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14710 VSrsenblatt f. d. DtM. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. ^k^271, 21. November 1S12. Nichtamtlicher Teil. Münchner Briefe. VIll. <VII. vgl. Nr. LL1.> »D'Wies'n.« — Elve Verdächtigung. — Pfadfinder. — Münchner Bllcherplatat und Reklamemarkcn. — Prvpagandamarken - Aus stellung. — Lotteric-Haupteinnehmer. — Der Balkankricg und das Weihnachtsgeschäft. — L. Dhoina s Magdalena. — Deutscher Kongreß für Jugeudkunde und Jugendbildung. — Das Deutsche Museum. Die Oktoberfestwogen sind nun längst verrauscht, und wir arbeiten bereits auf Weihnachten zu. Für die Sortimenter bleibt ja wenig Zeit übrig, »d' Wies'n« zu besuchen, da der Schulanfang und der Beginn dieser aller höchsten Festtage Münchner Lebenslust zusammentreffen. Wenn aber St. Petrus ein Einsehen hat und einen schönen Sonntag schickt, dann wird auch der eine oder andere Kollege gern mit den Tausenden und Tausenden hinauswallen und zu Füßen der Bavaria auf der Theresienwiese die große Kirch weih mitfeiern. Bilden doch der Fasching, der Salvator und d'Wies'n die schöne Dreieinigkeit Münchner Lebensfreude; die »oberste« davon aber ist »d' Wies'n«. Wie der Wiener »znm Heurigen« nach Hitzing, so pilgert der Münchner »zum Märzen« auf d Wies'n. Es ist aber, trotz dem großen Bierver brauch auf dem Oktobersest, falsch, von einem Bierfest zu sprechen. Es ist nichts anderes, als eine große Kirchweih, wenn wir von der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes absehen und nur den Begriff der naiven Festfreude, zu dem es die Be gleitumstände gewandelt haben, gelten lassen. Ganz München trifft sich hier, an schönen Tagen oft in drangvoll fürchterlicher Enge, ganz München freut sich hier des lebendig reichen Schö nen und ganz München fühlt: hier bist du Mensch, hier darfst du's sein. Ich habe so manchen grübelnden Philosophen und so manchen hyperempfindlichcn Ästheten durch die Reihen der oft primitiven Buden, durch die Paradieseshelle Gabrielscher Etablissements schreiten sehen mit einem Festglanz in den Augen, mit einem stillen, zufriedenen, wenn auch überlegenen Lächeln. Dieser »Budenzauber« hat sie wenigstens wieder einmal zurückgebracht in die reale Welt, in der den meisten über dem Ringen nach Brot, über dem Kampf im täglichen Er werb keine Zeit für Ästhetik bleibt. Denen aber, die Werktag für Werktag in der Tretmühle mechanischer Berufsarbeit stehen, gelten solche Feste, auf die sie sich wochenlang freuen, als eine 'notwendige Unterbrechung in des Jahres Einerlei. Ja, der Staatskörper hat solche Volksfeste genau so notwendig wie der tierische Organismus den Nahrungswechsel; sie verhindern die Monotonie der Lebensführung und erhalten dadurch die Le bensfreude der kapitalschasfenden breiten Masse. Wenn nun aber bei solchen Gelegenheiten die gesteigerte Lebenslust Aus schreitungen veranlaßt, dann wird nach Verboten gerufen, dann ist, Uoeus xveus uurloeus! der kartesianische Teufel »Al kohol« wieder an der Oberfläche und mutz für alles herhalten. Dann räsonnicrt man wieder über München als Bierstadt und fühlt sich Wohl in seiner Rolle als Pharisäer. Lasst dem Münchner sein gemütliches Beisammensitzen beim Bier; es bringt die Menschen, wie Herr Pape ja jüngst ausgeführt hat, einander persönlich näher. Aber zerstört doch endlich einmal das Märchen dom ewig durstigen, bierseligen Münchner. Bedenkt doch die vielen Taufende von Fremden, die nnsere Residenz alljährlich besuchen, die vielen Studenten und Kunstbeflissenen, die bei uns zu Gaste sind; sie sind noch immer bessere Konsumenten des einheimischen Produktes als der Münchner selbst. Diesen aber zum Abstinenten machen zu wollen, ist ein lächerlicher Gedanke; denn er hat noch die Kraft in sich, den goldenen Mittelweg zu halten, und pfeift in diesem urwüchsigen Bewutztsein auf alle nieversuchte Tugend. Ich bin ein recht mäßiger Trinker, wenn ich mich auch immer auf mein Glas Bier freue. Daß ich mich aber hier er eifere, das hat mit seinem Singen ein Pfadfindcrkalender getan. In dem steht wörtlich: Es gibt Leute, die haben immer Durst. In unserer liebe» Vaterstadt, deren Geschmack weltberühmt ist, deren ständig wach sende Schönheit ieder täglich mit stiller Freude genießt, gibt es einen einzigen, ewigen großen Durst. Darum entfällt auch i» Bayern auf den Kopf der Bevölkerung ungefähr viermal jo viel wie im übrigen Deutschland. Ein Bier mit ehrwürdigen, Namen jagt bas andere, und im Oktober liegt ein richtiger Dunst über München, eine Mischung von Bier und Hering. Schrecklich, schrecklich! Das wäre ja zum Fürchteu, ist aber doch, dem Himmel sei Dank, nicht so. Ich will von der alles beweisenden Kraft der Statistik absehen; ich will nur auf die Fremdensrequenz Hinweisen, uno dann nehme ich meine eigene Kenntnis noch zu Hilfe und kann nur urteilen: Ich weiß, daß hier Vas alte Mittel benutzt worden ist, daß oie sorgende Mutter auf den Honigtopf »Gift« geschrieben hat. Ich weiß, daß man in vielen Fällen nur durch kräftige Über treibung etwas erreichen kann. Aber ich bitte doch darum, daß diesen Kernjungen, denen die Tatkraft in Len wenigen Jahren schon eingepflanzt wurde, keine Limonadenseelen eingehaucht werden. Warnt ruhig vor dem Alkohol, indem ihr sie über oas Zuviel, über die Unzeit des Genusses aufklärt. Aber setzt mir dabei das liebe München nicht so herunter; es ist hinsichtlich des Durstes nicht besser und nicht schlechter, als andere Städte sind, mögen sie Weiße, Gose oder Wein ver schenken. Und nehmt den Jungens vor allem nicht den Re spekt vor ihrer Vaterstadt. Es wäre auch jammerschade, wenn dieser schönen Be wegung, die jeden Freund einer natürlichen Entwickelung ent zücken kann; etwas Unschönes anhaften würde. Ich freue mich, so oft ich einen dieser frischen Jungens sehe, oder wenn ich sie beim Abkochen auf meinen Wegen antreffe. Wir hatten ja auch unsere Schülertouren; leider aber war bei diesen nicht wie bei den Pfadfindern der Leiter ein väterlicher Freund, son dern eine Respektsperson, ein Herr Professor, womöglich der Ordinarius. Leider war auch von keinem Entwickeln der halb verlorenen Instinkte, von keinem Entfernungsschätzen, Spur finden usw. die Rede; wir mutzten botanisieren und gleich klassifizieren. Bei den Pfadfindern aber ist die natürliche Ent wicklung das oberste Gesetz; durch die Natur in der Natur. Es wird also der Überspannung der Geistesarbeit das rechte Gegengewicht gegeben. Es wäre deshalb nur zu wün schen, daß recht viele Jungens für diesen Hort der deutschen Nation gewonnen würden. Wir Buchhändler sollten auch hier mal Pioniere der Kultur sein, in dem wir an Weihnachten aus das Pfadfinderbuch Hin weisen. Auch die Turnvereine und die Knabeninstitute sollten nachhaltend darauf aufmerksam gemacht werden. Der Verlag stellt gewiß Prospekte und Anschreiben gern zur Ver fügung. Trotz der obenerwähnten übertreibenden Beurteilung unserer Stadt: ich halte viel, recht viel von dieser Bewegung und möchte daher auch hier für sie werben. Wir sind ja allmählich auf dem einzig richtigen Stand punkt angelangt, daß wir für das, was wir als gut erkannt, mit aller Kraft eintreten müssen, daß wir alle Gelegenheiten dazu benutzen dürfen. Und daß gerade der Münchner Buch händler-Verein den ersten großen Schritt in dieser Erkenntnis tut, freut-mich doppelt. Wir konnten gerade auf dem Oktober fest durch die japanischen Gänse, ein wertloses Spielzeug, einen Jux-Artikel, den die Hausierer in Massen verkauften, ersehen, wie die Spielwarenindustrie jede Gelegenheit ergreift, Nach frage nach ihren Artikeln künstlich zu erzeugen, wie sie den Augenblick ausnützt. Warum sollen wir von oiesen und ande-