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206, 5. September 1916. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Als erster Redner aus dem Meise des Buchhandels verbrei tete sich Herr Kommerzienrat Artur Seemann, der Erste Vorsteher des Börsenvereins, über Art und Aufgaben der Deut schen Bücherei, um am Schlüsse dem Danke des Buchhandels für die so außerordentliche und vielseitige Förderung dieses Unter nehmens an alle Beteiligten Ausdruck zu geben: bw. Majestät, Königliche Hoheiten, .Hochansehnliche Versamm lung! Das; dn nicht enden kannst, das macht Dich groß, Und das; Du nie beginnst, das ist Dein Los. Dieses Wort Goethes könnte ebensogut in Goldbnchstaben an der Stirnseite der Deutschen Bücherei stehen, wie die beiden glän zenden Sprüche, die ihr als Geleitwort vom Königlichen Ministerium des Innern mitgegeben worden sind. Das Werk, dessen Stapcllanf wir heute feiern, wird niemals fertig werden, weil der Geist, der diesen Körper baute, immer fort wirken und jeden Tag eine theoretische Ewigkeit in eine praktische nmzusetzen bestrebt sein soll, solange das deutsche Idiom gesprochen, geschrieben und gedruckt wird. Wenn wir den Glauben haben wollen, das; deutsches Wesen An spruch auf immerwährende Geltung habe, solange unser Planet Leben hervorbringt, so müssen wir und alle, die solche Überlieferung wün schen, dem flüchtigen Augenblicke Dauer zu verleihen suchen und nicht nur für die Mitwelt, sondern auch für ungcborene Geschlechter zu wirken gesinnt sein. Tie Deutsche Bücherei ist bestimmt, ein Stapel platz und Ankergrnnö des deutschen Wortes zu sein; und wenn nach Fausts Übersetzung das Wort — Io§os auch Sinn, Kraft und Tat be deutet, so wird dieser neue tÜ683iiru8 Oermauieae zugleich eine Wirkungsstätte deutschen Sinnes, deutscher Kraft, deutscher Tat im faustischen Sinne werden müssen. Das; Dn nicht enden kannst, das macht Dich groß. Groß, nicht räumlich nur, nein, ins Feierliche gewendet, erhaben erscheint alles Gute, das über menschliche Einzelkraft hinausgeht, und so ist es auch mit dem Leben, das sich hier entfalten und, wills Gott, nie enden soll. Aber ein Bruchstück wird die Deutsche Bücherei auch nach der Sette der Vergangenheit bleiben müssen. Wie unser Wissen Stück werk ist, so sind es auch dessen greifbare Abbilder, die Bibliotheken; ihre Bestimmung ist, fortzufahren, nicht zu beginnen. Auch der neuen Schöpfung stand der Gedanke hemmend im Wege, das; sic unr ein Torso bleiben könne; aber wo wäre die Bibliothek, die mehr ist als ein Ausschnitt des gesamten Schrifttums, welche hätte je ver mocht, das ganze Flußnetz des Literaturstroms zu umspannen? Alle müssen sie, ebenso wie die Deutsche Bücherei, das in maxnw voIrÜ886 83t 68t erfahren und sich mit dem erreichbaren Teile begnügen, der für das unerreichbare Ganze zu stehen hat. Und das; dn nie beginnst, das ist Dein Los. Trotz dieser Unvollständigkeit nach beiden Seiten hin werden in allen ernst geleiteten Bibliotheken Ewigkeitswerte erhalten. Bücher sind Mnmienwcizen, der keimfähig bleibt. Der Strom der Zeit wäscht ja das Gold ans dem zerriebenen Gestein; durch Glanz und spe zifisches Gewicht wird cs verhindert, ins Meer der Vergessenheit zu fließen. In Büchereien wird bewahrt, was sich bewährt, und soweit für Menschenwerk Ewigkeit beansprucht werden kann, hier wirb sie am sichersten verbürgt. Und da sollte man denn nicht zu wählerisch sein im Festhalten dessen, was von den Autoren der Nachwelt ans Herz gelegt worden ist. Man kann als Bibliothekar dem anvertranten Gnt gegenüber drei verschiedene Standpunkte einnchmen. Der erste ist der öko nomische oder deutsch gesprochen, der landwirtschaftliche, der in jedem Werke eine geistige Futterpflanze sieht, die den Hunger nach Wissen zu stillen hat. Der zweite Standpunkt ist der gärtnerische, der außer dem Nährwert auch noch Form, Farbe und Duft schätzt; der dritte aber, der umfassendste und der, den auch die Direktoren der Deut schen Bücherei satznngsgemäß einznnehmen haben, ist der botanische, der jedes Buch als Naturprodukt willkommen heißt, der das Schrift werk als Ding an sich, zunächst ohne Relation zu dem Einzelnrteil Mitlcbender cinstellt, ähnlich wie der Pflanzensorscher jede Spielart anfspürt, beschreibt und einordnet, einerlei, ob sie schädlich oder nützlich, schön oder häßlich ist, selten oder häufig vorkommt. Dieser - letzte Standpunkt ist der philosophische, der lehrt, das; es nur eine Zeitfrage ist, daß ein unscheinbares Zeugnis Bedeutung gewinne; es bedarf ja nur einiger Jahrhunderte Abstand. Von hier aus be trachtet, erscheint die Literatur eines Volkes wie eine ungeheure Orgel, in der jedes Geistesprodnkt eine Pfeife öarstellt, die ihren eigenen Klang hat. Der wählende Bibliothekar gleicht dann einem Orgelbauer, der ans dem ihm zuwachscnden Reichtum seine Pfeifen schneidet und daraus sein verkleinertes Abbild, sein Positiv her stellt. Aber vergebens wird er sich mühen, nur solche Elemente ein zustellen, die dauernd tönen. Auch in kleinen Bibliotheken gibt es literarische Individuen, die lange verstummen, weil der Windhauch der Zeit sie nicht mehr erreicht, die in Dornröschenschlaf versinken und nur noch ein Magazindasein fristen. Wenn man will, kann man diesen Ballast ja als Makulatur bezeichnen; aber dieser ta delnde Begriff ist relativ, nicht absolut: nur ein Leichtfertiger wird sich vermessen, das Urteil der Nachwelt vorauszunehmen. Der Sorg same weiß, daß der Lesestoff verschieden wirkt, das; des Lesers Hauch das Buch belebt und das; der interessante Kopf den scheinbar gemeinen Stoff zu adeln weiß. Zwischen den blinden Passagieren einer sorgfältig gewählten Bi bliothek und denen der Deutschen Bücherei ist daher nur ein ziffer mäßiger, kein grundsätzlicher Unterschied. Der Geisterbeschwörcr aber, der einmal die Stimme eines literarisch Abgeschiedenen ver nehmen will, wird hier in der Deutschen Bücherei die scheinbar Ent schlafenen nicht vergebens befragen. Er wird die Wahrheit des schönen Wortes des Grafen Platen erfahren: Ein jedes Band, das noch so leise die Geister aneinanderreiht, Wirkt fort auf seine stille Weise durch unberechenbare Zeit. * Der bedeutendste Gewinn, den das deutsche Vok aus der neuen, mächtigen Schöpfung ziehen wird, ist der eines Gesundbrunnens und eines Kraftspeichers. Hier sprudeln ja nun die unermeßlichen Quellen germanischen Geistes, läutern die Seelen, laben die Herzen und begrünen die Welt. Auch wird die Deutsche Bücherei eine Em- fangsstation aller geistigen Wellen sein, die den Bereich des Volkes durchfluten und den elektrischen gleich hier aufgefangen und unter sucht werden können. Dadurch ist dies Qucllhaus auch ein Arsenal der geistigen Waffen aller deutschredenden Völker. Wie bekannt, rühmt sich unser zähester und unerbittlichster Gegner, jener Misch ling aus keltischem, angelsächsischem und normannischem Blut, über die mächtigste Schiffsflotte der Welt zu verfügen und leitet daraus den Anspruch ans unbedingte Beherrschung des Welt meeres her. Aber sind es denn die Schlachtschiffe, die Torpedo boote, die das noch tobende Ringen der Völker entscheiden werden? Sind es die Kriegswaffen überhaupt, die Kanonen, Sprengstoffe, Bajonette, Menschenmassen? Gewiß nicht. Nicht an die Zahl, weder der Kämpfer, noch ihrer Waffen, noch der Goldstücke ist der Sieg geknüpft, sondern allein an die scharfsinnige Anwendung jener Kriegsmittel. Die greifbaren Erzeugnisse sind doch nur sekun däre Waffen; die ursprüngliche aber, die alle jene Hilfsmittel erst schafft und mit Erfolg anzuwenöen lehrt, ist das menschliche Ge hirn, die oberste, furchtbarste Waffe, die es gibt. Es ist die Urteils kraft, die Einsicht, der Scharfsinn, die alle jene Waffen erst schleifen. Dieser Krieg, den wir jetzt führen, ist wissenschaftlicher als jeder frühere. Es ist ein Krieg der Physik, ein Krieg der Chemie, ein Krieg der angewandten Mathematik. Und da dürfen wir Deutschen denn mit Stolz darauf Hinweisen, daß die geistige Flotte des Volkes, die Bücher und Zeitschriften, auf seinem Boden viel zahlreicher entsteht und kräftiger gedeiht, als sonstwo in der Welt. Hier ist die Zahl insofern von Bedeutung, als die intellektuelle Macht eines Volkes durch den Reichtum seiner Literatur unmittelbar gekenn zeichnet wird. Bücher aber sind die Schleifsteine des Gehirns; und es ist doch gerade jetzt mit Händen zu greifen, daß jene Universal waffe des Menschen immer neue unerwartete Schöpfungen her vorbringt, die schon durch ihr bloßes Erscheinen in Erstaunen setzen und die Berechnungen der Gegner zu Schanden machen. Woher kommt es denn nun aber, daß gerade der deutsche Boden ein geistig so ergiebiger geworden ist? Daher, das; dieses Volk im Gegensatz zu seinen Nachbarn über eine Unmenge von Bildungs stätten verfügte, die Jahrhundert lang in lebhaftem Wettbewerb standen und sich selbst regierten. Es ist, kurz gesagt, die geistige Dezentralisation, die dem deutschen Volke eine schier unermeßliche Kraft verleiht und es befähigt, die schwerste Prüfung zu bestehen, die ihm je anferlegt worden ist. Die politische Kleinstaaterei, so nachteilig sie in anderer Beziehung gewesen sein mag, so lange sie Deutschland im europäischen Konzert zu einer Nebenstimme ver urteilt hatte: sie hatte zur Folge, das; sich aus der Masse seiner ganz verschieden geleiteten, selbständigen Bildungsstätten jene überraschend reiche, wissenschaftliche und technische Literatur entwickelt hat, die der Nation nun Kraftänßernngen kriegerischer Art erlaubt, an die zurzeit kaum ein anderes Volk der Erde denken kann. So wichtig es ist, das; im Kriege gegen die Außenwelt ein einziger Wille herrsche, der im entscheidenden Augenblick alle Kräfte summiert, so wichtig ist es gleichfalls, das; ans dem Gebiete der Erkenntnis und Forschung ans allen Stätten, wo Wissen und Können sich um Fortschritt müht, der freie, durch keine andere Rücksicht beeinflußte Wett bewerb in der Gelehrtenrepnblik erhalten bleibe. Diese Wahrheit 1155