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schießen, 'da vr mehr beabsichtigte, das schöne Tagelohn zu verdienen, als sie Gemsen schießen zu lassen. So kehrten sie gegen Abend ohne Beule in die Sennhütte zu ihrem Proviant zurück, bei dem sich ein kleines, hart- verpfropfteS Weinfäßchen befand, daS Alle vergeblich zu entstöpsrln ver suchten, mit Steinen bearbeiteten rr. „Ich bringe ihn doch heraus!" rief Colani, packte den harthölzernen Stöpsel mit seinen 66jährigen Zähnen, drehte daS Faß mit den Händen und hatte eS augenblicklich offen. Am zweiten Morgen gingS den Brüneberg hinan. Colani schickte Planta auf den Anstand und führte Lenz über einen steilen, schmalen Felsenkamm, wo sie verschiedene ferne Gemsenheerden beobachteten und Colani sich das Vergnügen machte, seinen Gefährten an einige tvdesge- fährliche Vorsprünge Hinzurufen. Als Beide einmal über eme tausend Fuß tiefe Kluft hinausgebogen lagen, um Wild in der Tiefe zu erspähen, hörte Lenz plötzlich ein heftiges Brausen und gleichzeitig von Colani einen gellenden Schrei. Erschrocken zog sich Lenz zurück und sah, wie dicht über seinem Haupte ein ungeheurer Lämmergeier mit der Schnelle eines Pfeiles hinsauste. Colani Halle bemerkt, wie der Geier, der eS liebt, Gemsen, Rinder, Menschen von äußersten Felsenrändern mit den Flügeln in die Tiefe zu stoßen, den Jagdgefährtcn bcdrohete und ihn durch seinen Schrei vom sichern Tode gerettet. Ehe die Jäger zum Schnsse kommen konnten, war der Geier verschwunden. Lenz dankte dem Felsenmanne, sagte ihm aber auch zugleich, er sei nicht hergckommen, um Futter sür Lämmergeier zu werden, sondern um Gemsen zu schießen. Colani versprach, ihn am nächsten Tage nach dem gemsenreichen Theil deS Bernina zu führen. Am dritten Morgen vernahmen sie, daß in den KamogaSker Alpen zwei Bären gesehen worden seien, die drei Schafe zerrissen hatten, und sie beschlossen nun, die Bären zu verfolgen. Der Tag wurde vergeblich mit Nachsuchung in den wilden Hochgebirgen zugebracht, die eigentliche Bären schlucht war durchaus unzugänglich. Einzelne Gemsen wurden ohne Erfolg beschlichen, da dle rings pfeifenden Murmelthicre stets das Nahen der Jäger verricthen. Abends wurde in einer Sennhütte übernachtet. Am vierten Morgen, den 20. Juni, erstiegen sie einen Berg. Ein großer, zottiger Hund, welcher eine bergamaSker Schafhcerde bewachte, die auf der noch mit einem dünnen Schneeflor bezogenen Weide lag, sprang ihnen auf der Höhe entgegen. Sie öffneten die kleine, rohe Sennhütte und weckten den Hirten, der sie willkommen hieß, Feuer machte und seine Gäste mit Schafmilch und Schaffäse bewirthete. Planta verließ hier die Anderen und Lenz erklärte dem Colani, wenn er heute nicht zum Schüsse komme, so gebe er die Jagd auf. Colani erwiedertc, er habe ihn in den gemsenreichen Bernina führen wollen, aber er hätte den Bären nachgejagt. Hier gebe cS wenig Gemsen und eS sei schwer, ihnen beizukommen, indessen er wolle ihm zu einigen verhelfen, wenn er den Muth habe, ihm zu folgen. Nach einer halben Stunde sah er sünf Stück. „Dort sind sie," rief er, E»um 9 Uhr lagern sie, wir können hier noch ein halbes Stündchen war ten, — aber der Weg dorthin ist fürchterlich. Lch habe ihn nur einmal in meinem Leben gemacht." Er ging von dannen, schnallte das Gewehr auf den Rücken, erreichte eine senkrechte ungeheure Wand und betrat eine schmale Gallerie, die an derselben hinlief. Der Weg war gräßlich. Unter jedem Fußtritt glitt die lockere Erde weg. In der unermeßlichen Tiefe zu ihren Füßen erschienen die höchsten Bäume fingergroß, vor ihnen wurde daS.Gesims immer enger und schien am Ende ganz zu verschwinden. Mit halbvcrdecktem Gesichte folgte Lenz Colani nach. Am Ende deS Fclsenbandes rief dieser: „Vor sicht!" packte da, wo daS GcsimS aushörte, eine FelSzacke, stemmte den Fuß auf und schwenkte sich über dem Abgrunde auf die Hintere Seite des Felsens, während er Lenz überließ, ein Gleiches zu thun. Mit dem Muthe der Verzweiflung folgte dieser glücklich und fast zur Verwunderung Co- lani'S, der naiv genug meinte: „Ich hätte nicht gedacht, daß wir hier noch bei einander sein würden. Aber jetzt zu den Gemsen, wir haben sie gut umgangen." Nach einer halben Stunde waren sie endlich auf der Höhe deS BcrgeS, an welchem sie vorher die Gemsen erblickt hatten. Sie bemerkten eine größere und eine kleinere am Rande eines tiefen Abgrundes liegen. Mit pochendem Herzen schoß Lenz. Die größere sprang manns hoch auf, überschlug sich und stürzte rücklings in die Tiefe. Colani schoß auf einem wankenden Steinblock nach der kleineren und fehlte. Lenz wollte nach dem Abgründe^ um seine Beute zu holen, aber Colani wehrte ab und mit Blicken, die die Schuld des bösen Gewissens verriethen, setzte er hin zu: „WaS in diesem Grabe liegt, liegt sicher begraben." Vor mehreren Jahren war hier ein Jäger spurlos verschwunden. ES schien Lenz, die Stelle rieche nach Menschenblut. Auf der andern Seite deS BergeS gelangten sie in ein gräuliches Steintrümmerthal, ringS von himmelhohen Felsenspitzen bewacht. Beim Klettern über die Felsblöcke hatte der spähende Felsenmann etwas bemerkt, warf sich rasch hinter einen Stein und winkte Lenz, ein Gleiches zu thun. „WaS giebtS?" rief dieser vcnvundert. Colani antwortrke nicht, blickte mit dem Fernrohre in die Höhe, ballte krampfhaft die Faust und sagte nur: „Verdammt! verdammt!" Endlich entdeckte Lenz hoch in den Felsen eine noch kleine männliche Gestalt, während Colani fast rasend vor Wuth immer sein „verdammt!" rief. „Ich kenne den Kerl nicht," sagte er end« lich, „aber er hat unS noch nicht bemerkt. Dort sieht er mit seinem Fernglas herab." Die Wuth in Colani'ö Blicken, feine zusam/nenge- klemmten Zähne ließen das Schlimmste befürchten. „Sowie der Jäger dort weg ist, müssen wtr lhm zuvorkommen," knirschte er flüsternd. „Mit nichten, Colani," sagte Lenz ernst, „ich will Gemsen schießen und keine Menschen." Jndeß verschwand der sremde Jäger. Colani sprang auf: „Folgen Sie mir, in einer Viertelstunde kann der Jäger auf jenem Bergrücken sein, wir nutzffen ihm zuvokkommen und in zehn Minuten hinauf." AthemloS rannten sie bergan, und legten in zehn Minuten einen halbstündigen Weg zurück. Noch lag ein steiles, thurmhoheS, mit glattem Rasen bewachsenes Felsstück vor ihnen, über daS sie mit eingekrallten Fingern sich hinwandcn. AthemloS sanken sie oben hinter einem Felsblocke nieder, als müßten sie vor übermenschlicher Anstrengung auf dem Flecke sterben. Der fremde Jäger nahete rasch, das belebte Bclde wieder. Colani spannte den Hahn und zielte auf den Mann. Da drückte Lenz sanft, aber mit voller Kraft sein Rohr nieder und sagte befehlend: „Halt, vor meinen Augen laß ich keinen Mord zu." Colani warf ihm einen fürchterlichen Blick zu, reichte ihm aber doch die Hand und sagte: „Wir wollen unS nicht entzweien." Inzwischen war der Jäger zwischen den Felsen verschwunden. Colani befahl Lenz, stehen zu bleiben, und um schlich den Fr-mden. Dieser saß tiefer unten an einem Felsenrand und blickte mit seinem Fernrohr in die Tiefe. Leise wie eine Katze schlich sich Colani mit gespannten Hähnen hinunter, drei Schritte vor dem Fremden trat er plötzlich hinter dem Felsen hervor und hob die Faust gegen ihn auf. Aber schweigend ließ er sie sinken. Beide sahen sich einen Augen blick an, dann lehnte Colani seine Büchse an den Felsen und setzte sich neben den Jäger. Er ließ sich dessen Flinte geben und betrachtete sie, während sie zusammen schnapsten. Lenz erwartete, er werde sich auch die Jagdtasche ausbitten und ihn dann heimtückisch über den Felsen Hinab stoßen, allein sie blieben Freunde. Der fremde Jäger, ein rüstiger Greis von 65 Jahren, war von Bevers und mit Colani befreundet, wagte sich aber, da er dessen Tücke kannte, nie in sein Revier. Nun hatte er vernommen, daß Colani nach dem Bernina wolle, und die Zelt benutzt, um rasch eine Gemse zu holen, sich aber zugleich vermummt, damit ihn Niemand Colani verrathe. Lenz hatte hinlänglich bemerkt, daß Colani ihm die Lust nach seinen Bergen und Gemsen aus immer zu benehmen suchte und brach darauf die Jagd ab, fühlte aber noch einen Monat hindurch die Folgen der furcht baren Anstrengung in allen Gliedern. Colani erkrankte in Folge derselben und war nach fünf Tagen todt. Dieser gewaltige und merkwürdige Jäger hat nach seinem zwanzigsten Jahre, da er die Herrschaft über die Berge sich anmaßte, zweitausend siebenhundert Gemsen geschossen, ohne die früher von ihm erlegten. Kein anderer Jäger hat d.efe Anzahl je erreicht. Nach seinem Tode wurde den gehegten Revieren hart zugesetzt. Aber seine weiten, herrlichen Reviere sind eben so günstig, daß noch in den letzten Jahren an einem Tage einhundert und zwanzig Stück Gemsen ge zählt werden konnten. Die guten Gemsenjägcr sind überall, auch dort, selten. Der beste und glücklichste, den wir kennen, ist Johann Rüdi in Pontresina, ein completer Jäger vom Scheitel bis zur Sohle und zugleich ein schöner, über sechs Fuß hoher Mann von herrlichem Auge und außer ordentlicher Muskelkraft. Im September 1855 brachte er in den ersten zehn Jagdtagen sechs Gemsen heim; im Herbste 1856 brachte er es nur auf 30 Stück. Er schießt uie eine GemSkitze, stets Böcke. — Soweit Fried, v. Tschudi über Gemsen, GemSjagden und Gemsjäger. Der geneigte Leser, der eS nicht müde ward, unS zu folgen, hat in vor stehendem AuSzuge daS Neueste und Sicherste über daS Leben dieser merk würdigen Alpenthicre und ihrer Jäger gefunden. Naturgeschichtliches Curiosum. In diesen Tagen ist unS ein Bovist-Schwamm überbracht und von unS in der Erp. d. Bl. zur An sicht auSgelegt worden,.der genau 2 Pfund wiegt und 1^4 Elle im Um fange hat.