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29. Jahrgang Leipzig, 31. Januar 1920 Nummer 4 Der Radfahrer Organ für das gesamte Radfahrwesen, für Sport, Industrie und Handel Amtliche Zeitung des Sächsischen Radfahrer-Bundes Erscheint im Winter monatlich, im Sommer 14 tägig Anschrift der Schriftleitung: | Anzeigen-Annahme: Felix Burkhardt, Leipzig, Artilleriestraße 14 | Verlag: Sächsischer Radfahrer-Bund E. V,. Vorsitzender Fernruf 50150 ' Arthur Klarner, Leipzig, Königsplatj 12, Fernruf 1204 Schlußtag für alle Einsendungen eine Woche vor Erscheinen - Anzeigenpreis: Viergespaltene Petitzeile 50 Pfg. Größere Anzeigen nach Tarif. — Einzelnummer 30 Pfg. == Fahrräder einst und jetzt. Von Otto Lüders, Schriftleiter des Radmarkt. Vor einigen Jahren äußerte sich in der Sport beilage des B. T. der Berliner Gauvorsitzende des D. R. B. über den Amateur-Radsport einst und jetzt und streifte hierbei auch den Werdegang des Fahr rades. Es ist in der Tat erstaunlich, in welcher Weise sich das alte, ehrwürdige Vollgummi-Hochrad, das „Veloziped“, im Laufe weniger Jahrzehnte zu dem heutigen, volkstümlichen Sport- und Verkehrs instrument entwickelt hat. Die ersten in Deutschland aufgetauchten Hochräder stammten aus England, dem Mutterlande aller Sports, und kosteten damals unge fähr so viel, wie in der Vorkriegszeit ein reguläres Motorrad. Nur wohlhabende und turnerisch gewandte Leute konnten sich den Luxus des Hochradsports leisten, so wie auch heute nur bessersituierten Leuten, die gleichzeitig eine gewisse Gewandtheit besitzen müssen, möglich ist, den obendrein durch die Ge setzgebung in Deutschland arg eingezwängten Mo torradsport zu betreiben. Der Schritt vom gewöhn lichen Fußgänger zum Hochrad entspricht etwa dem weiteren Schritt vom Fahrrad zum Motorrad. Wie noch heute dem Motorrad, so warf man auch seiner zeit den Hochradfahrern allerlei Knüppel in den Weg oder gar in die Speichen, und auf Grund irgendeines uralten Landesgesetzes, welches das Rollen von Fässern und Faßreifen auf öffentlichen Straßen unter Strafe stellte, wurde den Hochradfahrern fast ganz Berlin gesperrt. Tempora mutantur! Die erstaunlichen Fort schritte, die das Hochrad als Renn- und Wandersport fahrzeug erzielte, müssen zum größten Teil auf seine technische Vervollkommnung und Ausgestaltung zu rückgeführt werden. Zunächst waren es die Kugel lager und die Bereifung mit Vollgummi oder auch Vollgummischläuchen (Kissenreifen), im Gegensatz zu den allerersten, primitiven Zapfenlagern und Eisen reifen, welche aus dem ursprünglichen „Knochen schüttler“ ein immerhin recht gut brauchbares Vehikel für Sport- und Wanderfahrzwecke heranbildeten. Die auf diesen verbesserten Hochrädern mitunter erzielten Leistungen bezüglich Schnelligkeit und Ausdauer er regten damals das größte Aufsehen und verdienen noch heute volle Anerkennung. Es entwickelte sich sehr bald ein regelrechter Sportbetrieb, der die Fabri kation in hohem Maße beeinflußte und für die spätere industrielle Aufwärtsbewegung der Fahrradbranche von grundlegender Bedeutung war. Die Leistungsfähigkeit des Hochrades war jedoch begrenzt, da sie zum großen Teil von dem Durchmesser des hohen Vorder rades abhängig war. Wer möglichst lange und flinke Beine hatte, konnte ein entsprechend hohes Rad fahren und erzielte naturgemäß bei einer Raddrehung, die direkt durch die an der Radachse befestigten Kurbeln bewirkt wurde, eime größere Fahrstrecke als der Fahrer mit kurzen Beinen und kleinerem Rade. Noch heute wird die „Entwicklung“ eines Rades durch die Höhe der sogenannten Uebersetzung zum Ausdruck gebracht, indem man den Unterschied der beiden Kettenräder mit dem Durchmesser des an getriebenen Hinterrades in ein bestimmtes Zahlenver hältnis bringt, welches die Länge des Durchmessers eines gedachten hohen Antriebsrades, entsprechend dem direkt angetriebenen großen Rade des Hoch rades, zum Ausdruck bringt. Die höchsten Hoch räder besaßen einen Raddurchmesser von etwa 60" (engl. Zoll), während die jetzigen Niederräder durch schnittlich 70 bis 80 Zoll „Uebersetzung“ aufweisen. Als das Hochrad schon eine gewisse Grenze seiner technischen Ausgestaltung erreicht hatte, kam — wiederum aus England — das Niederrad (Rover) auf den Plan. Diese Maschinen zeigten nicht die erhabene Eleganz der Hochräder und wirkten infolge ihres kreuzartigen, schwerfälligen Gestelles, welches für den neu hinzugetretenen Kettenantrieb eine Not wendigkeit war, plump und unschön. Mit Verachtung blickten die Hochradfahrer auf die „Teckel“ — so nannte man die ersten Niederräder spöttisch — herab, bis einen schönen Tages die ersten Pneumatik-Nieder räder den Hochrädern einfach davonliefen. Gegen Ende der achtziger Jahre war der Preßluftreifen oder