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125. 1. Juni 1912. Fertige Bücher. S«rs,E°tt I. d, Mlchn. «Eandil. 6715 Der neue Traub ist kein Andachtsbuch im land läufigen Sinne. Es ist wohl kaum eine Bibel stelle zitiert. Aber es ist ein Buch, das jeder brauchen kann, der im Lebenskämpfe steht, es ist ein männlich aufrechtes Lebensbuch. Eine ^ Ehe /solches Wort berührt uns wie gesunder, frischer Luft- zug. Dazu kommt es von einem Mann, der für die „Frauenbewegung" in seiner Zeit mehr getan hat, als manche Frau in ihrem Verein heute tut. Was geht diesem zweiten Gebot in dem „Katechismus der Vernunft für edle Frauen" voran? „Du sollst dir kein Ideal machen", heißt es da, „weder eines Engels imLimmel, noch eines Leiden aus einem Gedicht oder Roman, noch eines selbst gelräumten oder phantasierten; sondern du sollst einen Mann lieben, wie er ist. Denn sie, die Natur, deine Lerrin, ist eine strenge Gottheit, welche die Schwärmerei der Mädchen heimsucht an den Frauen bis ins dritte und vierte Zeitalter ihrer Gefühle." Freilich ist die Mahnung wechselseitig gemeint. Ein seitig gemeint könnte sie mancher Bequemlichkeit des männlichen Geschlechts zur Entschuldigung dienen. Aber von jeder Seite zur andern hinübergesprochen sind es goldene Worte. „Wie er ist" — sehen wir denn nicht von selbst so deutlich, daß wir dazu keiner Mahnung be dürfen? Ein unglückliches Beisammensein, wenn die Beiden nicht, mehr auf Entdeckerfahrten miteinander zie hen, als ob sie sich in ein paar Jahren des Lebens kennen gelernt hätten Viel bewußte und unbewußte Täuschung liegt in der Meinung, daß man den andern ausgeschöpft habe. Geradezu etwas von Verachtung birgt solche Langeweile in sich. Daß eine Menschenseele in aller nächster Nähe und engster Berührung mit uns ihr eignes Leben erlebt, daß wir das beobachten dürfen wie steten neuen Frühling, das ist die fröhliche Erkenntnis fahren- Probe ^ " " Du sollst einen Mann lieben, wie er ist. Schleiermacher der Schüler in der Ehe. Solche werden wir bis an unser Lebensende bleiben. „Wie er ist" — da denkt man zunächst an seine schlech ten Angewohnheiten, und an ihre Fehler. Lat man sich als erwachsener Mensch noch nicht einmal das eine klar gemacht, daß Faules allerdings aufdringlich riecht, das Gesunde aber unmerkbar erfrischt? Das wirklich Gute in einem Menschen gelten zu lassen ist die größte Liebe. Sie fordert vor allem die Ehe. Dieses wirklich Gute hängt vielleicht an knorrigem Ast oder ist umschlungen von häß licher Schlingwurz, und doch ist es wirklich da und darum tausendmal mehr wert als alle Seufzer nach dem Löchsten, alle Gedanken über das Vollkommene. Man kennt doch die Vollkommenheit erst, wenn man eine Vorstellung vom Wachsen und seiner Mühe gewonnen hat. Viele bleiben aber ihr Lebtag wie Kinder, denen Spielmünzen und Gold stücke gleich wiegen. Eine Ehe freilich, in der man sich gegenseitig nicht erzieht, bleibt ein Spiel. Nur sei jede Schulmeisterei fern! So sind er und sie. wirklich gut und wirklich schlecht und doch vereint, nicht zu einem leidigen Flicken, sondern zu einem Lebensmarsch, auf dem man liebe, klare Augen und geduldige Land nötig hat. Wir Menschen leben zuletzt nicht von dem, was wir sind, sondern wozu wir uns bestimmen. Darum ist die Ehe heiliger Stand, weil er einen Menschen an einen zweiten bindet und doch beiden zugleich ein neues Ziel steckt, das keiner vorher für sich in seiner Größe erkannte. Liebet einander, so wie ihr seid, so werdet ihr so, wie die Liebe es will. Gottfried Traub Ich suchte Dich Gott! broschiert Mark 3.—, gebunden Mark 4.— Eugen Diederichs Verlag in Jena Man sende dieses Buch allen ernsten Menschen zu„ die der Kirche entfremdet sind, auch Frauen und jüngeren Menschen. »76«