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Nr. 3. 40 Der Radfahrer Rundganq um den See bringt uns nach der gegenüberliegenden Kur promenade. An einem ungestörten Plätzchen am Abhange legen wir uns in den Rasen, und geniesten den Gesamtanblick des reizend gelegenen St. Moritz mit seinem schönen See. Erst hier bekommt man so richtig den Eindruck, wie geschmackvoll und vornehm die wolkcnkratzerähnlichen Hotels wirken, sie liegen mehr dem Tale zu, während auf der Anhöhe sich staffel- mästig noch ganze Reihen idyllisch gelegener Gasthäuser hinziehen. Wir halten kurze Beratung, jetzt ist's 2 Uhr, da können wir noch allerhand unternehmen. Die lieben Daheimgebliebenen wollen auch was haben, deshalb schwitzen wir eine Stunde mit Schreiben St.-Moritz-Ansichtskartcu, und dann wird richtiggehend gefauleuzt. Es ist hier so unendlich schön; die Eindrücke, die wir hier empfangen, werden wir im ganzen Leben nicht wieder vergessen. Mein Freund studiert die Karte und drängt schließlich zum Aufbruch, es ist vielleicht Uhr, was mag er nur Vorhaben? Er will weiter, hier zu übernachten, sei für uns Touristen nicht ratsam — da hat er recht — und will am ganzen Silvaplaner See entlang, eine tüchtige Strecke. Ich unterbreche ihn gleich und sage: „Natürlich!" Am liebsten gleich bis an die italienische Grenze hinunter, und möglichst alles noch heute." — Und dann lachen wir alle beide und einigen uns auf dem goldenen Mittelwege. Auf einem schönen, abseits von der Straste gelege nen Wege fahren, wir gemütlich bis Campfer und dann am See von Campfer entlang. Hier begegnen wir zum ersten Male einem Schweizer Postanto, das vom Iulierpah kommt. Diese Autos sind breite Kasten, die über die Hälfte der Strastenbreite für sich beanspruchen. Die Verkehrs bestimmungen gehen dahin, dast diese Autos stets bergseits fahren, wer ihnen also begegnet, must nach der Seite des Abgrundes ausweichen. Bei Bergabfahrten solchen Wagen zu begegnen, ist höchst unangenehm, deshalb betrachten wir auch diese breiten Kasten mit einer gewissen Schen. Unsere Tour durch die schöne Alpenlandschaft längs des Sees ist ein Gennst. Gar bald sind wir in Silvaplana. Mitten im Ort zweigt rechts die Strastc über den Iulicrpast ab. Nacb unserem Reiseplan geht's über diesen Past nach Tiefencastel weiter. Diese Strastc sehen, und gleich heute noch über den Past wollen (es ist b>6 Uhr abends), ist für meinen Freund alles eins. Ich beeile mich, ihn an den Rockschößen festzuhalten. Mit einer Seelen ruhe erklärt er mir: „Es sind ja nur noch 500 m bis aufs Pässel hinauf, und herunter geht's ja von allein: das schaffen wir schon noch." Es Hilst ihm aber nichts, er must sich bis auf morgen vertrösten. In einem Gast haus, am Ende des Ortes, nehmen wir Nachtquartier. ' Bor uns liegt der Silvaplaner See, und dahinter erstrecken sich schneebedeckte Nlpcnzüge. Dieses schöne Panorama können wir vom Fremdenzimmer aus sehen. Ich freue mich schon auf die untergehcnde Sonne, uni von hier aus das Alpenglühen beobachten zu können. Eine Mitteilung, die wir hier erhal ten, mahnt uns erneut, die grösste Vorsicht auzuwcnden, wenn wir den Past herunter fahren. Der Iuliepast hat viel Schleifen mit scharfen Kurven, die gefährlicheren Stellen sind nach Silvaplana herunter, das ist die Strecke, die wir aufwärts das Rad schieben müssen. Wie wir er fahren, hat man heute einen Einheimischen ins Spital gebracht, der mit dein Rad auf der Beraeinfahrtz nach Silvaplana verunglückt ist. Er hat auf freier Strecke das Rad laufen lassen und war überrascht, das Postauto um die scharfe Kurve kommen zu schen. Sicherlich wird er versucht haben, scharf zu bremsen, soll aber beim Ausweichen die Kurve zu weit genommen haben und am Abgrund abgcrutscht sein. Seine Verletzungen sollen schwerer Natur sein. — Offengcstanden, beim Anhörcn dieser Geschichte gruselt uns. Trotzdem lassen wir aber nicht den Mut sinken, wir haben die Schwierigkeit des Radfahrens in den Bergen kenncngelcrnt. Wenn man es an der nötigen Vorsicht nicht fehlen lässt — mit lieberraschungen, wie ungünstige Wcgverhältnisse oder entgegenkommende Fahrzeuge, muß man stets rechnen — so wird man auch die Schwierigkeiten überwinden können. Früh 8 Uhr sitzen wir auf den Rädern und fahren die Paßstraße zum Iulierpaß hoch. Der Himmel ist stark bewölkt, mächtige Nebelschwadcn umlagern den Berg. Gar bald müssen wir abstcigen und das Rad schieben. Wir haben kaum einige Schleifen des Weges überwunden und sind damit schon über die Waldregion hinaus. Wicsenflächen und Strauchwerk um säumen die Paßstraße. Eigenartig, wenn wir auf Pässe hinauf wollen, fängt es an zu regnen. Wir laufen bald in einem feinen aber un angenehmen Sprühregen dahin. Eine Ruhepause dient dazu, uns wetter fest zu machen. Ich ziehe den Gummimantel an und suche im Rucksack nach meinem Hut. Nebenbei must ich bemerken, dast ich diesen Hut eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges von Leipzig aus als souudsoviclstc Garnitur aus Freundeshand empfing, weil ich meinen vergessen hatte. Zerdrückt und noch nast von vorgestern ziehe ich dieses Vehikel hervor. Ich kann ziehen und zerren wie ich will, er bedeckt mir nur einen Teil der Kopfflächc. Mein Freund bieat sich vor Lachen und sagt, ich sähe aus wie ein Pfaffe. Meinetwegen, besser einen Hut in diesem Regen als keinen. Wir triefen genau so wie unsere Räder. Hinter uns hören wir ein Auto, es ist das Postauto, das sich nur mit zwei Insassen in vorsichtiger Fahrt an der Berglehne hochschraubt. Wir fahren zur Seite des Abhanges und lgssen das Auto rechts an uns vorüber. Die Fclseuwüstc beginnt, sie wirkt recht trostlos in diesem Nebclmeer. Meinem Freunde päßt die Pantscherei schon lange nicht, denn seine Stimmung hängt stets vom Wetter ab, des halb singt und jodelt er auch heute nicht. Trotz des Rcgcnwetters behalte ich aber meinen Humor bei. Das Steigen ist anstrengend, so daß wir oft verschnaufen müssen. Mein Freund stürmt drauf los, als könnte er da durch das Wetter ändern. Auf diese Weise kommt er mir ein großes Stück voran, ich trolle gemütlich hinterher. Plötzlich sehe ich ihn aus einer Blockhütte lugen. Mit seinem Asyl bin ich nicht zufrieden, denn die Hütte ist recht zerfallen. Die Balken des Fußbodens sind größtenteils heraus gerissen, so daß man sich hier wie in einem Käfig vorkommt. Wir müssen von Balken zu Balken Hüpfen und dabei meisterhaft auf den nassen, glitschigen Balken balancieren, dazu regnet cs von oben herein, der naß kalte Wind pfeift durch die undichten Wände. Ich tummele mich lieber in der Felsenwüste. Ucber Geröll und Steine springend und über Fels blöcke kletternd suche ich nach Alpenrosen. Die Bewegung hat mich warm gemacht, während mein Freund fröstelnd in der Hütte kauert. Er ist aber ein sehr wandlungsfähiger Genosse; Plötzlich packt's ihn wieder einmal, er springt aufs Rad und mühlt sich die steile Paßstraße hoch, bis ihm die Puste ansgeht. Unheimlich ist die Ruhe in dieser Felscnwüste, keinem Menschen begegnen wir. In den Fclsentälern sind große Flächen mit Schnee ausgcfüllt, der Weg aber ist frei vom Schnee. Die Spitzen der Berge sind völlig weiß, wir könnten hinaufkraxeln, so nahe liegen sic uns. Beharrlich steigen wir höher, Schleife nm Schleife des Weges überwindend. Zu beiden Seiten des Weges steht eine 2 m hohe Säule — das ist der Gipfel des Passes. Diesmal haben wir es doch etwas bequemer gehabt, sind wenigstens von den unangenehmen Schncefcldcrn verschont geblieben. Hartnäckig dauert das Regenwettcr au. Die Straße wird eben, sic führt am Hospiz vorbei. Wie wohl lut uns hier ein Kännchen heiße Milch. — Es ist eigenartig, wenn man einmal auf der Höhe ist, zieht es einen wieder ins Tal. Man sucht ge wissermaßen eine Entlohnung für das mühselige Aufwärtsklimmen. Ich glaube, wir können noch lange warten, bis der Regen aufhört, wir haben aber keine Ruhe, wir wollen weiter. Das Rad wird einer schnellen Prüfung unterzogen. Die Kette sitzt straff, der Rücktritt zieht gut au, nur die Vorderradbrcmse rutscht etwas auf dem nassen Gummi. Na! es wird schon gehen. Mein Kollege entledigt sich des Mantels, schlägt den Kragen hoch und fährt los. Naß und schwer ist mein Regenmantel, für die Abfahrt eigentlich etwas unbequem, er schützt mich aber vor völli ger Durchnässung, deshalb behalte ich ihn an. Mit größter Vorsicht geht's den Paß hinunter. Die Schleifen der Straße sind zunächst lang gestreckt und nicht steil. Ein Auto fährt in langsamer Fahrt ebenfalls vom Paß herunter. Eine ganze Zeit halten wir mit den» Wagen vor uns gleiches Tempo. Sechs Mumien glotzen uns aus dem Wagen an. Bald wird die Entfernung zwischen uns und dem Auto größer, bis cs schliestlich in der Tiefe nuferen Blicken entschwunden ist. Der Regen hüllt alles in ein Nebclmeer, so dast wir keine Weitsicht haben. Oede ist das Felsenlabyrinth. Die Wege werden steiler, Rücktritt ist mit Handbremse in wechselndem Gebrauch. Eisig Peitscht der Regen ins Gesicht. An scharfen Kurven müssen wir beide Bremsen fest anzichcn, das Rad wird fast zum Stehen gebracht, langsam wird die Wcgbieguug genommen, und rapid geht's nun in die Tiefe. Der Abhang, vorher sauft abfallend, wird jetzt zur senkrechten Schlucht. Jetzt hcißt's scharf Obacht geben, denn die Serpentinen werden kürzer, da darf das Rad auf kurzer gerader Strecke nicht frei lausen, weil sonst die Kurven nicht zu nehmen sind. Nach den Fahrtzciten des Postautos haben wir uns er kundigt, wir werden den Wagen erst hinter den gefährlichen Wegstelleu antrcffeu. Mit der Zeik wird unser Tempo schneller, ganz ungewollt, wir haben uns in die Abfahrt cingewöhnt, die aufänglick>e Befangenheit weicht einer gröstercn Sicherheit und Ruhe. Trotzdem halten wir die Augen offen, denn oft geht's über uutvcgsame Stellen. Der Weg ist vom Regen- und Schneewasser aufgeweicht und aufgcrisscu, krampfhaft müssen wir die Lenkstange halten, wenn wir über Wegabsätzc holpern. Teilweise ist der Weg mit Geröll und spitzen Kieseln übersät, das sind uns die verhängnisvollsten Strecken, aber auch diese werden überwunden. Pom Past aus haben wir bis jetzt 7 Icm znrückgelegt und sind dabei 500 m in die Tiefe geradelt. Hier in 1780 in Höhe wird die weitere Abfahrt ge mütlicher. Lange Strecken fahren wir Freilauf, ohne bremsen zu müssen, das ist trotz des Regens wnnderfcin, der höchste Genuß für den Radfahrer. Die Nebel verziehen sich, wild romantisch gähnt zur Seite die tiefe Schlucht. In 200 m Tiefe zwängt sich durch die cugcu Schluchtenwände ein reißender Bach, die Julia. Unser Weg windet sich in dieser Schlucht in die Tiefe. Wir passieren einige kleine Dörfer. Die Straße führt abwechselnd durch ausgeschwemmte Rundtäler und reizende, wildzerklüftete Felsschluchten. In tiefem Bette bildet die Julia mehrere Fälle. Es geht über die Dörfchen Marmels und Lresta. Hier öfsuet sich uns ein breites ebenes Hochtal, in welchem wir dem Postauto begegnen: -besser konnten wir es nicht treffe». Bald geht cs wieder bei strömendem Regen Weiler bcrgcin. Noch immer nimmt die Felscnschlucht kein Ende. Ich werde nicht müde, die Wunder der Natur zu sck-auen. Mein sonst gar nicht so unempfänglicher Freund hat für die Naturreize seiner Um gebung herzlich wenig übrig. Mit keinem Blicke würdigt er die stürmische Julia, deren silbcrgrüne Wellen unseren Weg zieren. Der arme Kerl ist ganz in sich zusammengekrochcn, den Kopf sehe ich gar nicht, so tief steckt er in dem ausgcschlagenen Rockkragen, der Regen trieft au seinem Buckel herunter, kein Wunder, daß er der Natur grollt. Endlich läßt der Regen »ach, auch mit der schönen Bergeinfahrt ist's vorbei. Wir haben Tiuzeu und Savognin durchradelt und sind bis aus 1200 m heruntergekommen. Vor uns liegt eine trostlose, ausgedehnte Hochebene. In schnellem Tempo werden kilometerlangc Strecken heruntergetrampelt. Plötzlich ändert sich das Bild. In einem tiefen Talkessel erblicken wir Tiefen-