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Voigtländischer Anzeiger. Fünfundsechszigster Jahrgang. Verantwortliche Redaktion: vr G. I a h N. Druck und Verlag von Moritz Wieprecht in Plauen. Jährlicher AbonnementSpreiS für dieses Blatt, auch bei Brzichun^urch" die Post, 1 Ihlr. 6 Ngr. — Die JnserttonSgebühreil werden mit 1 Ngr. für die gespaltene CorpuS-Zeile berechnet, größere Schrift nach Verhälmiß deS Raumes. — Donnerstag. 13. April 1854. Kurzer Abriß über daö gegenwärtige Stadium der orientalischen Frage. (Beschluß.) Demgemäß leuchtet es also von selbst ein, daß, abgesehen von allen anderen Ursachen, es gar nicht gleichgültig sein kann, welches Prinzip sich der Ausmündung des mächtigsten Slromgebiels Europa's bemächtigt, und wenn auch die Ei« fenbahnen diese natürlichen Verkehrswege einigermaßen zu ersetzen berufen sind, so wissen wir doch, daß dieses nur bis zu einer gewissen Grenze möglich ist, über welche die Strom, gebiete wieder ihr Recht und ihre Wichtigkeit erlangen. Hier ist die Gefakr aber um so größer, als die Eisen bahn nothwendigerweise, wenn auch nur in einiger Entfer nung, dem Lauf des Stromes folgen müßte, und Derjenige, der die Macht über die Ausmündung des Stromgebietes der Donau besäße, auch jeden Augenblick die Hand auf die Aus. Mündung der Eisenbahn nach Asien, welche nur auf der Strecke zwischen dem schwarzen Meere und dem Archipelagus möglich ist, zu legen im Stanke wäre. England und Frankreich, deren Industrie und Handel unter allen europäischen Staaten am meisten entwickelt sind, konnten die Wichtigkeit der orientalischen Straße keinen Augenblick verkennen. Daher auch ihre unermüdlichen An strengungen, sich Stationsplätze auf dem mittelländischen Meere zu sichern, ihre Kämpfe um Aegypten, Algier, Grie chenland, die Barbaresken u. s. w., so lange jenes Meer die einzige Straße bildete. So wie aber der Aufschwung der Eisenbahn zunahm, und dieselben wegen ihrer Sicherheit und Schnelligkeit des Transportes die Oberhand über die See-Schifffahrt zu gewinnen drohten, konnte diesen zwei Mächten die Wichtigkeit des Besitzes der Donaumünkungen und Konstantinopels auch kein Geheimniß bleiben. Es liegt in ihrem Interesse, keine starke Macht an jenen Punkten auf, kommen zu lassen, die es sich vielleicht jemals beifallen lassen könnte, ihrem Verkehrs-Monopol entgegenzutreten und den. selben zu vernichten, abgesehen davon, daß ein starker Be. sitzer jener Punkte auch ganz Mitteleuropa in seinen Händen haben und demselben Gesetze zu diktiren vermöchte. Alle diese Umstände sind auch für die kluge und äußerst umsichtige Politik Rußlands kein Geheimniß, Rußland ist durch seinen Territorialbesitz ein Riese, allein in diesem wei. ten Körper sind äußerst zahlreiche und ausgedehnte Landcö- strecken, die an Größe manches deutsche Reich zwei, la drei. mal übertreffen, die aber, anstatt Gewinn zu tragen, Landes, einkünfte verschlingen. Es hat eine ungeheure Menge Flüsse, Seen, Moräste, Steppen, die dem Verkehr, dem Handel und der Industrie mehr Hinderniß als Beförderungsmittel sind. Will also Rußland nicht hinter der Entwickelung anderer Länder Zurückbleiben, so muß es Opfer bringen, welche in Bezug auf die Größe des Reiches und die derselben so wenig entsprechende Entwickelung der Industrie in keinem Verhält, nisse zu dessen Kräften stehen. Will es demnach seinen Standpunkt als Großmacht behaupten, so muß es nothwendig entweder einer Vergrößerung nach jener Seite hin anstreben, wo die Fruchtbarkeit des Bodens der inneren Entwickelung des Landes Vorschub zu leisten im Stande ist, oder es muß sich die Absatzorte für seine kostspieligere Industrie dadurch sichern, daß es die Absatzwege der andern unendlich wohlfeiler produzirenden Nationen hemmt, und ihnen die Märkte sperrt. Wenn daher Rußland betheuert, daß es keine Ausdeh. nung seiner Grenzen anstrebe, so glauben wir ihm dieß gerne. Es scheint nämlich den zweiten Weg, nämlich den der Ab, sperrung der Handelswege, für viel sicherer zu halten. Und die Mittel, die es zu diesem Zwecke ersann, sind so fein, so zart, daß eS eines sehr klaren, vorurtheilsfreien Geistes be- darf, um dieselben aufzufassen und zu erkennen. Und in dieser Hinsicht hat die europäische, besonders die deutsche Presse sehr wichtige Dienste geleistet. Rußland verlangt nichts, als die Gleichstellung der griechisch-nicht.unirtcn Bevölke rung mit denjenigen Einwohnern, welche unter dem Schutze anderer Mächte stehen, eigentlich mit jedem andern Kultus. Dieses ist eigentlich an sich nichts Ungerechtes. Es wäre Zeil, daß die Jahrhunderte lang bedrückten christlichen Ein, wohner einmal zu ihrem Rechte, zu ihrer Selbstständigkeit gelangen. Allein in dieser an sich gerechten Sache liegt die größte Gefahr für das übrige Europa. Denn, da die Bekenner der griechisch-orthodoxen Kirche beinahe drei Viertel der Bevöl, kerung der Türkei ausmachen, so muß auch ihre Selbststän» digkeit nothwenkig dahin führen, daß ihnen in der Folge die ganze Regierungsgewalt in die Hände kommt. Da sie aber den Russen sowohl durch Abstammung, als auch durch die Religion verwandt sind, und diesen noch als ihren Befreiern zum Danke verpflichtet sein würden, so läßt sich daraus leicht erschließen, wer der eigentliche Herr der Türkei sein würde. Die Russen hätten dann ihr Ziel erreicht, wiewohl unter ciner anderen Form. Ader auch diese würde sich in der