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Pneumatik, eine geniale Erfindung des englischen Arztes Dunlop, als Bereifung für Fahrräder in An wendung gekommen. Die allerersten Pneumatiks be saßen eine Dicke von über 2" und wurden als „Leber würste“ verulkt. Infolge ihrer hohen Elastizität gegen über den Vollgummi- und Kissenreifen ermöglichten die Luftreifen ein schnelleres und angenehmeres Fahren, selbst auf holprigen Straßen. Was die Kugel lager für die Verringerung der inneren Reibung be deuteten, das stellten die Luftreifen für die Milderung der sehr erheblichen Bodenreibung dar. Beide Er findungen ergänzten sich gewissermaßen und ermög lichten überhaupt erst die überraschend schnelle und ausgedehnte Popularisierung des Fahrrades. Das Fahren auf dem Niederrade ließ sich viel leichter er lernen als das Hochradfahren; ein Kopfsturz, wie beim Hochrad, vornüber, war nicht mehr zu befürchten, und wenn man seitlich stürzte, so fiel man nicht sehr tief, oder man brauchte nur die Beine auszustrecken, um sich auf dem Sattel zu halten. Das Niederrad war sozusagen eine atavistische Rückbildung in der Richtung der Drais’schen Laufmaschine, nur daß man die Erfindung der Kurbeln und Pedale unter Zuhilfe nahme eines Kettenübertragungsmechanismus vom Hochrade her übernommen hatte. Die allerersten Niederräder mit Kreuzgestell wiesen noch die höchst primitive und bedenkliche „Nacken steuerung“, wie sie bei den Hochrädern üblich war, auf. Sehr bald verließ man aber die Kreuzgestell-Kon struktion und ging zur Parallelogramm-Rahmenform (Diamant-Rahmen) über, die bei weitem haltbarer und steifer war und das Prinzip der starren Gitterwerk- Brückenträger für den Fahrradrahmen praktisch zur Anwendung brachte. Das Gestell konnte nunmehr aus wesentlich dünnerem und leichterem Stahlrohr hergestellt werden, und auch die äußere Form wurde gefälliger und zweckentsprechender. Die sehr heikle Nackensteuerung verschwand; das Gabelschaftrohr wurde innen durch das Nackenrohr (jetzt meist Steuerungsrohr genannt) hindurchgeführt und durch Kugellager eine leicht bewegliche Verbindung mit dem Rahmen hergestellt. Einen weiteren gewaltigen Fortschritt brachten dann etwa Mitte der 90 er Jahre die amerikanischen Holzfelgen und Schlauchreifen. Diese beiden Neu heiten verbesserten den leichten Lauf des Fahrrades in unverkennbarer Weise. Diese Holzfelgen waren aus äußerst zähem und langfaserigem Holz hergestellt, imprägniert und gepreßt, so daß sie die Stabilität der Stahlfelgen tatsächlich übertrafen. Kunst- und Renn fahrer benutzten seitdem die Holzfelge mit Vorliebe, erstens wegen ihrer Leichtigkeit und inneren Steifig keit, dann aber wegen der eigentlich noch immer etwas rätselhaften, erhöhten Antriebsschnelligkeit im Verein mit den leichteren Schlauchreifen. Selbst die Holzfelgen mit Stahl- oder Aluminium-Hilfsfelgen (Einlagen), die eine Verwendung der gewöhnlichen Bereifung (Decke mit Luftschlauch) gestatten, ver leihen den Fahrrädern einen auffallend leichten, elastischen Lauf. Es ist bedauerlich, daß in neuerer Zeit die Holzfelgen sich nicht mehr so wie früher der großen Nachfrage erfreuen. Für diese Erscheinung dürften aller lei Umstände verantwortlich zu machen sein, die mit der eigentlichen Natur der Holzfelge garnichts zu tun haben. Das korrekte Spannen von Holzfelgen, das regelrechte Bohren der Nippellöcher, was in der Regel grundfalsch und nachlässig ausgeführt wird, die viel fach unzureichende Luftschlauchqualität gerade bei Drahtdeckenverwendung, der mangelhafte Schutz der D-Luftschläuche vor Beschädigungen durch die Nippel, Speichenenden und scharfen Kanten der Hoizfelgen, alle diese Dinge, für welche der heutige Durch schnittsradfahrer kaum das richtige Gefühl und Ver ständnis besitzt, tragen dazu bei, die Holzfelge schwer in Verruf zu bringen. Die Einführung der Freilaufnabe, besonders der Rücktrittbremsnabe, hat sich merkwürdig schwer voll zogen. Bei der Fahrt „Rund um Berlin“ 1902 war der Verfasser dieser Zeilen noch der einzige Teil nehmer mit Freilaufbremsnabe. Freilich waren damals diese Naben noch höchst unzuverlässig, und so ver sagte auch damals bei „Rund um Berlin“ nach etwa 140 Kilometer glänzender Fahrt die Nabe (Morrow); der Zahnkranz mit dem Fibre-Bremskonus setzte sich fest, und das irretierte beim Fahren so sehr, daß der außerordentliche Vorsprung durch die notwendige Fahrtunterbrechung zur Behebung dieser fatalen Frei laufpanne verloren ging. Gleichwohl sagte schon da mals der Schreiber dieses der Freilaufbrcmsnabe eine große, beherrschende Zukunft voraus. Bei Vereins- Tourenfahrten wurden die Freilauffahrer anfänglich arg gehänselt und verulkt; heute würde man wohl einen Fahrer ohne Freilauf mitleidig ansehen. Ja, so ändern sich die Zeiten, die Anschauungen und die Gewohnheiten der lieben Menschen! Daß die technische Entwicklung des Fahrrades nunmehr abgeschlossen ist, kann man nicht behaupten. Freilich ist ein gewisser Stillstand eingetreten, und es ist auch durchaus nicht der Zweck dieser Zeilen, die Industrie schon wieder zu Neuerungen zu treiben. Es kann in jetziger außergewöhnlicher Zeit nicht darauf ankommen, „neue und neueste Modelle 1920“ heraus zubringen und die bekannten und bewährten Fahrrad modelle zu ändern. Zu derartigen Neuerungen und neuen Moden ist jetzt nicht die gegebene Zeit. Im Gegenteil müßte jetzt die Fahrradfabrikation dazu übergehen, die Modellzahl erheblich einzuschränken und eine weitgehende Sonderung (Spezialisierung), Typisierung und Normalisierung vorzunehmen, um eine unwirtschaftliche Produktion an und für sich gleichartiger und gleichwertiger Fabrikate zu verhin dern. Das Fahrrad ist längst reif zur Normalisierung; man braucht lediglich diejenigen Fabrikat-Formen, -Gewinde und -Muster als „normal“ zu bezeichnen, die sich jetzt bereits weitester Verbreitung und prak tischer Verwendung erfreuen. Dann bereits hätten wir den Anfang der Normalisierung des Fahrrades. Dagegen möge der Himmel verhüten, daß irgend ein gelehrter Kopf neue „Fahrrad-Normalien“ auf Grund wissenschaftlicher Berechnungen und Untersuchungen „konstruiert“! Derartige Fahrrad-Normalien wären ein wahres Unglück für die ganze Branche, oder aber sie blieben nur auf dem Papier, ohne verwirklicht zu werden. Eine erhebliche technische Vervollkommnung des Fahrrades läßt sich ohne Zweifel noch durch allge meinere Einführung der konzentrischen Kugellager er zielen, weiter durch sinnreiche Ausgestaltung der Vorderrad- und Hinterrad-Abfederung unter Beibehal tung wirklich brauchbarer luftloser Bereifung. Aber