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1197 Zweite Beilage ru No. IV7 der Bautzener Nachrichten. Sonnabend, den LL. Mai L»7L Deutscher Reichstag. m Berlin, 8. Mai. (18. Sitzung.) Nach Bewilligung einer großen Anzahl von Urlaubsgesuchen wird sofort in die Tagesordnung eingetreten und I. der Gesetzentwurf betr. die Einführung deS Gesetzes über die Portofreiheiten vom 5. Juni 1869 im Berkehr mit Bayern und Württemberg auch in zweiter Berathung unverändert angenommen. — ES folgt II. der Antrag deS Abg. Grafen zu Münster (Hannover) auf Abänderung der 7 und 16 der Geschäftsordnung (wir haben den Antrag bereits früher mitgetheilt). Derselbe wird nach kurzer Debatte ohne Weiteres abgelehnt. — III. Mündlicher Bericht der GeschäftSordnungScommission über den Antrag deS Abg. vr. Elben wegen Feststellung eines gestimmten Anfangstermine? für die ordent lichen Sessionen deS Reichstages. Berichterstatter Abg. Klotz (Berlin) empfiehlt dem Hause NamenS der Commission die Annahme folgenden Anträge?: „den ReichScanzler aufzusordern, dahin zu wirken, daß in Zukunft ein gleichzeitiges Tagen von Landtagen mit dem Reichstage womöglich durch Feststellung eines bestimmten Anfangstermine- für die ordentlichen Sessionen deS Reichstages vermieden werde." Nach längerer Debatte wird dieser Antrag unverändert angenommen. — ES folgen IV. Petitionen. Der Schuhmacher Gerhardt in Schwerin bittet um Aufhebung einer der Ausübung deS Vereins- und Versamm lungsrechtes entgegenstehenden Mecklenburg-schwerin'schen Verordnung. Die Petitionscommission beantragt: „Die Petition dem BundeSrathe zur Berücksichtigung mit dem Ersuchen zu überweisen, thunlichst be- schleunigt dem Reichstage in Ausführung der Bestimmung deS Art. IV. sub 16 der Reichsverfassung einen daS Vereinswesen regelnden Gesetz entwurf zur Beschlußfassung vorzulegen." In der DiScussion schildert der Abg. Wigg erS die mecklenburgischen Zustände in ziemlich drastischer Weise, indem er darauf hinweist, daß den Reichstagsabgeordneten so- gar verboten sei, ohne Genehmigung der Behörde in öffentlicher Ver sammlung Rechenschaft über ihr Verhalten im Reichstage abzulegen. DaS sei ein unwürdiger Zustand, gegen den das Land die Hilfe des Reiches in Anspruch nehmen müsse, da im ganzen mecklenburgischen Lande daS größte Mißtrauen gegen daS gegenwärtige Regierungssystem gehegt werde, und man eine Besserung nur für möglich halte, wenn di« jetzigen Mitglieder der Regierung nicht mehr am Ruder seien. — BundeScommissar Minister v. Bülow (Mecklenburg) vertheidigt seine Verwaltung. Die rechtliche Geltung der Verordnung sei nicht an gegriffen worden; dieselbe habe den Zeitoerhältnissen entsprochen, unter welchen sie erlassen worden, und wenn er auch zugebe, daß die Ver- hältnisse sich rein politischen Vereinen und Versammlungen gegenüber erheblich geändert hätten, so könne man doch schwerlich von einem durch daS Gesetz hervorgerufenen Nothstand sprechen. Die ministerielle Erlaubniß werde selten oder gar nicht erbeten, daS Bedürfniß zu po litischen Versammlungen und Vereinen sei im Lande eben nicht groß. Die Gefahr, von der es sich auch in diesem Fall gehandelt, sei ganz Deutschland gemeinsam und so weit und tief greifend, daß schon des halb eine einzelne Regierung nichts Andere« thun könne, als die be stehenden Gesetzt anzuwenden; eine gedeihliche Ordnung der ganzen Frage sei der Reichsgesetzgebung hoffentlich möglich, zumal nach den seit einigen Jahren gemachten Erfahrungen, aber nicht durch Weg räumung aller Schranken in einem einzelnen Staate. Die mecklen burgische Regierung sei daher außer Stande, den durch Verfassung und innere Nothwendigkeit kompetenten Organen vorzugreifen. — Abg. Sonnemann führt auS, daß man niemals zu gesunden Zuständen gelangen werde, wenn man die freie Meinungsäußerung unterdrückt und Tendenzproeesse anstrengt, wie sie kürzlich in Leipzig schwebten. DaS beste VereinSgesetz sei gar kein Gesetz. Er gebe die Erwartung noch nicht ganz aus, daß wir ein VereinSgesetz auf vollständig freier Grundlage erhalten werden, wenn nicht auS der Initiative deS BunveS- ratheS, so doch auS der deS Reichstages. — Bei der Abstimmung wird der CommisfionSantrag angenommen. — Der Vorstand und daS Aeltesten-Lollegium der freireligiösen Gemeinde zu Frankfurt an der Oder beantragen: „in der Ueberzeugung, daß ein allgemeine- HumanitätSgefühl endlich durch die LandeSgesetze Ausdruck finden werde, den freireligiösen resp. Disstdenten-Gemeinden CorporationSrechte zu gewähren." Die PetitionScommisfion empfiehlt Uebergang zur Tages ordnung; dagegen beantragt Abg. Bernardt, die Petition an die . Commission zur Vorberathung deS Schulze'schen BereinsgesetzeS zu ver- weisen, und Abg. vr Ewald: „in Anbetracht, daß die von den Bittstellern dem Reichstage vorgelegten Ansichten über Kirchen und Lonfessionen, auf welche sie ihr Gesuch gründen, die Billigung de- Reichstages weder jemals gefunden haben noch jetzt finden, über die Petition zur Tagesordnung überzugehen." — vr. Ewald begründet unter großer Unruhe deS HauseS seine motivirte Tagesordnung. Wenn die in der Petition niedergelegten Grundsätze maßgebend sein sollten, würde man bester thun, die theologischen Facultäten ganz aufzuheben; die Petenten schienen gar nicht zu wissen, was Kirche und waS Glauben sei. — Nach längerer Discusfion wird der CommisfionSantrag ange nommen. — Die Petition de« rheinischen Actienverein« für Zucker- fabrication um Erhöhung de« EingangSzolle« vom Centner raffinirten Zucker« von 5 auf 6 Thlr. wird durch Uebergang zur motivirten Tages ordnung (Hinweis aus die Nothwendigkeit der Würdigung der Petition) erledigt. — Der preußische Justizminister beantragt die Ge nehmigung zur Verfolgung de« „BreSlauer SonntagsblatteS" zur „Schlesischen Zeitung" wegen Beleidigung des Reichstages in einem Gedicht. — Der Präsident bedauert, daß der Antrag noch Druck kosten erheische; erbittet, ihn sofort an die Geschästsordnungscommisfion weisen zu dürfen; v. Ho Verbeck möchte die Commission nicht ein mal mit der überflüssigen Arbeit belästigen und bittet um sofortige Ablehnung des Antrages. Dies ist jedoch nach der Geschäftsordnung nicht zulässig und wird deshalb dem Anträge des Präsidenten statt gegeben. — Nächste Sitzung Freitag. — Der Antrag deS Abg. Schulze-Delitzsch wegen der privat rechtlichen Stellung der Vereine wird in diesem Jahre schwerlich angenommen werden. Während daS Centrum daS Gesetz nur dann unterstützen mag, wenn von demselben die religiösen Gesellschaften und Vereine nicht ausgeschlossen werden, stellt man von anderer Seite die Zustimmung nur für den Fall in Aussicht, daß ein Gleiche« bezüglich der Gewerk-Vereine geschehe. Da nun mancher „Erzliberale" weder die Einen noch die Andern an der Wohlthat deS Gesetze« Theil nehmen lassen will, so wird voraussichtlich daS ganze Gesetz in'S Wasser fallen. — Der Vorstand des katholischen VolkSvereinS im Kreise Reichen bach (mehr als 700 Mitglieder) beantragt, sämmtliche auf Ausschließung oder Vergewaltigung der Jesuiten gerichteten Petitionen alsbald der in Berlin amtirenden Ober-StaatSanwaltschaft zu überweisen, um die Störer deS ReligionSfriedenS, die Anzettler religiöser Wirren, die Verleumder deS Jesuiten-OrdenS und der istk anerkennenden ka tholischen Kirche, kurz gesagt, um die unterschriebenen Personen straf rechtlich zu verfolgen. Er begründet diesen Antrag mit dem That- bestand des Wortlautes jener Petitionen und hofft von der Wahrheit und Gerechtigkeit deS Reichstage? „zuversichtlich", ihn zum Beschluß erhoben zu sehen. — Die Jesuttenprtitionen waren gestern Gegenstand der Verhandlung in der Petition?-Commission. Die Zahl der Petitionen zu Gunsten der Jesuiten beläuft sich jetzt auf 1392, deren Gewicht zwei Centner beträgt; gegen die Jesuiten find 55 gerichtet. Die An träge, welche die Grundlage der Verhandlungen bildeten, waren fol gende: 1) vom Referenten vr. Gneist: Die sämmtlichen Petitionen dem Reichscanzler mit dem Ersuchen zu über weisen, aus dem Inhalt derselben es zur Kenntniß der verbündeten Regierungen zu bringen, in wie weitem Maße der Orden Jesu und die von ihm geleiteten Einrichtungen und Vereine auf dem Boden des freien Vereinsrechts ihre Thätigkeit innerhalb des Deutschen Reiches entwickelt haben, sowie mit der Aufforderung: I) die verbündeten Regierungen zu veranlassen, sich über gemeinsame Grundsätze zu verständigen in Betreff der Zulassung religiöser Orden, in Betreff der Er haltung des Friedens, der Glaubensbekenntnisse unter sich und gegen die Ver kümmerung staatsbürgerlicher Rechte durch die geistliche Gewalt, insbesondere auch 2) womöglich noch in dieser Session dem Reichstag einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die Niederlassung der Mitglieder der Gesellschaft Jesu und der ihr verwandten Kongregationen ohne ausdrückliche Zulassung der betr. Landesregierung unter Strafe gestellt wird. 2) vom Korreferenten vr. Grimm: Ueber die Petitionen zur Tagesordnung überzugehen, 1) weil die Aufhebung des Jesuitenordens nur mittelst eines die Verhältnisse der Einzelstaaten zur ka tholischen Kirche normirenden Gesetzes erfolgen könne, diese Frage aber der Gesetz gebung des Reichs noch nicht unterworfen sei; 2) weil eine ein Ausnahmegesetz rechtfertigende Gefährdung der Existenz und Sicherheit des Reiches nicht dargelegtsei. 3) von den Abgg. v. Helldorf, Frhr. v. Dörnberg, von Kranach, vr. Lueiu? (Erfurt):