige Bestimmungen zum Schutze des seßhaften Handels zu schaffen, weil sie nicht die Gewähr bieten und nicht bieten können, daß dieser wirklich den Vorteil dadurch erlangt, den Sie glauben damit erreichen zu können. Wir sind der Meinung, in dem Augenblick, wo die Gesetzgebung dazu greift, Tausenden van Leuten ihr Gewerbe zu erschweren oder unmöglich zu machen, mutz sie auch sagen können: hier ist für euch eine andere Stätte, wo ihr euren Wirkungskreis ausübcn könnt. Meine Herren, das können Sie heute nicht sagen. Wenn hier Tausende aus ihrem Berus herausgestoßen werden, giebt cs für sie keine Möglichkeit, in einem Beruf unterzukammcn. Ich habe selbst vor kurzem hier in Berlin in einer- großen Versammlung von Interessenten dieses Berufs ge sprochen und habe den Leuten gesagt, ich glaube, daß, wenn sie zu einem anderen Beruf greifen könnten, sie mit beiden Händen Zugriffen; denn der Beruf des Hausierers ist wahrlich nicht ein solcher, daß sie mit allzu viel Liebe zu diesem Beruf entflammt sein könnten. Aus der Versammlung ist mir darauf abseitige Zustimmung zu teil geworden. Sie geben ihren Beruf mit Freuden auf, wenn die heutige Gesellschaft ihnen Gelegenheit giebt, in einem anderen Beruf auch nur annähernd eine Existenz zu finden. Warum nimmt aber der Hausier handel heute so zu? Es ist weiter nichts daran Schuld, als unsere ganzen sozialpolitischen Verhältnisse. Es ist der letzte Rettungsanker des Verunglückten, aus seinem Beruf Herausgestoßenen, daß er zum Hausierkasten greift. Und alle die Hausierer, die Sie beobachten, geben ein Bild tiefen sozialen Elends; es sind das nicht Leute, gegen welche die Gesetzgebung in Anspruch genommen werden sollte, sondern die man nur tief bedauern kann wegen ihrer Stellung. Die Stützen des heutigen Staats sollten darauf hinarbeiten, daß diese Opfer der heutigen Gesellschaft eine angemessene und bessere Stellung im gesellschaftlichen Leben einnehmen können. Die Gelegenheit dafür ist heute nicht vorhanden, und ans Zweiunbsechzicistee Jahrgang. diesen Gründen müssen nur gerade diesem Beruf, weil er dcr lctztc Zufluchtsort vieler zu Grunde gerichteter Existenzen ist, unsere Unterstützung leihen. Tausende und aber Tausende im Winter Arbeitsloser wissen keine andere Zuflucht mehr und können zu nichts anderem mehr greifen, weil ihnen die Mög lichkeit genommen ist, andere Beschäftigung zu finden. Dazn kommt die große Zahl derjenigen, die vielleicht körperlich nicht mehr die Fähigkeit haben, ihren Beruf auszufttllcn. Kurz und gut, ich sage: die Zahl derjenigen, die heute im Hausierhandel beschäftigt sind, das sind größtenteils Leute, die man bedauern kann, die ein äußerst trauriges Bild unserer ganzen sozialen Verhältnisse bieten, und die man nicht durch die Gesetzgebung in ihrem reellen Lebenserwerb schädigen sollte. Einem Gesetzentwurf aber, der Tausende von Menschen ihrer Existenz beraubt, können meine Parteifreunde niemals zustimmen. (Bravo! links.) Abgeordneter Gräfe: Was den Hausierhandel anlangt, so möchte ich eine Frage hier zum Ausdruck bringen, welche weite Kreise der Hand werker und Kleingewerbtreibenden, namentlich in den Mittleren und kleineren Städten, in der Provinz beschäftigt, und ich bin dem Herrn Abgeordneten Du Schaedler vom Centrum sehr dankbar, daß er bereits diese Frage angeschnitten hat. Ich meine das Sonntagsruh egcsetz. Man begreift im Lande draußen nicht — ich will vorausschicken, daß wir prinzipiell auf dem Boden der Sonntagsruhe stehen und für diese auch immer eintreten werden — man begreift aber im Lande thatsächlich nicht, wie man dieses Gesetz cinführen konnte, ohne dafür die notwendigsten Vorbedingungen zu schaffen. Solche Vorbe dingungen sind für uns: die möglichste Beseitigung und Be schränkung des Hausierhandels, des Detailreisendenhandels, der Wanderlager u. s. w. u. s. w. Meine Herren, erst nachdem diese sozialpolitischen Gesetze auf dem Gewerbegebiete durch führt waren, konnte und durfte ein derartiges Gesetz ein geführt werden. Jetzt wirkt es geradezu vernichtend für unsere kleinen Gewerbtreibenden; denn in den fünf Stunden, die ihnen des Sonntags freigegebcn sind, ist es nicht möglich, daß jene Geschäfte, welche hauptsächlich auf Landkundschaft angewiesen sind, einen Umsatz erzielen, wie früher; im Gegenteil, es ist den Landlcuten nicht möglich, sich gewisse Stunden auszu suchen und in den paar Stunden hereinzukommen. Es werden Tausende und Abertausende von Existenzen vernichtet, und der Segen der Sonntagsruhe ist dadurch verloren. Aber, meine Herren, auf der anderen Seite können Sie sehen, daß, wenn Sie nicht nur aus Statistiken schöpfen, sondern Ihre Früchte der Erkenntnis vom grünen Baum des Lebens pflücken wollen — das sage ich auch dem Herrn Minister — wenn sie sich ins Land hinausbegeben wollten und sehen und hören wollten, dann würden Sie finden, daß dort, was auch be stritten worden ist, das Hausiergewerbe durch die Sonntags ruhe geradezu gezüchtet worden ist. Meine Herren, was den Hausierhandel selbst anbclangt, so sind wir ganz entschieden der Meinung, daß er ein geschränkt werden muß. Aber die Regierung sagt ja ganz richtig in ihren Motiven: der Hausierhandel nicht allein schädigt den seßhaften Gewerbestand, sondern auch die großen Waren häuser, die Versau dgesch äste Ich füge hinzu: die Fünf zigpfennigbazare u. s. m. Wenn aber die Regierung das erkennt, so müßte sie doch versuchen, uns zu helfen, oder doch mindestens den Versuch machen, auch nach dieser Richtung hin Abhilfe zu schaffen. Ich gebe zu, es ist schwer. Ich will nur hernusgreisen, ob es nicht möglich wäre, für jene Geschäfte eine Umsatzsteuer einzuführen; aber auf dcr anderen Seite, glaube ich, wird es möglich sein, der Filial- wirtschaft cntgegenzutreten. In der Putzbranche u. s. w. 123