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mit größerem Ernst von seinem Leben-plane sprach, sowohl für den Fall, daß ihm die Güter seiner Ahnen zufielen, als auch wenn ihm die Erbschaft entging. Aber wir sehr Odo sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, den starren Sinn des Glöckners zu beugen. Dieser blieb dabei, daß er ihm die. Antwort auf seine Bewerbung um Lise'S Hand bi« nach der Entscheidung vorenthalten müsse. „Nun denn, Monsieur Martin! Da Ihr Wille hier der entscheidende ist, so muß ich mich fügen. Acht Tage sind kein Leben! und die Ungewißheit, wenn sie auch peinlich ist, hat doch für uns, ich meine Elise und mich — das Gute, daß fie uns in unseren Vorsätzen bestärkt, und uns noch mehr zeigt, wie lieb wir einander haben." — Er grüßte. Ein klein wenig Trotz — so sehr er sich auch beherrschte, ver- rseth sich doch in seinen Mienen, wie in seiner Haltung. „Meine Tochter darf in. dieser Zeit keine Briefe von Ihnen empfangen und keine Zusammenkunft mit Ihnen haben, mein Herr!" bemerkte noch der Glöck ner trocken. „— Weiß schon!" „So, Sie wissen schon? — darf man fragen?" — „— Andr^ brachte mir meinen gestrigen Brief zurück und schüttelte den Kopf. Das war verständlich!' — Odo grüßte nochmals ziemlich kalt. An der Thür jedoch wandte er wie der um, und dem Glöckner die Hand reichend, sagte er mit herzgewinnen dem Tone: „Nein, Monsieur Martin! auch nicht einen Moment will ich mit dem Vater meiner Lise grollen. Sie machten mir gleich den Eindruck eines erfahrenen und guten Mannes und das sind Sie gewiß! Ich will Sie lieb haben und hoch achten, so viel Mühe Sie sich auch geben, mich zurückzustoßen." Der Glöckner erwiederte den Händedruck kaum, und den Gruß in seiner kalten Art, wie sie Odo bekannt war. — Tag um Tag verging. Keiner brachte einen zweiten St. Disze als Be werber um die Erbschaft; Odo, welchem sich alle Sympathieen zugewandt hatten, schien unbestritten in das Erbe seiner Väter eintrcten zu sollen. Endlich erschien der Schlußtermin für die Bewerbung und Meldung. Zu gleich mußte Entscheidung darüber getroffen werden, ob Derjenige, welcher die Erbansprüche erhob, unzweifelhaft dazu legitimirt sei. Da die Stadt selbst das größte Interesse an dem Ausfall der Angelegenheit hatte, weil sie, im Falle kein Nachkomme derer von St. Disze sich genügend legitimiren konnte, selbst in Besitz der Güter der alten Baronie trat, deren Einkünfte sie bisher bezog, so beschloß der Rath von NeuchLtcl eine öffentliche Verhandlung der Sache. Auf Liese Weise hoffte man jedem Verdachte von Parteilichkeit vorzubcugen. Die Galerie des alten Rathhaussaales war mit Frauen besetzt, die Männer - aten im Saale selbst Zutritt erhalten. Dem Tische der Rathshcrren gegen über waren Sitze sür die Betheiligten bereit gestellt. Odo St. Disze erschien — sehr bald in Begleitung seine« Rechtsanwalts, des Herrn Scrpentier. Die edle bescheidene Haltung des schönen jungen Mannes erregte allgemeine Aufmerksam keit und ein leises Gemurmel des Beifalls lief durch den Saal, als er seinen Platz einnahm. Man wünschte sich Glück dazu, in ihm bald den Abkömmling eines der ältesten NeuchLteler Geschlechter begrüßen zu können. Der Bürgermeister eröffnete nunmehr die Sitzung mit einer kurzen Dar legung der Angelegenheit; verlas die beiden, verschiedenen Jahrhunderten an gehörigen fürstlichen Verordnungen, nach welchen die St. Disze'sche Angelegen heit nunmehr endgiltig geregelt werden sollte und ertheilte sodann dem Advocaten Serpentier das Wort. Herr Serpentier wiederholte die Rechtsausführung, welche er dem'Ra'the der Stadt schriftlich eingereicht hatte, verwies auf die Urkunden, welche dieselbe in unwiderleglicher Weise stützten und beantragte am Schluffe seiner Rede, seinen Clienten, Herrn Odo von St. Disze, den einzigen 'rechtmäßigen und wohl- legitimirten Nachkommen des etwa vor zwei Jahrhunderten landflüchtig ge wordenen Barons Odo von St. Disze, in den Besitz der Familiengüter wieder einzusetzen. Die wichtigste Urkunde war der Taufschein eine« Sohne« des flüchtigen Ritters von St. Disze, von welchem nur nicht festzustellen war, ober der ältere oder der jüngere Sohn de« Ritters gewesen. Odo hatte, da seine Vorfahren England nicht verlassen hatten, seine Abstammung von jenem Sohne unwider- »leglich nachweisen können. Auf Herrn Serpentier'« Antrag erwiederte nunmehr der Bürgermeister, daß die von dem Erbprätcndenten vorgelegtcn Papiere auf das Sorgfältigste von dem Rathe der Stadt geprüft worden wären. Diese Prüfung habe eine un bedingte Anerkennung der Rechte de« hier erschienenen Herrn Odo von St. Disze unter der Voraussetzung zur Folge gehabt, daß sich kein weiterer Präten dent bis zum Schluß der heutigen Verhandlung melde, welcher bessere Rechte für sich begründe. Dies würde nur möglich sein durch den Nachweis, daß er zweifellos von dem älteren Sohne des flüchtigen Baron'S von St. Disze abstamme. — Erscheine kein zweiter Prätendent, so sei der Rath der Stadt mit dem Herrn Advocaten Serpentier auch darin einverstanden, daß es dann voll kommen gleichgiltig bleibe, ob der hier anwesende legitime Nachkomme j des flüchtigen BaronS Odo von St. Disze von dessen ältestem oder zweitem Sohn abstamme. Die Einsetzung dieses Erben in die St. Disze'schen Güter, Ehren und Rechte würde dann sofort bewirkt werden. „Der Abschluß der Verhandlung steht nunmehr bevor", so endete der Bürgermeister seinen Vortrag, „und ich frage hiermit förmlich und feierlichste - ist Jemand da, welcher bessere Rechte, als die dargelegten, auf jene Güter, Ehren und Titel Nachweisen kann?" — Der RathSdiener wiederholte diese Aufforderung mit weithin vernehmlicher Stimme. Eine feierliche Stille herrschte im Saale. Ganz im Hintergründe desselben hatte ein Mann in beinah dürftiger Kleidung und bescheidener Haltung gestanden. Alle, die hier versammelt waren, um der Verhandlung anzuwohnen, gehörten der wohlhabenden oder durch Amt und Würde bevorzugten GcsellschaftSschicht an. Von ihnen kannte Keiner diesen Mann — und Keiner achtete auf ihn. Selbst als er sich mit der Bitte, ihm Platz zu machen, durch die Reihen Derjenigen drängte, welche zwischen den Sitzplätzen im Gange standen, hielt man ihn für einen Amtsdiener oder der gleichen und ließ ihn durch. — So gelangte er an den Rathstisch, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Erst als er, am unteren Ende des Tisches stehen bleibend, sich ehr erbietig gegen den Bürgermeister und die Rathsherren verbeugte, wendeten sich ihm einige Blicke zu. Herr Serpentier und Odo waren eben im eifrigen Ge spräch mit einander und der scheinbar unbedeutende Zwischenfall entging ihnen ganz, bis eine ihnen sehr wohlbekannte Stimme lautund deutlich die Worte sprach: „Ich, Martin, der Glöckner d^n St. Disze, kann den Beweis führen, daß der hier anwesende Herr, Odo St. Disze, ein Abkömmling des jüngeren Sohnes des wilden Odo von St. Disze ist, und daß ein Abkömmling des älteren Sohnes auch noch existirt!" Eine Bewegung der Uebcrraschung ging durch den Saal. Bürgermeister und Rathsherren theilten sie. Herr Martin legte mit großer Unbefangenheit und Ruhe ein Bündel Pa piere auf den Tisch. „Das erste Schriftstück", bemerkte »r dabei, „istder Taufschein des älteren Sohnes des wilden Odo von St. Disze. ES ergiebt sich sodann aus den fol genden Papieren unzweifelhaft: daß jener Ritter in einem Kloster viele Jahre als Büßender, zuletzt als Bruder Martin, der Glöckner, gelebt und gegen das Ende seiner Tage, von Sehnsucht getrieben, mit einem Sohne nach Neuchütel zurückgckchrt ist, wo er unerkannt unter jenem Namen das Glöcknerrccht im Thurme St. Disze erwarb. Sein Sohn und dessen Nachkommen sind ihm in diesem Amte gefolgt. Ich bin der Letzte in der Reihe. Aus den mir zur Ein sicht dargcbotenen Papieren des hier anwesenden Herrn Odo St. Disze habe ich manche Angaben meiner Familienpapiere bestätigen können. Der von diesem Herrn beigebrachte Taufschein seines Urahnen ist jüngeren Datums als der Tauf schein meines- Urahnen, eine Vergleichung der beiden Urkunden wird dies er geben. — Ich bin somit ein Abkomme des älteren Sohnes des Barons Odo von St. Disze und beantrage deshalb, mich in die Güter und Titel meines Ge schlechts einzusetzen!" — — Der Bürgermeister nahm unter dem Eindruck des Erstaunens der Ver sammlung diese Papiere des Herrn Martin entgegen, und der Vergleich der bei den alten Taufscheine wurde von den Rathsherren am grünen Tisch sogleich vorgcnommen. Nach einer kurzen leisen Berathung erhob. sich sodann der Bürger meister wieder: „Die Acchtheit der wichtigsten beiden Urkunden, ron denen die eine in England, die andere in unserem Lande -aufbewahrt gewesen, scheint keinem Zweifel unterworfen. Der Rath der Stadt wird die Legitimität der Rechts titel des Herrn Martin gewissenhaft prüfen und wenn sie in Ordnung befunden werden, ihm, den alten fürstlichen Verordnungen gemäß, den Vorzug vor den bisher geltend gemachten Ansprüchen einräumen." „Die Entschlüsse werden in möglichst kurzer Zeit gefaßt und öffentlich kund gegeben werden!" „Die Verhandlung und Sitzung ist geschlossen!" „Martin, der Glöckner, ist Baron! ist Erbe von St. Diäzc!" Auf dem Markte, in den Straßen, in den Wohn- und Empfangszimmern begrüßte Einer den Anderen mit dieser unerhörten Neuigkeit. Die Aermsten freuten, die Reichsten verwunderten sich. Alle sprachen davon. — Alle — Lise und Andrä ausgenommen. — Lise nicht, weil ihr der Vater befohlen hatte, den Tag, an welchem die Verhandlung stattfand, zu Hause zu bleiben — was sie auch ohne Befehl zu