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Erscheint täglich nachm, mit Ausnahme der Soun- u. Festtage. Vezugsprelsr Vierteljahr!. 1 Mk. 50 Pf. (ohne Bestellgeld). Post-Bestellnummer 8858. Bei außerdeutschen Postanstalten laut Zeitungs-Preisliste. Einzelnummer 10 Pfennige. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht «nd Freiheit. vueftaruelterel, keaaktlon uml KierelMssiMr Dresden, Pittnitzer Straße 43. Inserate werden die 6 gespaltene Petitzeile oder deren Raum mit 15 Pf. berechnet, bei Wiederholung bedeutender Rabatt. Redaktions-Sprechstunde: I I—1 Uhr. Fernsprecher: Amt I. Nr. 1860. 184). Katholiken: Helena. Dienstag, den 18. August 1903. Protestanten: Agnpit. Ä. Jahrgangs Die Bergarbeiterbewegurig im Rrchrrevier. Wie hoch augenblicklich die Wellen der Bergarbeiter- bewegung im Nnhrrevier gehen, ersieht man daraus, daß am Lwnntag, den 0. August, ca. 16 große Bergarbeiter versammlungen stattfanden. Immer mehr werden durch die bis auf den Grund gehende Bewegung lang vertuschte Mißstände an die Oberfläche gespült und Bergiverksbesitzcr wie Bergbehörde zu energischen Resormmaßregeln gedrängt. Neben den alten schon früher berührten Mißständen, die sich schon durch Jahrzehnte Hinschleppen, ist eine Haupt- quelle der augenblicklichen Erregung und Erbitterung die Behandlung der von der Wurmkrankheit befallenen Berg leute. Die Seuche hat bereits einen derartigen Umfang angenommen, daß von den 250 000 Ruhrbergarbeitern ca. 50 000 als wurmkcank angesehen werden können. Genauere Zahlenangaben sind erst möglich, wenn die erstmalige Unter suchung der einzelnen Gruben beendigt sein wird. Die augenblickliche Zahl der Erkrankten ans den einzelnen Zechen schwankt zwischen 7 und 5l Proz. der Belegschaft. Da die mikroskopische Kotnntersnchnng der unterirdischen Belegschaft auf Wucmeier naturgemäß nur langsam voran schreitet, so kann es nicht wnndernehmen. daß bis jetzt von insgesamt ca. 180 Zechenanlngen erst 01 untersucht worden sind. Die erschreckend hohe Zahl der Wnrmkranken erklärt sich daraus, daß, obschon bereits 1807 von kundiger Seite ans die Gefährlichkeit der Seuche hingewiesen wurde, ihre energische Bekämpfung seitens der Bergwerke und der Bergbehörde doch erst im verflossenen Jahre einsetzte. Längere Beratungen führten endlich znm Erlaß zweier Bcrgpolizei- verordnungen, die am 1. Juli bezw. 1. August 1003 in Kraft traten. Leider läßt letztere die Konsegnenz bei der Bekämpfung der Seuche vermissen. Bor allem aber nehmen die Bergarbeiter — was in der Tat für sie eine große Härte anfweist — Anstoß daran, daß sie nach § 3 selbst die Kosten der Untersuchung und Bescheinigung darüber tragen müssen. Da die Untersuchung sich ans 2—3 Tage erstreckt und mit ihr die Erlegung eines Honorars von 4—6 Mk. und ein Lohnansfall von 15 bis 20 Mk. verbunden ist, so erwachsen dem Arbeiter sehr- beträchtliche Ausgaben. Besonders erbitternd hierbei ist der Umstand, daß die Kosten verursacht sind durch eine Seuche, an deren Einschleppung und Verbreitung der Arbeiter selbst gar keine oder nur geringe Schuld trägt. Der Vorstand des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter beschloß deshalb in einer Eingabe an das Oberbergamt zu beantragen: „daß die Werksverwaltnngen ans ihre Kosten die Arbeiter ans Wnrmkrankheit untersuchen lassen." Ebenso gerecht, wie die Forderung der unentgeltlichen Untersuchung der arbeitswechselnden Mitglieder ans Wnrm- krankheit, ist das Verlangen der Bergleute, daß die Zechen den großen Lohnansfall wnrinkranker Bergleute während der Behandlung im Krankenhaus ersetzen sollen. Eine Neihe von Zechen hat die entsprechenden Zusagen bereits gemacht. Hoffentlich folgen bald sämtliche Zechen diesem aner kennenswerten Beispiele. Sie erfüllen damit eine Pflicht der Gerechtigkeit und bestärken die Arbeiter in ihrer Haltung, ans friedlichem Wege, allerdings mit der notwendigen, durch die Umstände erforderten Energie, ihren berechtigten Forderungen Geltung zu verschaffen. Der „Bergknappe" lOrgan deS Gewerkvereins christlicher Bergleute) schreibt anläßlich des Einlenkens der erwähnten Zechen: „Die Berg leute sind keine „unersättlichen" Menschen. Wenn man denselben Gerechtigkeit widerfahren läßt, sie als Menschen behandelt und der Willkürherrschaft Schranken setzt, dann werden „Heißsporne" und „blindwütige" Streikschürer stets abblitzen." Bis diese Gerechtigkeit überall erfüllt und die schon früher genügend gekennzeichnete Willkür: übermäßiges Wagennnllen, unberechtigter, durch die Marktlage nicht begründeter Lohndrnck, chikanöse Behandlung der Belegschaft, unnötiges Heranziehen fremder lohndrückender Arbeiter usw. geschwunden ist, wird die jetzige Erregung ihren Fortgang nehmen und weiter anwachsen. Die Bergarbeiter Organi sationen entfalten eine äußerst rührige Tätigkeit. Ver sammlungen über Versammlungen werden abgehnlten. Die jenigen Zechen, die den Lohnansfall der wurmkranken Bergleute noch nicht durch Zuschüsse wettmacheu, werden einzeln durch Eingaben dazu gedrängt. Bereits hat man sich auch mit den verschiedenen Klagen und Beschwerden an das Ministerium gewandt. Am Sonntag, den 16. August, fand zu Bochum eine allgemeine KnappschastS Aeltesten- Versanunlnng statt, zu der auch die Reichstagsabgeordneten des Nuhrkohlenreviers eingeladen waren. Die augenblickliche Bewegung unter den Bergarbeitern des Rnhrreviers würde bereits größere Erfolge gezeitigt haben, wenn sie ein stärkeres Rückgrat in Gestalt einer straffen allgemeinen Organisation hätte. Nur diese erringt große Erfolge und sichert sie ans die Dauer. Heute sind von den 250000 Ruhrbergarbeitern noch fast 200OOO unorganisiert. hPolitische Rundschau. Deutschland. — Der Wechsel im Preußischen Kriegs ministerinin ist nun vollzogen. Der „Reichs-Anzeiger" meldet in seiner Freitags-Ausgabe: Se. Maj. der König haben allergnädigst geruht, den General der Infanterie v. Goßler ans seinen Antrag von dem Amt als Staats- und Kriegsminister zu entbindeil und den Generalleutnant v. Einem geil. v. Rothinaler, Direktor des allgemeinen KriegSdepartements, znm Staats- und Kriegsminiuer zu ernennen. — Der Wechsel im preuß. Kriegsministerinm hat nach keiner Richtung hin Ueberraschungen hervorgernfen. Als am >5. Mai der Kriegsminister v. Goßler einen drei monatlichen Urlaub antrat, wußte ein jeder, daß er ans diesem Urlaub nicht mehr in sein Amt zurückkehren würde. Und als sogleich darnach der Generalleutnant v. Einem, gen. v. Nothmaler, der Direktor des allgemeinen Kriegs departements im Kriegsministerium, zu seinem Stellvertreter bestellt wurde, da war es keinem Menschen zweifelhaft, daß Herr v. Ein-'in als der neue Kriegsminister zu betrachten sei. Seine Ernennung ist denn auch prompt nach dem Ablauf des Urlaubes für Herrn v. Goßler erfolgt. In einem Punkte allerdings hat sich ein Irrtum ergeben. Nach der Beurlaubung v. Goßlers hieß es allgemein, daß der Kaiser mit ihm in hohem Grade unzufrieden gewesen sei, und ihn in voller Ungnade verabschiedet habe. Der Kaiser soll sogar gesagt haben: „Ich will ihn nicht einmal mehr sehen." Das; diese Erzählungen ans der Luft gegriffen waren, beweist das außerordentlich gnädige Handschreiben, mit dem der Kaiser das Enllassungsgesnch des Herrn v. Goßler genehmigt hat. Neben der Verleihung des Verdienstordens der Preußischen Krone wurde v. Goßler auch durch die Stellung n in miiio des dritten Garde- Regiments zu Fuß, das er früher geführt hatte, besonders geehrt, und ferner spricht der Kaiser dem scheidenden Minister seine» königlichen Dank und „warme Anerkennung für die Verdienste" aus. Damit kann Herr v. Goßler zu frieden sein; und in den weitesten Volkskreisen wird das Urteil und die Anerkennung des Kaisers keinem Widerspruch begegnen. — Zur Reichstagswahl in Dessau hatte sich die „Natl. Korresp." ziemlich pessimistisch dahin geäußert, daß der Wahlkreis Ivo hl au die Sozialdemokratie verloren gehen werde, da nicht zu erwarten stehe, das; die kon servativen Parteien für den Kandidaten der Freisinnigen Vereinigung, Herrn Schräder, eintreten würden. Die ,/Rational Ztg." hatte daraufhin noch einen gewissen Hoffnungsschimmer ansleuchten lassen, der aber nunmehr durch die „Kreuz-Ztg." grausam zerstört wird. Das führende Blatt der Konservativen schreibt nämlich: „Die „National Ztg." ist gespannt darauf, wie sich die Kon servativen in dem von der Sozialdemokratie stark bedrohten Nach geschiedener Ehe. Ein Sittenbild aus dem heutigen Frankreich. Von Comtesse de Beaurepaire. — Deutsch von Helene Krembs (53. Fortsetzung.) (Nachdruck verboten.) „Ball in oxtrvmm . . . ." So stand es da in gesperrten Lettern. Marzel über flog den Artikel. Er hatte sich nicht getäuscht, es war von ihm die Rode. Das Fest wurde dargestellt als die letzte Anstrengung, der letzte Versuch zur Rettung eines Verlorenen. „Aber", so schloß der Schreiber, „dies wird die Gerechtigkeit nicht hindern, ihr Werk zu tun. Wir werden nicht ruhen noch rasten, bis wir den Unwürdigen entlarvt haben." Es bedurfte nicht mehr als dieser Zeilen, um Bertinets Verzweiflung wieder zu wecken. Seine Ruhe war von kurzer Dauer gewesen. „Dunnnkopf, der ich war!" seufzte er und stützte den Kops traurig ans beide Hände. Nach einer Weile des Hinbrütcns fielen ihm die Briefe ein. Vielleicht könnte einer davon eine schnelle Beantwortung verlangen. Er öffnete sie der Reihe nach. Plötzlich erbleichte er und stieß einen bangen Schrei ans. „Ich habe wohl falsch gelesen", sagte er dann und fing aufs Nene an. Aber die Zeilen waren erschreckend klar und deutlich: „Mein Herr! Der Zustand Ihrer Tochter Mar guerite, welche infolge der Nachricht von ihrem statt gehabten Zweikampfe plötzlich und gefährlich erkraikkt war, hatte anfgehört, das Schlimmste befürchten zu lassen. Leider aber hat die Besserung nicht angehalten: ein heute Morgen eingetretener Rückfall gibt dem Arzte Anlaß zu schweren Bedenken. Unter diesen Umständen trägt Frau Bertinct mir ans, Ihnen zu melden, daß dieselbe bereit sei, ans einen Augenblick den Platz am Lager der Sterbenden abzntreten, falls Sie den Wunsch hätten. Ihr Töchterchcn noch einmal zu sehen. Ein Zusammentreffen mit der betrübten Mutter wird Ihnen erspart bleiben. Marande". „O mein Gott, welche Strafe!" murmelte Bertinet. Der Brief ist von gestern. Ohne diesen unglücklichen Ball könnte ich jetzt in la Boderie sein! Ob es noch nicht zu spät ist?" In wenigen Minuten waren seine Reisevorkehrnngen getroffen. In blinder Eile stürzte er aus den Vorsaal, stieß sich an den durcheinanderstehenden Möbelstücken, verfing den Absatz in abgetretenen Spitzen und wäre beinahe ans- geglitten über die umherliegenden Blumenblätter. Tie Luft in diesem Raume war geradezu erstickend. Die Düfte der welkenden Rose», die Gerüche der verschiedensten Parfüms, welche die Gäste hinterlassen, vermischten sich mit den Ausdünstungen der Speisereste. Marzel wurde cs ganz übel, und er drängte schleunigst der Ansgangstür zu. als eben die Wärterin des kleinen Emil erschien und ihn anfhielt. „Ach, Herr Bertinet", rief sie, „die gnädige Frau hat mir verboten, sie zu stören, aber ich bin sehr beunruhigt wogen des Kindes. Der Kleine hustet und hat Fieber. Kommen Sie doch zu ihm!" Bertinet schob die Amme ärgerlich beiseite. „Machen Sie mir Platz!" donnerte er sie au. „Meine Tochter, meine liebe Marguerite, liegt in den letzten Zügen, ist vielleicht schon tot. Sagen Sie es der gnädigen Frau und sagen Sie ihr auch, daß ich Sie ver wünsche!" Damit zog er die Türe heftig ins Schloß und stürmte die Treppen hinunter. Ein leerer Wagen fuhr eben an seinem Hanse vorbei. „Nach dem Orleans-Bahnhofe!" rief er, die Türe der Droschke aufreibend und hineinspringend, „Sie bekommen ein Goldstück, »venu ich den Zug noch erreiche." Der Kutscher trieb sein Pferd zur Eile a». Aber alle guten Worte und selbst die Peitschenhiebe wollten wenig fruchten; das müde magere Tier kam schlecht vorwärts; das Gefährt war eines von denen, die man eigentlich nur noch zur Nachtzeit antrisst, ein alter, abgedankter Kasten, dessen Federn bei jeder Raddrehnng krachten und zu brechen drohten, es wor eines von den Vehikeln, die bei Tages anbruch schleunigst wieder in die Remisen geschafft werden. Bertinets Ungeduld wuchs von Minute zu Minute. Er hielt Umschau, ob denn nirgendwo ein besseres Fahr zeug zu erblicken sei. Aber das große Paris schlief noch, die Straßen waren öde, nichts zu sehen! Langsam graute der Morgen, ein nebliger, fahler Dezembermorgen; hier und da wurde ein Ladenfenßer ge öffnet . . . Nun schlug es auch von allen Türmen die achte Stunde; und um acht Uhr zwanzig Minuten ging der Zug ab, den er benutzen mußte. Bertinet hielt die Taschenuhr in der Hand und ver folgte mit steigender Unruhe die Zeit. Ohne diesen ver wünschten Ball wäre er seit langen Stunden in la Borderie und hätte diese Onal nicht ansznstehen, dachte er. Wenn er zu svät käme! Da endlich ist der Bahnhoi. Die Billetschalter sind geschlossen, und eben macht der Schaffner auch die Türen zu. Berlinet wendet Gewalt an und springt mit Lebens gefahr in den letzten Wagen. In höchster Erregung zählt er nun die vorbeisliegenden Stationen. Fn les Andrews, Ivo er nmsteigen muß, telegraphiert er Herrn Marande: „Wenn Sie noch einen Funken des Erbarmens für eineik' Unglücklichen haben, so holen Sie mich am Bahn hof ab." XX. Margueritens Zustand hatte sich langsam verschlimmert, bis eines Morgens eine gefährliche Krisis einlrat. Der in aller Eile herbeigernsene Arzt hielt es für seine Pflicht, der betrübten Mutter die bedenkliche Lage nicht länger zu verheimlichen. Ach. die arme iholande ahnte es schon lange; der Schmerz, der au ihrem Herzen »rast, konnte kaum noch größer werden. Aber angesichts der Mitteilung des Arztes drängten sich Peinliche Pflichten an sie heran. Mußte sie nicht dem Vater des.Kindes die Möglichkeit bieten, dieses znm letztemnale zu umarmen? Sie verließ das Klankenzininior. in welchem die treue Freundin znrnckblieb. und bat Herrn Marande um eine Unterredung. „Ick, denke mir." sagte sie mit Schluchzen in der Stimme, „daß es nötig sein wird. Herrn Bertinet Mittei lung zu machen." „Fch habe auch schon daran gedacht," anwortete Herr Marande. „Wollen Sie die Güte haben und cs übernehmen^" „Gern." „Schicken wir eine Depesche?" lFortsetzung folgt.) W AM»