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Vor vier Jahren war der Bruder, danwls bereits zwanzigjährig, in die Fremde gegangen, nachdem man drei Monate zuvor die Mutter, eine Beamtenwitwe, zur letzten Ruhe bestattet harte. Georg Panier, ein ebenso talentvoller als leichtsinniger Bursche, hatte die Bildhauerei erlernt: aber statt der altern den Mutter ein: Stütze im Lebenskampf zu sein, hatte er durch seine leichtfertigen Streiche ihr so manche kummer volle Stunde bereiter. Sobald die schwergeprüfte Frau ihre Augen geschlossen, erwachte in Georgs von mancherlei schlimmen Leidenschaft zerrissener Seele der Wandertrieb, und ohne auf seine da mals kaum der Schule entwachsenen Schrvcstern — Toni zählte vierzehn, -Olga sechszehn Jahre — irgend welche Rücksicht zu nehmen, wandte er der Heimat den Rücken und zog hinauf nach Italien. . Diesen Schritt hätte ihm unter gewissen Voraus- setzungen kein billig Denkender übel gedeutet; denn Italien ist bekanntlich das Land wo nicht nur die Zitronen, sondern auch die Künste in hoher Blüte stehen und darum ein wahres Eldorado für >edes aufstrebende Knnsttalent; allein bei Georg Panier spielte das Streben noch Vervollkomm nung in seinem künstlerischen Beruf eine nur untergeordnete Rolle, und mochten seinem Feuergeist auch gewisse Jugend ideale vorschweben, so fehlte ihm dennoch die sittliche Kraft, sich zu ihnen emporzuringen; der Weg zu den Sternen blieb ihm verschlossen, und insofern nur eine ausgesprochene Abenteuersucht ihn nach Italien hingezogen hatte, so mußten jene Recht behalten, die seinem Unternehmen kein gün stiges Prognostik»» gellten. „Was will der in Italien?" hieß es in Bekannten kreisen. „Wirtshäuser mit prima Stoff und feschen Heben, die dos Feld seines praktischen Studiums bilden, gibt cs hier ebenso gut, wie drüben — nltrn monte«." Die weinenden Schwestern hatte er bei seinem Ab schied mit dem Versprechen getröstet, daß er sie nicht ver gessen, sondern ihnen von seinem dort gewiß reichlichen Er werb bedeutende Unterstützungen zufließen lassen werde. Die Erfüllung dieses brüderlichen Versprechens blieb jedoch aus. In der ersten Zeit schrieb er, daß Italien ihn in Be zug auf Verdienst schwer enttäuscht lwbe, daß seine Kennt nisse für die Werkstätten italienischer Meister noch unzu länglich seien, und daß er alles, was vom Lohn zu erübrigen sei, an seine weitere Ausbildung tuenden müsse. Später erhielten die Schwestern lange Berichte von Mißgeschicken und Unglücksfällen, die ihn, den armen Bruder, mit großer Hartnäckigkeit verfolgten. Bald hatte ihn eine schwere Krankheit mit irgend einem fremden Namen gepackt, bald n>ar an seinem Körper eine Operation notwendig geworden, böse Zufälle, die das den Schwestern zugedachte Geld verschlungen hatten. Tann kam ein Diebstahl, hierauf der Verlust seines mit Banknoten gefüllten Portefeuilles an die Reihe. Weiter hin mußte ein falsckxw Freund Verhalten, der sein Ver trauen schändlich mißbraucht und ihn um große Summen beschwindelt hatte. Zuletzt erhielten die armen Schnxstern. die übrigens längst jeder Hoffnung auf Unterstützung von dieser Seite entsagt batten, von dem guten Bruder einen kompletten — Räuberroman, der, wie alles Bvrbergegangene, den Vorzug batte — erlogen zu sein. Ein Soloansflug ins Gebirge, natürlich mit wohl- gespickter Börse in der Taiche, dann Ueberfall durch Wege lagerer. hierauf Kampf. Sieg der Uebermacht und schließ lich von seiten des Schreibers noch die Versicherung, daß er alle Ursache gehabt, dem Himmel für die Rettung seines nackten Lebens zu danken. Börse und Wertsachen, die er bei sich geführt, blieben natürlich in den Händen der Räuber. Damit hatte sich die Phantasie des Wackeren erschöpft und er ließ lange Zeit nichts mehr von sich hören. Vor ztvei Monaten etwa kam eine Karte aus Mailand, mit flüchtig hingeworsencn, nichtssagenden Notizen von Georgs Hand bedeckt. Und nun dieser Brief! Also er, der Jahre lang seine verwaisten Sck>western mit Not und Entbehrungen ringen ließ, ohne das Mindeste zu ihrer Unterstützung zu erübrigen, er entblödete sich jetzt nicht, die Armen, die vom kargen Erwerb ihrer Hände sich kümmerlich nähren mußten, uni Reisegeld anzubetteln. Und war es wirklich an dem, daß er in Luzern schwer krank darniederlag? War er früher nicht um Ausflüchte verlegen gewesen, da es galt, seine Lieblosigkeit zu bemän teln, so ivar jetzt die Vermutung sehr wohl berechtigt, daß er der Krankheit s ch als eines Vorwandes bediente, um von den Schwestern Geld herauszulocken. Dock die Guten ließen einen derartigen Verdacht gar nicht bei sich aufkommen, noch viel weniger dachten sie daran, nun gleiches mit gleichem zu vergelten. Der Appell des angeblich leidenden Bruders an ihre schwesterliche Liebe lchte sck>on ihr Inneres zum herzlichsten Mitleiden bewegt, und fern lag ihnen der Gedanke, den Notschrei des unglück lichen Bruders unerhört verhallen zu lassen. „Nicht ivahr, Olga, wir schicken ihm Geld?" ließ sich Toni nach kurzer Weile vernehmen. „Natürlich — sofort! Das heißt morgen. Leider sind am ersten Feiertage die Postschalter erst mittags geöffnet — früher geht's b nin besten Willen nicht." „Telegraphisch könnten wir cs ihm säwn heute Nacht anweisen lassen." „Wozu das? Wenn er schläft, braucht er kein Geld." „Ich fürchte, die Sorge läßt ihn nicht schlafen." „Möglich! Aber wir haben ja momentan selbst noch kein Geld." „Ah, ganz recht! Nun, es soll bald zur Stelle sein. Wieviel bekomme ich von der Kommerzienrätin?" „Mit Auslagen macht es fünfundzwanzig Mark und vicrunsiebzig Pfennig." „Hurra! — Das isi viel!" rief Toni in die Hände klat schend. „Ta können wir Georg wenigstens fünfzehn Mark schicken. — Auf Wiedersehen!" Sie griff nach dem Karton und stürmte aus dem Gemach. Wie eine Nachtelfe schwebte sie eiligen Fußes durch die nur noch spärlich von Passanten belebten Straßen. End lich nach Verlauf von ungefähr einer Viertelstunde hatte sie ihr Ziel erreicht. Fast hörbar klopfte ibr Herz, als sie jetzt vor dein palastartigen Hanse des Kommerzienrates Brcitenfeld stand und ihren Blick nach dem prachtvollen Bauwerk hin- nberschweifen ließ, das seine gewaltigen Formen in maje stätischer Rübe mitten ans dein Schoß eines paradiesischen Gartens znm dunklen Nachthininiel emporreckte. Wieder holt streckte sie die Hand nach dem blanken Knopf in dem durchbrochenen Eisenpförtchen aus. ohne den Mut zu haben, die elektrische Klingel in Tätigkeit zu setzen. Obgleich ihre Schwester seit Jabren bereits für die Gattin des Kommerzienrates arbeitete, so war sie, Toni, doch noch niemals in diesem Hause gewesen, den Verkehr mit demselben batte Olga stets persönlich nnterlialten, die vornehme Dame da drinnen wußte wohl kaum etwas von der Ernten; einer längeren Sckswester des Mädchens, das sie mit Arbeitsanfträgen beehrte. Ans diesem Umstande resul tierte sich mobl Tonis Scheu, das vornehme Anwesen jetzt zur Nachtzeit zu betreten. Doch etwas anderes war cs noch, das wie ein Engel mit dem Flammenschwert vor diesem Pförtcbcn stand, ihr den Eintritt wehrend. Ein unbeschreibliches Gefühl batte sich ihrer bemächtigt, ein Gefühl, das sie nicht zu bezeichnen, nicht zu nennen ver mocht hätte, und das gleichwohl so bleiern in ihrem ganzen Körper lag. wie cme zentnerschnxre Metallkugel sick an ihre Füße heftete, daß sie gleichsam am Boden festgewurzelt dastehen mußte, ohne sich bewegen zu können.