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Sonntags Crlmbeilage zu den „Bautzener Nachrichten". ÄS>.S4. Den 22. Oktober. L87« Der Glöckner von St. Dieze. Von Mariam Tengsr- (Fortsetzung aus der Sonntags-Extrabeilage Nr- 23.) Jetzt küßte der Glöckner sein Kind, und Lise hing sich liebkosend an seinen Hals. „Freut mich, daß Du so munter bist!" sagte er. „Was schaffst Du denn da?" — Das Mädchen erröthete zwar, sagte aber mit gar innigem Ton: „— Sieh es nur genau an, lieber Vater, und nimm Dir Zeit, die Brief chen zu lesen. An den Sträußchen ist freilich nichts zu sehen, die find trocken, bis auf das gestrige hier!" „Briefe? — Sträußchen? Wer schickt Dir das?" -- „— Als ob Du cs nicht wüßtest, Vater!" sagte fie schalkhaft. „Von wem soll ich's wissen? Hast Du mir cs etwa gesagt?" ,.— Lieber Vater! warst Du denn nicht immer so — daß man mit Dir nur dann von einer Sache spricht, wenn Du selbst davon anfängst? — Ich habe alle die Tage darauf gewartet und gehofft, Du würdest davon anfangen." „Wovon?" ,,— Nun — von — Odo St. Disze!" „Von dem ? — ich dachte, die Grille wäre Dir längst aus dem Sinn." „— Grille? — Aus dem Sinn?! . . . Aber Vater — ich will ja seine Frau werden!" „ „Seine Frau? — Bist Du auch bä Trost, Mädchen!?" — Unser Glück wird der Trost und die Freude Deines Alters sein ! — Lies nur erst die Briefe! — oder — nein - ich will Dir's lieber sagen, wie wir Alles mündlich ausgemacht haben." „Mündlich ausgemacht?! — Du hast ihn gesprochen? — Lise — ist es möglich?" — Lieber Vater, erschrick doch nicht so! Macht doch kein so finsteres Ge- ficht! — Andere Mädchen kommen in Gesellschaft und auf Bällen und, was weiß ich wo sonst noch überall mit den jungen Männern zusammen. Da haben diese Gelegenheit, fie zu fragen, ob fie bei dem Vater um ihre Hand bitten dürfen. — Wo sollte Odo mich danach fragen? — Er hat mir dies in dem Briefe Nr. 1 — sieh Vater — auseinandergesetzt, und ich habe sogleich ein gesehen, daß er Recht hat, und habe ihm in unserem Weingärtckcn, wohin ich mit Andrä ging, um die Stöcke zu binden, das erste Rendezvous gegeben. — Weil wir aber in drei Stunden nicht die Arbeit thun, und Alles genau besprechen konnten, bat er in dem Briefe Nr. 2 um ein zweites Rendezvous. Das war vorgestern. Und nach demselben schrieb er mir in diesem Briefe, Nr. 3. daß er morgen zu Dir kommen wird, um auch mit Dir Alles in's Klare zu bringen. — —Briefe habe ich nur drei; aber Sträußchen schickt ec mir täglich!" „Durch wen?" fragte der Glöckner, scheinbar gelassen. „ — Durch wen Anders, als durch Andrä, mein Vater!" „Durch Andrä? der war ja aber dem schönen, jungen Herrn spinnefeind?" — „Nur nach der Kahnfahrt, Vater! Die hat er ihm übelgenommen, weil er die Sache mißverstand. Jetzt weiß der gute Andrä, daß wir uns lieben, und daß wir uns heirathen werden, und jetzt geht er für Odo, wie für mich und Dich durchs Feuer!" — „Aber Mädchen! thörichtes Mädchen! setze doch den Fall — er gewinnt seine Sache und wird Baron — Baron von St. Dieze — das heißt, ein reicher Gutsbesitzer — ein wirklich vornehmer großer Herr!" „— Nun, lieber Vater!" fiel Lise mit einem schweren Seufzer ihm ins Wort, „dann werd' ich's lernen müssen, wie eine Baronin, eine vornehme reiche Frau, sich zu benehmen hat! Mein Gott! hab' ich doch die französische Orammairs gelernt! — viel schwerer wird das auch nicht sein!" — „Das ist es nicht, was ich meine. Darum wäre mir nicht bange!" — „— Warum denn, mein Vater?" „Darum, daß cs ihm dann schwerlich noch cinfaven wird, eines armen ner's Kind als Gattin heimzuführen." „— Aber — Vater, — er liebt mich ja! Und die Liebe, so steht's im Briefe Nr. 2 — kennt keinen Unterschied." „Freilich, wenn'- in seinem Briefe steht — muß cs wohl wahr sein!" — Gewiß, lieber Vater! o Du kennst Odo noch nicht." — Der Glöckner zutcke die Achseln. „Kennst Du ihn etwa?" „ — Ob ich ihn kenne! Mir hat er jede Falte seines Herzens gezeigt!" „Es hat also doch Falten?" ! „— Vater — Du bist wirklich ach! daß ich Dich so finden muß, und nicht einmal sagen darf, — wie ich Dich finde!" „Boshaft! — ich sag's! Und c« wird schlimmer kommen! Denn ich werde Dir verbieten" — Lise sprang erschrocken auf, und legte die kleine Hand, deren Schönheit zu erst Odo'« Bewunderung erregt hatte, auf des Vater- Mund. „— Um Gottes willen, thue das nicht, Vater! — Denn, wenn Du es so machst, wie es die Eltern seiner Mutter gemacht haben, — da müßte er mich ja auch entführen, wie sein Vater seine Mutter entführt hat!" — „Und Du würdest Dich entführen lassen?" „— Aber lieber Vater! was sollte ich denn thun? — Ich habe doch Odo zugeschworen, daß ich sein Weib werde!" Der Glöckner schwieg eine Weile. Er machte ein so schrecklich ernsthaftes Gesicht, daß Lise kaum wagte, ihn anzusehen, und noch viel weniger ihn an zusprechen. Endlich sagte der Vater immer in demselben unangenehmen Ton: „Und wenn er seine Sache nicht gewinnt? nicht Baron wird?" — „— O, dann man pstit para!" rief sie, die Arme erhebend und senkend, als ob es Flügel wären, und fie es von ihren Vögeln, die oben jetzt laut zu fingen anfingen, gelernt hätte — „dann sucht Odo hier in einem guten Hause eine Buchhalterstelle - er fleht sich jetzt schon in aller Stille darnach um — oder er fängt selbst ein kleines Geschäft an. — Mit seinen Kenntnissen kann's nicht mißlingen! — Seine Mutter kommt mit Freuden hierher und wir machen dann eine Familie von vier Hauptpersonen und Andrä — Coq — Co- quin — drei Nebenpersonen aus." — „Er ist ja aber so ungern Kaufmann!" „— Den Einwand hab ich auch gemacht! Da küßte er mich aber und sagte: „eine gute, schöne, kleine Frau ändere Alles! für mich würde er Holz hauer werden!" „Also bis zum Kuß habt Ihr es schon gebracht!" Lisc's Wangen erglühten. „Ich wollte nicht — wirklich Vater, ich wollte nicht. Aber — wenn man sich verlobt — küßt man sich auch " „Sagte Monsieur Odo St. Diäze — der natürlich Alle« weiß! So klug bin ich nicht! — Aber, das weiß ich nun — daß meine Tochter . . . ihren alten Vater verlassen würde, um diesem Manne nachzufolgen!" — „— Kann ich dafür, daß cs so sein muß? — daß cs der liebe Gott sogar in die Bibel hat so einschreiben lassen?" Nun war Lise doch so bewegt, daß ihre Augen sich mit Thränen füllten. Doch bezwang sic sich rasch und, den Vater voll Zärtlichkeit anblickend, fügte fie in bittendem Tone hinzu: „— Sei gut, mein Vater! Gieb mich ihm freiwillig — ja — thu noch mehr — gieb ihm auch die alten Schriften, welche Du aufbewahrst. — Der abscheuliche Serpcntier wollte in Odo den Verdacht gegen Dich erregen, daß Du mit den Papieren schachern möchtest, wie ein Jude. Odo glaubt cS nicht und sagt, Du seist zwar nie freundlich gegen ihn gewesen, aber Dein Gesicht, Deine ganze Art wäre die eines Ehrenmannes." „— So — das sagte er?" Der Glöckner stand auf und wandte sich Ler Thüre zu. — „Lieber Vater!" rief da« junge Mädchen ihm nachfolgend. — „So gehst Du von mir? Willst Du^mir nicht sagen, welche Antwort Du meinem Bräutigam geben wirst, wenn er kommt, um mich von Dir zu verlangen?" Das wirst Du erfahren, wenn ich sie gegeben haben werde! Und da Ihr ohne mich Alles so vollkommen in's Reine gebracht habt, was Ihr zu thun gedenkt, so könnt Ihr nun auch mit mir bi- zum Schlußtermin der St. Disze- schcn Erbschaftsangelegenheit warten, um zu erfahren, was ich zu thun gedenke. Bis dahin, Lise, verbiete ich Dir Briefwechsel und Zusammenkünfte!" — Damit schloß sich Lise's Kammerthür hinter dem Vater, und fie blieb einen — aber auch nur einen Augenblick erschrocken stehen. Dann rief fie jubelnd: „Die Sträußchen hat der Vater nicht verboten! und Lie Botschaften durch Andrä auch nicht! Und sehen kann ich Odo aus meinem Fensterchen, so oft er unten aus dem Thurmplatze steht! Und — und — in acht Tagen ist der Schlußtermin." Am darauf folgenden Tage fand sich Odo — wie Life er dem Vater vor hergesagt, bei dem Glöckner ein. Dieser hörte im Grunde genommen nicht-, la- wa- er schon von seiner Tochter erfahren hatte. Nur daß der junge Mann