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339 nächsten Berathung des RetchshaushaltS-EtatS Mittheilung gewacht werde." — Letzter Gegenstand der Tagesordnung ist die zweite Lesung des Gesetzentwurfes über die gegenseitigen Hilsscassen. Referent Abg. Or. Oppenheim: Die Gefahren des Nichtzustandekommens dieses Gesetzes liegen klar zu Tage; ebenso aber wäre es eine Calamität, wenn ein Gesetz geschaffen würde, das nicht geeignet wäre, wohlthätig in das Leben einzugreifen. Es handelt sich darum, ein neues Grundrecht zu schaffen, das Recht der freien Krankencasse. Natürlich aber muß Vorsorge getroffen werden gegen Mißbräuche, und dies ist das Haupt streben der Commission gewesen, deren Beschlüsse ich Sie auzunehmen bitte. 8 1 wird vom Hause in folgender Fassung angenommen: „Cassen, welche die gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder für den Fall der Krankheit bezwecken, erhalten die Rechte einer einge schriebenen Hilfscasse unter den nachstehend angegebenen Bedingungen." 8 3 enthält die Normen für das Cassenstatut und in seinem letzten Alinea folgende Bestimmung: „Das Statut darf keine den Vorschriften dieses Gesetzes zu widerlaufende Bestimmung enthalten." — Abg. Gr um brecht beantragt, diesen Satz so zu fassen: „Das Statut darf keine Bestimmung enthalten, welche mit dem Zwecke der Cafse nicht in Verbindung steht oder den Vorschriften dieses Gesetzes zu widerläuft." Mit diesem Amendement wird 8 3 genehmigt. 8 4 enthält die Bestimmungen über die Genehmigung des Statuts durch die höheren Verwaltungsbehörden; die Zulassung darf danach nur versagt werden, wenn das Statut den Anforderungen dieses Gesetzes nicht genügt. „Gegen die Versagung steht der Recurs zu; wegen des Verfahrens und der Behörden gelten die Vorschriften des 8 20 und 2 t der Gewerbeordnung." Hinter diesen Worten will Abg. v. Cuny folgenden Satz einschieben: „In Elsaß-Lothringen finden statt derselben die dort geltenden Bestimmungen über das Verfahren in streitigen Verwaltungssachen entsprechende Anwendung." 8 4 wird ohne Dis- cussion mit dem Amendement v. Cuny angenommen; ebenso 8 5 (über das Recht einer juristischen Person, welches der Cafse beiwohnen soll). 8 6 lautet: „Zum Beitritt der Mitglieder ist eine schriftliche Erklärung oder eine Erklärung vor dem Vorstande erforderlich. Den Mitgliedern darf die Verpflichtung zu Handlungen oder Unterlassungen, welche mit dem Cassenzweck in keiner Verbindung stehen, nicht auf- erlegt werden." Hierzu beantragt Abg. Heyl folgenden Zusatz: „Jn- gleichen darf ihnen die Betheiligung an solchen Gesellschaften oder Vereinen, welche politische Zwecke verfolgen, nicht zur Bedingung ge stellt werden." Die Discussion erstreckt sich gleichzeitig auf § 15: „Der Ausschluß von Mitgliedern aus der Casse kann nur unter den durch das Statut bestimmten Formen und aus den darin bezeichneten Gründen erfolgen. Er ist nur zulässig bei dem Wegfall einer die Aufnahme bedingenden Voraussetzung, für den Fall einer Zahlungs säumniß oder einer solchen strafbaren Handlung, welche eine Verletz ung der Bestimmungen des Statuts in sich schließt. Jedoch können wegen des Austrittes oder Ausschlusses aus einer Gesellschaft oder einem Vereine Mitglieder, welche einer Casse drei Jahre angehört haben, nicht mehr aus dieser Casse ausgeschlossen werden." — Abg Grumbrecht beantragt, in dem letzten Satze die Worte: „welche einer Casse drei Jahre angehört haben" und das Wort: „mehr" zu streichen. Antragsteller würde es für das Beste halten, den Ausge schlossenen zu entschädigen; dies sei aber freilich praktisch kaum zu erreichen. Jedenfalls aber sei sein Antrag anzunehmen, wenn man Terrorisirungcn der Mitglieder solcher Cassen vermeiden wolle. — Abg. Bebel erklärt sich gegen den zweiten Satz der Commisfions- beschlüsse, sowie gegen den Antrag Heyl, weil beide das freie Recht der Staatsbürger verletzen und geeignet seien, manche Leute von diesen nützlichen Vereinen fern zu halten. Ueberdies sei der Ausdruck „poli tische Zwecke" im Antrag Heyl so dehnbar, daß von reactionair ge sinnten Behörden auf Grund vorhandener Obertribunalsbeschlüsse damit die meisten aller dieser Vereine todtgemacht werden können. Im 8 15 beantragt Redner nach den Worten: „einem Vereine" einzu schieben: „oder einer Fabrik", um die Arbeiter davor zu schützen, daß sie im Augenblick ihres Austrittes aus einer Fabrik aller ihrer An sprüche an die betr. Cassen verlustig gehen. — Abg. Moufang: Die Rechte der Gesammtheit müssen gegen die Rechte der Individuen so abgemessen werden, daß nach beiden Seiten kein Unrecht geschieht, d. h. der Ausgeschlossene, nicht der freiwillig Austretende wird propor tionalster nach der Zahl der Jahre seiner Theilnahme an der Casse zu entschädigen sein, wenn die Casse während seiner Mitgliedschaft Ersparungen gemacht hat. Redner beantragt in diesem Sinne, den letzten Satz des § 15 folgendermaßen zu fassen: „Der Ausgeschlossene hat Anspruch auf eine Entschädigung aus den während der Jahre seiner Mitgliedschaft gemachten Ersparnissen." — Abg. Heyl zieht seinen Antrag zu Gunsten des Antrages Grumbrecht zurück. — Bundes- commissar Geh. Ralh Nieberding: Die Regierung beabsichtigt keineswegs, auf Grund dieses Paragrapbcn den Associationen der Arbeiter entgegcnzutreten, sondern sie im Gegcntheil in loyaler Weise zu fördern. Wenn die ursprüngliche Regierungsvorlage die von der Com mission gestrichenen Worte enthält: „Den Mitgliedern darf die Betheiligung an anderen Gesellschaften oder Vereinen nicht zur Bedingung gestellt werden, so hatte dieselbe nur den Zweck, etwa vorkommenden Zweifeln zu begegnen; sie wollte ver hindern, daß Vereine und Cassen identificirt werden, vollständig in einander auf gehen. Es wird ja immer noch die Praxis so wirken, daß Mitglieder gewisser Vereine von gewissen Cassen principiell fern gehalten werden; indeß glaubt die Regierung hiergegen Bestimmungen in das Gesetz nicht ausnehmen zu sollen. Die Verbindung zwischen Vereinen und Cassen wird sich am Besten so Herstellen, daß die Vereinsmitglieder verpflichtet werden, der Casse beizutrelen. Ich glaube des halb, daß der 8 6 der Vorlage in seiner ursprünglichen Fassung angenommen werden muß, wenn man alle Unklarheiten vermeiden will, wie sie in den Be schlüssen der Commission vorhanden sind. Wenn man behauptet, eine gedeihliche Entwickelung der Cassen sei nur in der Verbindung mit Vereinen möglich, so be streite ich das. Welche Cassen, die jetzt bestehen, können Sie für diese Bebaupt- ung ansühren? Die Cassen, die nicht auf eine solche Verbindung eingegangen sind, blühen jetzt, die anderen gehen immer niehr bergab, wie dies die neueste Statistik in Preußen beweist. Namentlich aber scheint es bei dem gegenwärtigen Stande der socialen Krisis unmöglich, diese Verbindung so ohne Weiteres zu ge statten, weil man da allen Agitationen Thür und Thor öffnete. Diesen Stand punkt haben Sie ja selbst noch im vorigen Jahre in der Legislation gehabt. Die Regierung hat, wie gesagt, nicht die Absicht, Associationen der Arbeiter, wie sie hier in Rede stehen, zu verhindern, und ich bitte deshalb den tz 6 in der Fassung der Regierungsvorlage anzunehmen. Das Amendement Grumbrecht zu 8 15 ist als Verbesserung anzuerkennen, der Antrag Moufang wohl berechtigt, aber prak tisch unausführbar. Abg.Schulze-Delitzsch erklärt sich gegen die Regierungsvorlage, deren Annahme der Bildung freier Cassen den Tod bringen würde; die Commission habe sowohl in § 6 das Richtige beschlossen, als auch im 8 15 die passende Grenzlinie gefunden. Verwerfe man diese Be schlüsse, so werde man die ganze segensreiche Entwickelung dieser Organisation unterbinden. — Abg. vr. Westermeyer bezeichnet 8 6 als den entscheidensten des ganzen Gesetzes. Als derselbe be kannt wurde, habe sich in allen Kreisen der Arbeiter eine Bewegung dagegen erhoben. Man erklärte diesen Paragraphen sür unannehmbar. Er bitte deshalb die verbündeten Regierungen dringend, von dem 8 6 der Vorlage abzugehen und das Zustandekommen des Gesetzes nicht davon abhängig zu machen, daß der 8 6 der Vorlage angenommen werde. — Abg. vr. Thiel empfiehlt die Annahme der von der Commission vorgeschlagencn Fassung der 88 6 und 15, ebenso der Abg. Duncker, welcher ausführt, daß man mit dem 8 6 der Re gierungsvorlage die Axt an den besten und schönsten Theil der Wirth- schaftlichen Entwickelung des Volkes lege und das gemeinsame geistige und fortschreitende Leben des Volkes zerstöre. Bisher habe man die freie Concurrenz und wirthfchaftliche ^Freiheit hochgehalten, und eine Ausgleichung könne hier nur durch eine Vereinigung der schwachen Kräfte eintreten. Redner schließt: Wir haben uns redlich bemüht, die wirthschaftliche Ordnung und patriotischen Sinn in den Arbeiterkreisen zu entwickeln und zu fördern; entziehen Sie uns die Mittel, die ge sunden Organisationen Wester zu entwickeln, so machen Sie unsere Waffen wirkungslos und treiben die Arbeiter in die Reihen Derjenigen, welche nicht die ruhige Entwickelung, sondern nur den Umsturz wollen. Lassen Sie die Sonne, welche wir mit Freuden über unser ganzes Vaterland aufgehen sehen, ihre wärmenden Strahlen auch auf die Arbeiter niederwcrfen. — Bundesbevollmächtigter HandelSminister vr. Achenbach: Die Angriffe gegen die 88 6 und 15 liefern den Beweis, daß es sich hier um einen Kernpunkt des ganzen Gesetzes handelt. Ich darf meinerseits Namens der Verbündeten Regierungen die Versicherung abgeben, daß sie mit derselben Ruhe in die Erwägung dieser Frage eingetreten sind, wie dies heute Seitens des Reichstages geschehen ist. Dem gegenüber ziemt es sich aber auch, daß Seitens der verbündeten Regierungen rückhaltslos nochmals kurz die Gründe angegeben werden, welche für sie bestimmend gewesen sind. Die verbündeten Regierungen wollen das Wohl der Arbeiter, und sie theilen die Wünsche, welche hier so eben ausgesprochen worden. Auf der andern Seite aber werden Sie sich überzeugen, daß es sich nicht um die Frage der allgemeinen Gleichheit und Freiheit der Be wegung handelt, sondern um zu ertheilende Privilegien, und daß der Gesetzgeber sich fragen muß, an wen er diese Privilegien vertheilen will. Die Frage, wie die Cassen ' beschaffen sind, welchen das Privilegium beigelegt werden soll und zu denen der Arbeiter beizutrcten gezwungen ist, ist also von ganz hervorragender Bedeutung. Man hat niin darauf hingewicsen, daß im Mittelalter das Caffen- wescn im innigsten Anschlusse an die corvorativen Verbände sich entwickelt habe, aber damals bandelte es sich um solche Vereine, welche, wie die Zünfte, eine in die Verfassung der Städte eingefügte Corporation waren. Deshalb konnte das Cassenwesen unbeschränkt belassen werden. Hier aber stehen wir vor einer ganz anderen Frage. Wollte man den hier vernommenen Gesichtspunkten Rechnung