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„Der Radfahrer fitzt ruhig in gewohnter Körperstellung auf seinem stählernen Rosse, ist nicht vorgebeugt wie ein Läufer. Mit den Unter schenkeln, welche er wie die Triebstangen einer Lokomotive bewegt, arbeitet er am meisten. Allein die Ruhe seines übrigen Körpers ist nur eine scheinbare: kleine Bewegungen zur Steuerung sind unerläßlich und der Muskel des Rumpfes bedarf er, um das Gleichgewicht zu halten, und wenn er aus unebenen Wegen fährt, ist der ganze Rumps in Tätigkeit, selbst die Nackenmuskeln und der Kopf bleiben nicht frei von Mitarbeit." „Beim Radfahrer, der die Hände an der Lenkstange fcsthält, sind auch die Arme in fortwährender Tätigkeit. Dabei ist aber keine Ein schränkung des Schultergiirtels zu befürchten wie dies beim Arbeiten an engen Schreibtischen vorkommt, denn die Hände sind zu weit von einander entfernt." „Die anstrengende Arbeit des Radfahrens erfordert tiefes Atmen, wodurch die Stauungsluft der Lungen entfernt und der Brustkorb energisch ausgeweitet wird, ohne an seiner Elastizität etwas zu ver lieren, so daß der mit dem Zentimetermaß meßbare Unterschied zwischen Ein- und Ausatmung von Monat zu Monat wächst. Leute, bei denen dieser Unterschied vor 6 Monaten kaum 2—3 crn betrug, zeigen jetzt 8—0 ein." „Es ist ein ganz guter Rat, wenn man sagt, kränkliche Stuben- sitzer und Kontoristen sollen sich auf das Fahrrad setzen und gut atmen lernen." „Wie unendlich wertvoll eine solche Ausdehnung des Brustkorbes und der Lunge ist, lehrt die Erfahrung, daß sie der beste Schutz ist gegen die verderblichste Krankheit Europas, gegen Tuberkulose." „Ferner massiert der Radfahrer mit dem hohen Heben der Schenkel gleichsam seinen Unterleib, macht dadurch den Darm tätig, drängt das Zwerchfell nach oben und zwingt sich so zu tiefem Atmen." „Die Anstrengung bringt mit Ausnahme von ganz kurzen und langsamen Fahrten beinahe immer einigen Schweiß, wobei Stoffe aus geschieden werden, deren Zurückbleiben im Blute den Körper schädigen würden." „Die Kräftigung aller Körpermuskeln, welche, wie wir jetzt wissen, der Hauptherd für den Stofsumsatz sind, und die zweckmäßige Er nährung des ganzen Körpers ist die erste Wirkung des Radfahrens." „Die gesteigerte Muskeltätigkeit verbrennt das überflüssige Fett und der leichte Schweiß hilft mit." „Die Entfettung des Herzens und der großen Adern hat unberechen baren Wert, denn der Umlauf des Blutes wird dadurch erleichtert." „Aber auch am ganzen übrigen Körper wird das Fett verbrannt und auch dort ist die Entfettung wertvoll, weil das Fett, wie wir bereits besprachen, den Weg für die Adern einengt und dadurch eine unregelmäßige Verteilung des Blutes bewirkt; zwar in der Ruhe be merkt man dies wenig, aber schon geringe Anstrengungen machen fetten Leuten ein rotes, Blutandrang verratendes Gesicht. Schläfrig keit, Kopfweh, selbst die Neigung zu Schlaganfällen, Hämorrhoiden sind an der Tagesordnung. Ob die Wegsamkeit der Blutbahnen des Kreislaufes namhaft beeinträchtigt ist, erkennen wir, wenn wir starke Bewegungen machen und dabei alsbald Erhitzung eintritt. Je schneller Pulsbefchleunigung kommt, je bälder die Bewegung wegen Ueber- müdung und Erhitzung ausgesetzt werden muß, desto enger ist die Bahn für die Blutgefäße. Man kann diese aber durch Uebung erweitern und zuletzt normal machen, wozu das Radfahren recht passend ist." „Es ist allen anzuraten, welche nicht in ihrem Berufe schon ge nügende Bewegung haben." „Wie wir bereits zeigten, wird durch das Radfahren der ganze Organismus zur regeren Tätigkeit gebracht, weshalb man sich nicht wundern darf, wenn die Leistungsfähigkeit größer, Schlaf und Eßlust ausgezeichnet werden. In der Tat sieht man, daß Radfahrer Mahl zeiten einnehmen, welche kein Gesunder sonst vertragen würde." „Bei diesem Wechsel der Anregung, bei diesem Entlasten der inneren Organe und Belasten der Außenseite des Körpers kommt es auch zu Einwirkungen aus die Nerven, wie sie ein anderes Heilmittel selten zustande bringt." „Jene modernen Ueberreizungen, denen kein Stand und Alter jetzt entgeht, die Neurasthenie (Nervenschwäche) in allen ihren Formen, ver tragen sich nicht mit dem Radfahren. Schon nach wenigen Wochen verschwindet eine quälende Krankheitserscheinung nach der andern. Ich kenne Leute, welche in keine Gesellschaft, in der mehr als 10 Menschen beisammen waren, mehr gehen konnten. Es befiel sie unerträglicher Schwindel. Andere brachte das grelle Licht eines Kronleuchters zum Weinen, wieder andere konnten nicht mehr drei Seiten eines Buches ohne Unterbrechung lesen. Ich kenne Maler, die keinen Pinsel mehr in die Hand nehmen konnten; Männer, welche beim Hören von Glocken geläut ganz traurig und still wurden. Diesen allen und vielen anderen war die Uebcrreizung nicht allein höchst quälend, sondern ost hing für sie auch die Gefahr daran, das tägliche Brot zu verlieren. Heutzutage versinkt die Mittelmäßigkeit. Nur ausgezeichnete Leute erreichen das ersehnte Ziel, und hierzu sind meist Anstrengungen nötig, welche eine übergroße Anspannung der Nerven erheischen und dann nicht ohne schädliche Folgen bleiben, denn des Schöpfers Wille ist ein solch über reiztes Leben nicht, sonst hätte das Gehirn einen Bau, welcher solche Ueberreizung ohne Schaden ertrüge, gerade so gut, wie der Schöpser das Herz des Pferdes, welches offenbar von ihm selbst zu schnellem Laus bestimmt ist, durch einen festen Faden vor dem Zerspringen ge schützt hat. Die jetzige geistige Hetze wird weder vom Hirn des Kindes noch von dem des Erwachsenen schadlos ertragen. Solchen Unglück lichen wird nun das Radfahren oft zum Erlöser von ihren Leiden, wenn sie nebenbei der Hetze Einhalt tun." „Das Freiwerden des schweren Kopfes, die Schwitztätigkeit der Haut, das Strotzen der Muskeln von Blut, der gesteigerte Stofsumsatz, die bessere Blutmischung, die geregelte freiere Blutbewegung, der tiefe Atem mit der vermehrten Sauerstosfaufnahme, das Fortschafsen des hinderlichen überflüssigen Fettes und Wassers, die bessere Ernährung machen den Körper gesund und mit der Gesundheit des Körpers kommt auch die Gesundheit des Geistes. Die Tatkraft kehrt zurück, die Lust zum Leben, die Lust zur Arbeit, der Schaffensdrang und damit der frohe Sinn und die Zufriedenheit. In wenigen Wochen verschwinden die quälende» Reizerscheinungcn des Nervenshsteins." „Wir sehen, das Radfahren ist ein ganz hervorragendes Heilmittel, wenn es sorgfältig und richtig benutzt wird." „Die Beobachtung, daß die Zahl der radfahrendcn Acrzte jedes Jahr zunimmt, ist ein Beweis, daß das Radfahren als durchaus nütz lich erkannt wird. Für Leute, welche an Hämorrhoiden und Ver dauungsbeschwerden, an Kreuzschmerz und schlechtem Atem leiden, für Leute, welche eine schmale Brust und nur wenig verschiedene Ein- und Ausatmungsmaße haben, endlich für solche, die infolge von Fett bildung einen beengten Blutumlauf und eine beeinträchtigte Herz bewegung zeigen, welche blutarm und leistungsuiifähig sind, für das große Heer der nervösen Qualen ist das Radfahren das Wander fahren — ein äußerst lobenswertes Heilmittel." Rach Geheimrat von'Nußbaum haben noch viele Sachverständige der medizinischen Wissenschaft eine kräftige Lanze für das Wander sahren gebrochen, so Prof. Schweninger, Geheimrat von Bergmann, Dr. H. Rickmann, Dr. R. Stritter (Kaiserslautern), Dr. L. Rack (Berlin) und viele andere. Es sollen aber im Interesse der Sache auch noch einige Sach verständige neuerer Zeit zu Worte kommen. So zunächst Prof. Für - bring er, der bekannte Berliner Gelehrte: „Eine absolute Altersgrenze gibt cs nicht. Auch einem Siebziger ist das Radeln gesund. Nur muß er klug sein. Knaben sollen im all gemeinen nicht vor dem zwölften Lebenswahre, Mädchen vielleicht noch später die Stahlmaschine besteigen. Alte Leute sollen sich, ivie an gedeutet, keine kräftigen Vorwärtsstürmenden Jünglinge als Reise begleiter nehmen." „Vernünftig betrieben ist das Radfahren ein gesunder, vielleicht der gesündeste Sport. Es ist zum Beispiel der angenehmste Appetit züchtcr bei nervösen Magenleiden. Es stählt den schwächlichen und selbst kränklichen Körper und erhält und mehrt dem Gesunden die Kraft. Daß dem so ist, zeigt schon das spanukrüstige, frische und heitere Aus sehen, das ungezählte, vordem blasse, empfindliche, zarte und zagende Naturen gewinnen. Solche Züchtung an Kraft und Lust, Selbstver trauen und Mut spottet der Theorie, wie sie noch heutigentags die von wunderlichem Haß getragenen Radlerfeinde — das unrüstige, mürrische und verdrossene Greisenalter stellt die Hauptzahl — zäh vertreten." Or. mock. Ebing schreibt: „. . . Wenn der Radsport in jeder Beziehung vorsichtig und zweckmäßig ausgeübt wird, dann gilt von ihm das Wort des berühmten englischen Arztes Dr. Blackland: „Dor ganze Arzneischatz enthält kein Stärkungsmittel, das an angenehmer und sicherer Wirkung einem guten Zweirad gleichkommt. Das Zweirad ist der Triumph des menschlichen Gedankens über den trägen Stofs." Der Radfahrsport ist entschiede» ein Segen für unser Geschlecht, sür das männliche wie das weibliche, denn unsere ganze Lebensweise ist eine verweichlichende und naturwidrige, wodurch unser Körper in erhöhtem Grad allen Einflüsse» der Erkrankung und Schwächung aus gesetzt ist. Das haben unsere Acrzte auch eingesehen und sie empfehlen einen methodisch ausgeübten Radsport nach Kräften. Zum Schluß einige Ausführungen des Or. meck. W i l h. K ü h n , Leipzig: „Wenn löir zunächst den Kraftverbrauch beim Radsahren bc rücksichtigen, so ist von verschiedenen Aerztcn zahlenmäßig nachgewiesen, Ivie sehr der Radfahrer dem Fußgänger in bezug auf Arbeitsleistung überlegen ist. Bei mäßigem Radsahren wird im allgemeinen die gleiche Strecke in der halben Zeit zurückgelegt, die der Fußgänger gebraucht, und hierbei auch nur die halbe Arbeit geleistet. Anders liegt jedoch die Sache, wen» man sich mit der Frage beschäftigt, wie sich die Arbeit, die der Betreffende in einer Stunde leistet, beim Radsahren oder beim Gehen verhält. Nach Dr. Leo Zuntz (Untersuchungen über den Gas wechsel und Energieumsatz des Radfahrers), der die Arbeitsleistungen beim Gehen mit steigender Geschwindigkeit und Radfahren vergleicht, wird gezeigt, daß der Energieverbrauch beim Radsahren auch bei mäßiger Geschwindigkeit bedeutend größer ist als man glauben würde. Sv z. B. verbraucht der Radfahrer bei einer Geschwindigkeit von l.'>stin fast das Doppelte an Energie, daS heißt also an Kraft, wie der Fuß günger, der 6 üm in der Stunde macht, und doch ist das subjektive Gefühl der Anstrengung bei dem Radfahrer bedeutend geringer als beim Fußgänger. Das kommt wahrscheinlich daher, weil sich beim Radfahren einmal die Anstrengung auf eine größere Muskelmasse vcr teilt, dann aber der Druck der Körpcrlast auf die Sohle» und aus die einzelnen Gelenke der unteren Gliedmaßen durch den Sitz aus gehoben ist. Diesem Drucke wird ohne Zweifel ein großer Teil des Ermüdungsgefühls beim Gehen zuzuschrciben sein, das also bei größerer Anstrengung ein geringeres ist, worin die schon erwähnte Gefahr liegt."