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Feieral ^ Nslnhsllllsrs-ökililk ^ > T-V * „Lochs, Bolkszeitung". 38. Sonntag, d^n 9 Juli. 1V08. chol'dene Schranken. Frei nach dein Englischen von Clara Rheinau. 8. Fortsetzung. sSinchdruck verboten.) „Mein armer, lieber Wilfred!" rief Frau Marlell, „wie leid tut er mir! Morgen will ich ihn besuchen. Tausend Dank, lieber Herr Mitford, daß Sie mich der quälenden Un- gewißheit entrissen baden. Vielleicht wird Ihre gute Frau mich morgen begleiten?" „Gewiß, mit Vergnügen, ich werde sie schicken," ent- gegnete der kleine Mann und verabschiedete sich lächelnd, während Frau Martell bald darauf ihr Schlafgemach auf- suchte. Was sollte sie von ihrem armen Wilfred denken? Je denfalls mußte die Hochzeit aufgeschoben werden. Es war recht ärgerlich, jetzt, nachdem bereits die Gäste vor der Tür standen und alle Vorbereitungen getroffen waren. Wirklich, sie war eine schwer geprüfte Frau. Trotz dieser Ueberzeugung schlossen sich ihre Augenlider, sobald sie den blonden Kopf auf die Kissen legte und sie schlief sanft wie ein Kiird, bis der graue Novembertag herauf dämmerte. Es lvar zwölf Uhr vorbei, als sie in Begleitung von Cousine Jenny in der eleganten Wohnung Godwins ein- traf. Beide Damen waren überrascht, den Patienten an scheinend wohl zu finden, und Frau Martell machte ihm scherzhafte Vorwürfe, daß er sich nur krank gestellt habe, um sich den Besuch bei ihr zu ersparen. Herr Godwin nahm keine Notiz von diesen kleinen Scherzen, sondern wandte sich zu seiner Cousine, deren gutes Gesicht sehr bekümmert aussah, während sie eifrig überlegte, wie sie Wilfred auf seinen gefahrvollen Zustand aufmerksam machen könne. „Würdest du es übernehmen, Jenny," begann er ohne Vorrede, „wenn ich dich bäte, Alice und mich ein halbes Stündchen allein zu lassen? Ich habe ihr unter vier Augen etwas Wichtiges mitzuteilen." „Durchaus nicht, durchaus nicht," entgegnete die gute Dame, mit taktlosem Mitleid sein blasses Gesicht und seine eingesunkenen Augen betrachtend. „Nur hoffe ich, Wilfred — daß du — daß du dich —" sie blickte in hilfloser Ver wirrung auf den Patienten, der ihr mit ostentativer Auf merksamkeit zubörte — „ich meine — ich dachte, du solltest wissen — nein, das meinte ich nicht gerade, nur " Hier versagte ihr die Rede gänzlich und Wilfred be merkte gelassen: „Also iu einem halben Stündchen, Jenny. Ich danke dir; du siehst, ich behandle dich ohne alle Umstände. Aber ich bin überzeugt, daß du hier oder dort schon etwas zu tun findest, das deine Zeit gut ausfüllt." „Gewiß, ich habe viel hier zu tun. In der Poland Street wohnt eine französische Familie, für die ich mich sehr interessiere. Ein andermal will ich dir ihre Geschichte erzählen. Aber nicht wahr, Wilfred," schloß sie mit ängst licher Besorgnis, „du denkst an das, was ich dir gesagt habe." „Sotveit es in meiner Macht liegt, Jenny." Eine Minute später hatte sich die Tür hinter ihr ge schlossen mW Frau Martell und Herr Godwin waren allein beieinander. „Eine gute, treue Seele, aber etwas albern," bemerkte Frau Martell gelangweilt. „Wir dürfen uns gratulieren. daß sie uns mit der Lebensgeschichte dieser französischen Familie vorläufig verschonte. Nun haben wir eine gute Stunde für uns, Wilfred, denn sie bindet sich an keine Zeit. Was hast du mir Wichtiges zu sagen, mein Lieber?" Herr Godwin lehnte sich erschöpft in seinen Stuhl zu rück und fixierte sie eine Zeitlang schweigend. — „Du weißt alles, was sich gestern ereignete?" fragte er endlich. „Nicht so genau. Ich tveiß, daß Frank dich bewußtlos fand und Doktor Richardson zu dir rufen ließ. Weiter hörte ich nichts." „Das sind die Hauptsachen. Welches Verdikt glaubst du, das der Arzt über mich aussprach?" „Ich kann es mir nicht denken, mein Lieber," ent- gegnete sie erbleichend. „Wirklich nicht? Nun, da es dir widerstrebt, die häß liche Wahrheit in Worte zu fassen, so will ich es für dich tun. Er sagte mir, daß ich ein Herzleiden habe und auf einen Plötzlichen Tod gefaßt sein müsse. Jedoch könne eine ruhige, geregelte Lebensweise bei Vermeidung jeder Auf regung mein Leben vielleicht um Monate, ja sogar um Jahre verlängern. Nun bedenke, meine Liebe, du bist noch jung und gesellig angelegt — an dir ist es, zu entscheiden, ob du mit einem todkranken Manne dich vermählen willst. Wie deine Entscheidung auch ausfallen möge, ich werde mich treulich daran lmlten. Die Welt aber soll nur er- fahren, daß ich mit Rücksicht auf meine schwankende Ge- sundlieit dir dein Wort zurückgegeben habe." Frau Martell bedeckte ihre Augen mit der Han- und entgegnete leise: „Laß mich überlegen, mein Lieber, ich bin ganz verwirrt." „Nicht jetzt, nicht hier, Alice; erst, wenn du allein zu Hause bist. Es geht nicht an. wenn du in meiner Gegen wart deine Entscheidung triffst. Bedenke nur," fügte er mit traurigen) Lächeln bei. „die vielen Für und Wider, die es für Gegemvart und Zukunst zu erwägen gibt und nimm dir Zeit zu dieser Erwägung." „Nein, es soll gleich geschehen, mein Lieber. In einer Viertelstunde wirst du meine Antwort haben." Godwin lächelte. Ihre Kaltblütigkeit amüsierte ihn gegen seinen Willen, dennoch war er innerlich erregt. Er ergriff eine Zeitung und fing zu lesen an, während Alice sich am andern Ende des Zimmers in einen großen Arm sessel vergrub und angestrengt nachdachte. Ja, Wilfred hatte recht, es war in der Tat vieles zu überlegen, für jetzt und später. Auf der einen Seite ihre gegenwärtige Armut, wie sie ihr Einkommen von 20 000 Mark nannte, und die Freiheit; auf der andern Seite ein angesehener Gatte, Reichtum, Stellung und Fesselung an ein krankes Leben. Mehr als einmal blickte sie auf daS feine, schöne Profil, das ihr gerade zugewandt war und seufzte. Sie liebte diesen Mann nach ihrer Weise, sein interessantes, lebensmüdes Gesicht hatte sie vom ersten Au genblick an gefesselt; sie liebte sein Geld noch mehr als ihn selbst, und doch, welches Leben hatte er ihr zu bieten! Immer und immer an seine Seite gefesselt oder bei jedem Ausgang von der Angst gequält zu sein, ihn bei der Rückkehr tot zu finden — diese Vorstellung machte sie schaudern. Sie liebte Sonnenschein und Wärme; instinktiv schrak sie zurück vor Kälte, Krankenzimmern und — Tod.