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71. Jahrgang. As SIS Dienstag, S. Juli 1927 Gegründet 1858 DmblimlckrtN, BochBMI«« D»«»ö»« Frrnlvr«cker-Zammelnummer: 2S 241 N« tür Nalblarwräch«! 20011 Bezugs-Gebithr M-Uö'-w« SchEckUnio iwd Aauo>aelckäit»8rll«: Martevktrak» 2s 42 Dmck u. Berla, »on Utevlck, 4 St»tck»ardt n, Dre»d»n PoKlckeck-KonIo lOSS Dr«»d»>> Nachdruck nur mtl deuMckei Oucllrnanaabr >.Dr,«dnrr Nachr.'i ruIKMa Unv«rlana>« LckrOlftilcke werden nicki aulbewadrl. /^nsi'ksnni guts p5Si8WSI^S Wsikis uncs XUolis i.imbäeker ssemsprseksr 13777 ^olisrm-Esorgsri-^IIss 8 Die Grundlinien der deutschen Zollpolitik. Eine grotzzügige Aede -es Aeichserniihrungsministers zur Begründung -er Zollvorlage. Die gollvorlage dem Kan-elsausschub überwiesen. Berlin, 4. Juli. Wie bereits gemeldet, begann im Reichs tage heute die erste Lesung deö Gesetzentwurfs über die Zolländer ungen, worüber zuerst der Reichösinanz- minister eine Rede hielt, die Borkige der Ncichsrcgierung zu begründen. Hierauf ergriff der Reichsernührungsminisler Schiele -a- Wort und trat zunächst der hier und da In der Ocsfcntltch- keit vertretenen Auffassung entgegen, dah in der Vorlage ein Widerspruch zu den Entschließungen der Genser Welt» wirtschastSkonferen, und den dazu abgegebenen Er- klärungen der RelchSregterung liege. Er würdigte eingehend die Ergebnisse der WeltwirtschastSkonserenz und wies nach, dah bi« Konferenz zwar aus der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Nationen die Notwendigkeit des Abbaues der twischenstäatltchen Zollmauern ableitet, dah sie aber gleich, zeitig «u» der Erkenntnis von der gegenseitigen Abhängigkeit der drei grohen BerusSständc, Handel. Industrie und Landwirt, schüft, bi« Forderung ans Parität der Zölle innerhalb der ein« zclnen BolkSwirtschastlcr folgert. Diese Folgerung gibt gerade eine Motivierung und eine Rechtfertigung der Zoll vor. läge. Sie will ein Versäumnis nachholen und eine Ver pflichtung gegenüber der deutschen Landwirtschaft erfüllen, die durchaus im Sinne und in der Richtung der Thesen der Welt- wirtschaftSkonscrenz liegt. In der allgemeinen Entschltehung der Land, wirtschaftlichen Kommission in Genf heiht es: «Die Konferenz betrachtet cs als eine Lebensfrage auf wirtschaftlichem Gebiet, die landwirtschaftliche Er- cugung zu steigern und die Landwirtschaft zu diesem iweck« mit der Industrie glcichzustellen. so bah sie allen, die in der Landwirtschaft tätig sind, eine befriedigende Lebens haltung und eine normale Entschädigung für ihre Arbeit und ihren Kapitalaufwand gewährt. In diesem Sinne will die Borlage die -nrzeit noch bestehende und von allen Seite«, auch oon dem Herrn ReichSwirtschaftöministcr in seiner Ham burger Rede beim Industrie- und HandelStag anerkannte Im parität. beseitige«. Die Konferenz hat auch mehrfach betont, dah der an und für sich gewünschte Zollabba« seine Schranken finden m«h in den vitalen Jntcreffen der verschiedenen Länder »nd ihrer Erwerbstätigen. Sie bat daraus hingewiesen, dah die Landwirtschaft und die landwirtschaftliche Bevölkerung die Kraftquelle ist, welche die Völker vor dem Verfall bewahrt, der aus einer übertriebenen industriellen Entwicklung ent stehen kann. Das ist der gleiche Gebankengang, den wir in den Motiven finden, mit denen Bismarck im Jahre 1878 eine Schutzzollpolitik einlcitete. Die Forderung der Landwirtschaft aus Parität in Fragen deS Zollschutzes be deutet keinen Gegensatz gegentiber der Industrie, den die Landwirtschaft keineswegs wünscht. Di« am Welthandel beteiligten Völker sind an einer Zeit- wende angclangt, weil bas Ende der KolonisattonSepoche Nord. amerikaS notwendigerweise seinen Ausdruck in einer Abnahme des grohen Austausches zwischen Europa und Amerika findet. Der anherenropä'ische Protektionismus ist Ursache der europäischen Not. ES wird gegenwärtig von Sc» europäischen I-nd-ustrievölkern ein erbitterter Kamps gegeneinander um den kleiner geworde. nen Weltmarkt geführt. Mit welchem begrenzten Erfolg, zeigt die geschwächte europäische und speziell die deutsche Außen« Handelsbilanz. Es ist deshalb für alle Länder Europas und »or allem für Dentlchland eine zwingende Notwendigkeit, de« heimatlichen Markt mehr zu pflege« und dort das z« versuche«, was der Auslandsmarkt «nS versagt. Wir müssen dir naturgegebene Solidarität zwischen Industrie «nd Landwirtschaft auch in den Zollsragcn sesthalte«, «eil unsere Volkswirtschaft besonders drückende äußere und innere Lasten z« tragen hat. Durch diese Lasten ist unser Konkurrenzkampf geschwächt und damit auch die Ausfuhr. Wir sind auf das stärkste daran inter essiert. dah die gegen die deutsche Ausfuhr aufgerichteten Zoilmauern erniedrigt werden und dah auf dies« Weise daö gesamte Aollnireau gesenkt wird. Das Ziel ist. wie -er ReichswirtlchastSministcr in Hamburg betonte, der Abschluß oder die Korrektur langfristiger Han delsverträge mit Hilfe weitgehender wechselseitiger Er- mästtgung der überhöhten Zolltarife. Aber bet der unverhältnismäßig starken Belastung der deutschen Wirt- schast ist es eine Unmöglichkeit, für «nS allein mit gutem Bei, spiel »oranzngehen. In diesen Zusammenhängen liegen die Grenzen, über die ein Zvllabbau für »nS Deutschland nicht htnauSgehen kann und nicht hinanSgehen darf. Auch vom Standvunkt der Verbraucher bedeutet ein ge»isser gleichmäßiger Zollschutz keine Benach teilig««» »der Berteuernng aus die Dauer, eher eine Verbilligung. Die Zölle sollen unS vor allem eine größere Sicherheit unserer Ernährung geben. Die gegenwärtig auf fremde Kredite bereinströmende NahrungSmttteleinsuhr ist eine sehr unsichere Basis für die Existenz unserer städtischen Bevölkerung. Ich weise hierbei aus die immer ernster werdende Ent wicklung unserer Handelsbilanz nnd insolgedesien auch unserer Zahlungsbilanz hin. Eine durchgreifende Korrektur liegt neben der Anstrengung, alle gesunden Exportmöglichkeiten auszunutzcn, in der Verstärkung dcrfentgen eigenen Ur- Produktion, welche die Einfuhr ersetzen kann. Zölle sind nicht Selbstzweck. Sie sind dazu da, die ProduktionSkrast -er Nation, die not wendige Sicherheit, die Sicherung der eigenen Wirtschaft und die eigene Existenz zu heben. Solche Zölle bedeuten keineswegs, auf die Dauer gesehen, unter allen Umständen eine Erhöhung deS Preisniveaus. Einmal ist derjenige öisentlich« Be- bars, welcher in Form ,o« Zölle» gedeckt wirb, «in« Sr, sparnis an iunerer Belastung. Zudem werbe» bie Zölle miubefteuS teilweise vom Ausland mit getragen. i«S» besondere dann, wen« der SierkausSbruck für die Pro duzenten drauhc» besonders grob ist. DicS trifft besonders bei den gegenwärtigen Fleischzöllcn zu und wird auch bet der Kapazität der deutschen Fleisch erzeugung für die künftigen Fleischzölle zutreffen. Das trifst ferner zu bei den gegenwärtigen und künftigen Zöllen für Zucker. Wir sind hier unter Mrücksichtigung der diesjährigen Anbaufläche, die nur noch um 10 Prozent hinter der der Vorkriegszeit zurückbleibt, aus dem Wege, in steigendem Matze wieder Exportland zu werden, wie wir cS vor dem Kriege mit rund IN Millarde waren. Auch der Kartofselzoll wird bei normalen Ernten um deswillen znm großen Teil nicht vom deutsche» Verbraucher getragen, weil hier die eigene Pro duktion den Bedarf in vollem Umfange deckt. Eine Entlastung des Slerbrauchcrs tritt durch die Zölle auch insofern ei«, als die Zölle die Produktion schützen und zu ihrer Steigerung beitrage«. Dadurch wird die Einfuhr allmählich vermindert und dementsprechend auch die Zollast geringer. Die stets wirksame, sich unter dem Zollschutz entfaltende Konkurrenz unter den mehr als 2 Millionen deutschen Milch-, Kartoffel-, Rüben- und Schwcincproduzentcn treibt den Preis von selbst auf den möglichst niedrigen Stand. Die gegenwärtige Vorlage erstrebt »or alle« auch einen verstärkte« Schutz derjenige« Produktion, die aus der bäuer lichen Wirtschaft hervorgeht und die man alS agrarische Ver- edluugSproduktc oder Fcrtigfabrikate bezeichnen kann. Diese Produktion, in denen bie Einfuhr den ungeheuren Betrag von 1.K Milliarde Mark erreicht, enthält einen besonders großen Wertanteil. der direkt auf menschliche Arbeit zurück- zuführen ist. Hier wird also der Zollschutz ««mittelbar ,« eine« »irksamen Bauer«» und Landarbcitersch«tz. Zudem bedeutet die Herstellung dieser Waren aus unserer eigenen Futtcrmittelgrundlaae und aus der zollfreien Ein- fuhr von tropischen Futtermitteln nicht nur eine große Ver- mehrung an Prodnktionsmöglichkeiten, sondern, auf die Dauer gesehen, eine Verbilligung und Sicherung der Produktion. Der Protektionismus im Auslande, der sich gegen die deutsche Arbeit richte», hat uns vor soziale und bevölkerungspolitische Probleme gestellt, die sich aus der Erwerbslosigkeit ergeben, welche, wenn sie heute vorübergehend, da» heiht ans kon junkturellen Gründen geringer ist. doch als eine Dauer« erschciuuug betrachtet werden muh. Wir stehen deshalb vor der Ausgabe eine. Umschalt««» de, Meufchenmasse«. vor allem de, Fcsthaltung de« ländliche« Bevölkerungszuwachses. In einer arbeitsintensiv«-!«-» Landwirtschaft, daS bedeutet intensivierten Hacksruchtba«, ist die Voraussetzung der Nah- rungsmittelunabhängigkeit ein wichtiger Weg zur Lösung des deutschen BevölkerunaSproblcmS. Hacksrnchtba« gibt zwei» bis dreimal soviel Nährwerte wie Getreidebau. Hacksrucht ba« beschäftigt dreimal soviel Arbeitskräfte wie Getrei-rba«. Die Rollvorlagen sind kein« Bevorzugung de, gröbere« Landwirischaste«. Die Struktur deS deutschen KartosfelbaurS ist mit 80,2 Prozent und diejenige der Schweinehaltung mit rund 80 Prozent bäuerlich, insbesondere kleinbäuerlich. Sin solches Programm der innere» Kolonisation kan« nicht burchgefiihrt werben ohne «tuen Ba» e, li sch« tz. ,« welche« die gegenwärtige Vorlage bei trage« soll. Dabei wird eine Prüfung deS Zollschutzes für Molkerei- Produkte und Eier, für Obst und Gemüse im Interesse einer Politik der Förderung und Vermehrung der landwirtschaft lichen Klein- und Mittelbetriebe erforderlich sein. Die größten Möglichkeiten für die innere Kolonisation liegen in den wetten Gebieten de» deutschen Ostens. Eine Agrarpolitik, die zur Verdichtung unserer landwirtschaftlichen Bevölkerung führen soll, ist so lange nicht durchführbar, als auf diesem leichten Boden des deutschen Ostens, aus dem -er Roggen» und Kartoffelbau mit darauf gegründeter Schweinemast entscheidend ist, die Prodnktionsmöglichkeiten nicht gesichert sind. Hierzu soll die gegenwärtige Vorlage fördernd bettragen. Die Hebung der agrarischen ProduktionSkrast durch Zoll schutz ist sitr n«S nicht nur eine Frage der Rentabilität des Betriebes geworden, sondern auch der Auftakt zu einer schöpferischen Sozialpolitik zur Hebung der Uebervölkcrung durch eine Sozialpolitik der Ver mehrung des Eigentums iu Stadt und Land. Die Möglichkeiten hierfür liegen im deutschen Osten. Di« Vorlage der Reichsregierung hat also nicht die Absicht, den natürlichen und notwendigen Austausch mit dem Aus lände, den wir für unsere Industrie brauchen, zu erschweren, sondern sie ist geboren aus wirtschastspolitischen, sozialpoliti schen und bevölkerungspolitischen Besorgnissen und Be strebungen, welche mit dem vollkommen veränderten Stand der deutschen Volkswirtschaft gegenüber dem Weltmärkte zu- sammenhäNgen. Sie ist eine Folgerung ans den vitale» Interesse« b«r deutschen Nation. Der Rede des Ministers folgte lebhaftester Beifall der Konlitionsparteie«. Die Linke. Sozialdemokraten und Kom munisten. Hatten durch Zwischenrufe häufig den Minister zu stören versucht. Mehrere Kommunisten zogen sich Ord nungsrufe zu, weil sie dem Minister Schwindel vor. warfen. Als der Minister von der Ersetzung der Einfuhr durch vermehrte Urproduktion im Interesse unserer Handels-* btlanz sprach, rief ihm Abg. Hilscrding iSoz.j zu: Curtius sagt das Gegenteil! Minister Schiele erwiderte darauf: Selbst wenn Dr. Curtius in der Frage der Handelsbilanz etwas mit mir differiert, so können Sie doch nicht verlangen, daß die RctchSregierung sich in allen Fragen völlig uni- formiert. Die Aussprache. Abg. Dr. Hllferding iSoz.j erklärt, dah die Begründungs reden zur neuen Zollvorlage In Widerspruch zu Sem ständen, was Stresemann in Genf und Curtius in Hamburg ge- gosprochen hätten. Die Sozialdemokratie werde die Vorlage ablehnen. — Abg. Hörnlc sKowm.j le-hnt jede Zoll erhöhung ab. Abg. Meyer-Berlin lDem.j führt aus, daß die Vorlage der Regierung weder unseren wirtschaftlichen Bedürfnissen, noch unserem internationalen Prestige diene. Nach Wicder- zusammentrttt des Reichstages werde es Aufgabe der Demo, kratischen Partei sein, die Regierung zu drängen, dah ihren Worten in Gens die Taten in Deutschland folgten. Die Demo kratische Partei habe volles Verständnis für den Schutz der Produktion, aber nicht, ohne gleichzeitig die Bedürfnisse der Verbraucher zu brachten. Dem drohenden Rückgang der Schweinezucht müsse in erster Linie durch Aushebung der Futtermtttelzölle rntgegengetrcten werden. Die demo- krattsche Fraktion stelle sich auf den Boden der RcichsratS» beschlüsse. Sie lehne die Kartofsclzölle und den erhöhten Zuckerzoll ab. Hettuing (Völk.j erklärt, wenn «S den Bauern wirklich so gut ginge, würden sich längst die Juden ihrer bemächtigt haben. Nicht der Schutzzoll verteuere Brot und Fleisch, sondern der Zwischenhandel. — Abg. Feder <Nat.-Soz.j führte alle jüdischen Namen an, die unter den Beschlüssen der Wclt- wtrtschaftskonfcrcnz stehen, um damit darzutun, daß es sich hier nur um das Vorgehen des geeinten Judentums handle. Die Vorlagen wkrden dann dem handelspolitischen Ausschuß überwiesen. Es folgte darauf die zweite Beratung des Gesetzentwurfs über die Arbeitslosenversicherung. Abg. Andra lZentr.j berichtete über die Ans schuh» Verhandlungen. Der Ausschuß habe den Gedanken von Landeskassen als Versscherungöträgcr abgclchnt und sich für die Errichtung einer Reichs an statt ausgesprochen. Die Arbeitsnachweise würben mit der Arbeitslosenversicherung in engster Verbindung bleiben. Bet Annahme des Gesetzent wurfs werde Deutschland über eine Arbeitslosenversicherung verfügen, wie sie kein anderes Land der Welt ausweise. — Ein Vertreter der bayerische« Negierung gab eine Erklärung ab, die sich gegen eine Reichsanstalt an Stelle von Landeskassen wendet. In der Errichtung einer Reichsanstalt als Versicherungsträger sehe die bayerische Staatsregicrung eine neue Beeinträchtigung der in der Neichsverfassung ge währleisteten Einzelstaatlichkett der Länder. — Darauf wurden die Beratungen abgebrochen. ES folgte noch die Beratung eines Antrages der Regie rungsparteien. wonach die BesoldungSncuregclnng für di« Pensionäre in derselben Weise erfolgen soll, wie für die Beamten. Von seiten der Kommunisten und der Sozial demokraten wurde die gleiche Regelung für die Kriegs beschädigten gefordert. — Abg. Loibl sV. Bp s bedauerte im Namen -er Regierungsparteien, daß diese Forderung nicht erfüllbar sei. Unter Ablehnung aller anderen Anträge wurde der Antrag der Regierungsparteien angenommen. — Das Haus vertagte sich danach aus Dienstag nachmittag. Auf der Tagesordnung steht die Wettcrbcratung der Arbeitslosen versicherung.