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Osr Zonntagzsrrälilör. Unterhaltungsbeilage znm Schönburger Tageblatt. Nr. 47 Sonntag, den 19. November 1922 Der Wächter. Humoristischer Roman »on Archibald Eyre. Frei bearbeitet van Helmut tan Mor. (Fortsetzung) Hütte Tommy nur ein bißchen mehr Courage oder richtiger Frechheit gehabt — er hätte wohl noch an ihm vorüber kommen können. Aber der drohende Anruf schien ihn vollkommen eingeschüchtert zu haben, und er sprang ab. Meine Gefühle vermag ich nicht zu beschreiben. Würde die ganze G> schichte jetzt herauskommen? DaS lag nicht in meiner Avßcht. Ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg — denn ich durste Tommy nicht dazu kommen lassen, von meinem Auftrag zu sprechen. Und dann glaubte ich das richtige Mittel gefunden zu haben. Ich zog nnannällig meine Börse hervor und entnahm ihr zwei Shilling-Stücke. „Woher hast du das Rad?' schrie Wilhelm noch ein- mal. Der arme Bengel warf mir einen hilscheischenden Blick zu, und blitzschnell hielt ich die zwei Shilling empor. Ob er dies stumme Zeichen verstand? — Wenn er mich Verriet — ich hatte nicht gewußt, was ich tun sollte. .Ich — ich habe es geliehen,' stammelte er endlich. An seiner Augst vergaß er ganz die gewohnte schöne Aussprache. „Wer gab dir die Erlaubnis?" schrie Wilhelm und schüttelte ihn so heftig, daß ich die Zähne des Buben auf- einanderschlagcn Hinte. -Nie — niemand, Sir.' Dabei sah er mich an wie ein Kalb, das zur Schlacht bank geführt wird. Ich zog ein drittes Shillingslück aus meiner Börse. »Er hat dein Rad nicht beschädigt," intervenierte die Prinzessin, „und deshalb kannst du ihn laufen lassen." „Ich denke nicht, daß ich das nötig habe," sagte Wilhelm heftig. „Die Unverschämtheit ist bodenlos I" Und er gab ihm einen gehörigen Puff. »Bitte, tun Sie das nicht!" sagte ich hastig. „Ich— ich — vielleicht kann ich —" „Ich will den Bengel lehren, sich mein Rad zu nehmen!" schrie Wilhelm voller Wut. Der in ihm a«f- aespeicherte Aerger über all die kleinen Mißgeschicke des Tages, den er bisher hatte unterdrücken müssen, machte sich nun gewaltsam Lust. An dem harmlosen Jungen hatte er semen Prügelknaben gefunden. Als er die Hand »um Schlage erhob, begann der Bengel kläglich zu heulen — wohl, weil er das als das probateste Mittel er funden hatte, um Prügeln zu entgehen. Seine Trauen machten den« auch die Prinzessin sofort zu seiner Für sprecherin. „Laß den Jungen gehn," gebot sie energisch, und ihre Augen flammten. Für einen Augenblick schien Wilhelm gesonnen, ihren Einspruch unbeachtet zu lassen; als sein Blick jedoch über ihr Gesicht streifte, ließ er die erhobene Hand sinken nnd gestattete es, daß Tommy sich seinem Griff entwand. „Er verdient es nicht, so davouzukommen," sagte Wilhelm grollend. „Ich weiß nicht, was er so ungeheuer Strafwürdiges getan hat," erwiderte Isa ruhig und sah ihrem Bertolten noch immer fest in die Augen. „Tommy — bitte den Herrn nm Erlaubnis, ein bißchen auf dem Rad aussahren zu dürfen ' Betroffen fuhr Wilhelm empor. „Verzeih — ich verstehe nicht —" „Du sollst den Herrn um die Erlaubnis bitten, Tom!' Der Junge hatte scheu zu ihr aufgesehen und sagte nun stockend: „Jich — iich bihte um die Erlaubnis, Sir.' „Nun wirft du es ihm ohne Frage gestatten — nicht wahr?' Er stand da und biß sich auf die Lippen. Ihr zwingender Blick ruhte unverwandt auf seinem Gesicht — und dann sagte er mit einem unmutigen Achselzucken: „Nimm das Rad und mach', daß du fortkommst, Bengel! — In einer Stunde hast du es zurückgebracht — verstanden?" Mit einer gradezu erstaunlichen Schnelligkeit saß Tommy im Sattel und war im Handumdrehen über alle Berge. Ich warf der Prinzessin einen Blick innigster Dankbarkeit zu — sie konnte nicht ahnen, welch' unschätz baren Dienst sie mir erwiesen. Wilhelm aber hatte sich rasch gefaßt. Er bekam sein liebenswürdiges Lächeln wieder und näherte sich Isa. Sie mich jedoch vor ihm zurück. „Ich hoffe, du zürnst mir nicht," sagte er in seinem gewöhnlichen Ton. Sein Zorn schien vollständig verflogen. „Du hattest keinen schönen Ausdruck auf deinem Ge sicht," sagte die Prinzessin und schauderte leise zurück. „Und ich hoffe,'daß ich ihn nicht oft sehen werde." „Ich schwöre es dir," erwiderte er rasch. „Du sollst mich nicht noch einmal so sehen, solange du lebst." Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie fest an sich. Ich sah, wie sie unter s.unr Berührung erbebte, und rasch ging ich ins Haus. Wir wurden zum Essen gernfcu und nahmen ziemlich schweigsam das verspätete Mittagsmahl ein. Wilhelm be mühte sich zwar, durch sein Plaudern den unangenehmen Eindruck zu verwischen, deu sein Benehmen gegen den Jungen gemacht hatte, verstummte aber auch, als er keine Gegenliebe fand. Und als Tommy mit dem Rade wieder erschien, verabschiedete er sich sofort. Ich fand eine Gelegenheit, Tommy die drei Shilling in die Hand zu drücke», und kehrte dann mit der Prinzessin ins Haus zurück. Als sie neben nur durch Lie Veranda zing, legte sie mir plötzlich die Hand auf den Arm und sagte, schwer atmend: „Der Zweifel — der Zweifel ist wieder da, Oswald! — Gebe Gott, baß ich ihn überwinde." Ich wollte sprechen, aber sie winkte mir hastig ab und ging mit gesenktem Haupt zur Treppe, um mich unten allein zu lassen. 19. Lange noch, nachdem mich Isa verlaffen hatte, stand ich am Fuß der Treppe und starrte auf die Stufen, über die ihr kleiner Fuß gegangen Ivar, und wußte nicht, Wa ich nun beginnen sollte. Unter dem nur halb bewußten Gedanken, daß cs mir von Nutzen sein würde, wenn sie nichts von meiner Kenntnis der Wahrheit erführen, hatte ich mein Benehmen bis hierher eingerichtet; nun aber trat der Zwang an mich heran, in irgend einer Weise zu handeln. Daß ich mit geistigen Waffen nichts mehr gegen Wilhelm ausrnincn konnte, war mir klar — diese Lehre wenigstens hatte ich aus dem gezogen, was geschehen war. Hatte er mich nicht stets zu täuschen, stets zu überlisten vermocht? War ich ihm nicht in allem unterlegen? Ich ließ die Er eignisse von Dalavich vor meinen geistigen Augen Revue panieren — und immer mehr mußte sich in mir die Er- ienntniS klären, daß es ein vergebliches Unterfangen wäre, wollte ich Wilhelms Spiel durch einen genialen Trick zu- ni.ite machen