Die Freitagabendliturgie Keine jüdische Liturgie wird so oft gefeiert wie Kabbalat Schabbat. Nicht allein die Häufigkeit - jede Woche am Freitagabend - ist der Grund dafür. Kabbalat Schabbat (Empfang des Schabbat) kann man auch zu Hause feiern, allein oder mit der Familie. Kein Minjan (Mindestzahl von zehn Betern) ist nötig. Sie ist relativ kurz, wird durchgesungen und ist daher auch unter weniger frommen Juden sehr beliebt. In der westeuropäischen (aschkenasischen) Tradition gibt es eine bestimmte Folge von Tonarten (Weisen oder Nussach) für jeden Teil der Liturgie. Die Psalmen 95 bis 99 sowie 29 werden mit einer einfachen Dur Melodie gesungen oder kantilliert, entweder vom Kantor allein oder im Wechselgesang mit der Gemeinde. Im folgenden L'cha dodi (L'cho daudi), dem prachtvollen Gedicht von Rabbi Shlomo Halevi Alkabetz, wird der Schabbat als eine Braut empfangen. Die ursprünglich neun Strophen beschreiben die Liebe zum Schabbat und die Zuversicht, dass eines Tages der Messias nach Jerusalem zurückkehren und der zerstörte Tempel wiederhergerichtet wird. Eine fröhliche Melodie in Dur kommt sehr häufig vor an dieser Stelle, die einem Hochzeitsempfang ähnlich ist. Am Ende der Kabbalat Schabbat werden zwei Psalmen rezitiert. Psalm 92, der Psalm „für den Schabbat-Tag", deklariert förmlich den Anfang des Ruhetages. Psalm 93 beschreibt die Herrlichkeit Gottes und wird immer mit einer fanfarenartigen Melodie gesungen. Es ist kein Wunder, dass Samuel Lampels Sammlung „Kol Sch'muel" mit der Musik zur Kabbalat Schabbat beginnt. Nicht nur aus praktischen Gründen steht die am häufigsten verwendete Liturgie ganz vorne. Sie ist unter den Kennern auch ein Prüfstein für das fachliche Wissen eines Kantors. Lampel gelingt es, durch seine ganze Liturgie unter Beweis zu stellen, wie gut er die Tradition kennt, die er auf sehr clevere Art und Weise umgeht, ohne sie zu brechen: Er kombiniert in seiner Musik die traditionelle Weise - den Nussach - mit durchaus modernen und komplexen Harmonien. Oft wird man von einer spätromantischen harmonischen Entwicklung oder von komplexen chromatischen Linien überrascht, die dann schnell und fast unauffällig zum Nussach zurückkehren. Ähnlich verläuft dieses Prinzip bei der folgenden Abendliturgie, die mit dem Bar'chu (Borachu) beginnt. Das ist die erste Stelle des eigentlichen Gottesdienstes, die Stelle, die in der Synagoge rezitiert wird. Wunderschöne Melodien mit überraschenden harmonischen Wendungen kehren immer wieder auf die traditionelle Weise zurück. Die wichtigsten Modi, so zum Beispiel Magen avot (eine Art Moll), Adonai malach (eine Art Dur) und Ahava rabba (eine Art chassidische Tonart) sind genau dort zu finden, wo sie im Gottesdienst hingehören. Aber die Entwicklungen - und da ist Lampels Meisterhand zu erkennen - sind voller Phantasie und auch noch für unsere Ohren sehr modern. Lampels Musik ist nicht leicht aufführbar. Die oft ungewohnte Harmonik wird umso schwieriger durch die extrem hohen Stellen für den Sopran, und die komplexe Chromatik erschwert die Intonation. Im Vorwort zu „Kol Sch'muel" schrieb Lampel: „Dass viele derselben [der Stücke] nur mit einem ausgezeichneten Chorkörper und einer sehr guten Orgel ausgeführt werden können, ist mir wohl bekannt - und mein herzlicher Wunsch." Wir hoffen, dass unsere Produktion einen Beitrag dazu leistet, Samuel Lampels Musik wieder ins Leben zu rufen. Mein Wunsch als Chasan in Deutschland ist, dass diese Musik nicht nur auf einer CD oder in einem Konzert aufgeführt wird, sondern dass sie als Teil von Gottesdiensten in Synagogen wieder zu hören sein wird. Assaf Levitin (aus dem CD-Booklet)