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Wir hörten die ganze Geschichte beim Frühstück am Morgen nach unserer Ankunft. Annie stand an der Tür, und während sie sprach, starrte sie angelegentlich die Decke an. Rita, die unter dem Eindruck stand, daß wir etwas sehr Tragisches zu hören bekommen sollten, sagte ein paar teil, nehmende Worte, die jedoch nicht die mindeste Beachtung sanden. Wir fanden später heraus, daß trotzdem Teil nahme der Tribut war, den die gute Annie für ihre Er zählung forderte. Die beharrlichen Fragen der Prinzessin, wo sich die Wunde denn eigentlich befunden und ob^ sie stark geblutet habe, waren auch nicht gerade danach angetan, das Tragische der Historie zu erhöhen. Ihr Ver langen dagegen, die Büchse zu sehen, die das Unglück an- gerichtet hatte, bereitete Annie offensichtich große Freude. „Es ist gewiß keine Büchse gewesen," behauptete der Racker von einer Hoheit, als die Beschließerin sich entfernt hatte. „Es muß eine Kanone gewesen sein. Sonst hätte Seine Ehren sicherlich nicht getroffen, was er wirklich treffen wollte." Annie war offenbar wirklich schon von feiten des Duke von Pendleton auf unsere Ankunft vorbereitet worden. Die Zimmer, die sie uns angewiesen hatte, waren für unsere Aufnahme hergerichtet, und auch sonst war alles für unsere Bequemlichkeit getan. Die Beschließerin war davon bc- nachrichtigt- worden, daß vermutlich mehrere Freunde deS Grafen daL Landhaus besuchen würden: und es hatte ihr gewiß eine große Ueberraschung bereitet, daß diese Besucher aus zwei Damen und einem jungen Manne bestanden. Denn sie hatte natürlich angenommen, daß es sich nur um Vertreter des stärkeren — acb, um wieviel schwächeren! — Geschlechts handeln würde. Auf einen Vorschlag von Nita hin gaben wir uns alle drei als Geschwister aus. Herr Marschall und zwei Fräulein Marschall also waren die Okkupanten des Schlosses Dalavich. Und alles, was ich als meine Aufgabe betrachten konnte, war, sie hier festzu« halten, bis der Graf meine Rolle übernehmen konnte. Die Prinzessin war die einzige von uns, die von der ersten Stunde an an der neuen Lage Gefallen fand. Un mittelbar nach dem erwähnten Frühstück war sie zu einem Jnspizierungsgang ausgeflogen; Rita zog sich auf ihr Zimmer zurück, und ich fetzte mich nieder, um einen aus führlichen Bericht an den Grafen abzusaffen. Ich sand es sehr schmierig, in bescheidenen Worten auszudrücken, wie meisterhaft ich alles gewendet hatte, und wie groß artig meine Lösung des schwierigen Problems war. Ich schrieb einen sehr langen Brief, schilderte des langen und breiten mein Zusammentreffen mit der Prinzessin und Fräulein Dobson und beschrieb auch das Arußere der beiden — der Vorsicht wegen. Gerade, als ich meinen Namen unter das Schriftstück gesetzt hatte, wurde von außen — das Zimmer befand sich in niedrigem Parterre — an das Fenster geklopft, und ich erkannte das von augenblicklich ziemlich wirren Haaren umrahmte Gesichtchen der Prinzessin. Es schien einigermaßen klar, daß sie mit mir zu sprechen wünschte, und ich beeilte mich deshalb, das Fenster zu öffnen. Sie balancierte auf der Lehne eines Gartenstuhles, und von diesem gefährlichen Standort aus redete sie mich an: .Ich kann es unmöglich länger vor Ihnen verbergen, Herr Marschall" — sie bediente sich, wie wir stets zu tun pflegten, der englischen Sprache und des indifferenten»^ou" — »daß ich Sie liebe." »Außerordentlich erfreulich zu hören." »Sie können mich »Iß" nennen, wenn Sie mögen. Sie sind ja mein Bruder." .Sehr gertt," sagte ich ernsthaft. »Wie lautet Ihr Vorname, Herr Marschall?" i „Oswald." „Ein wunderhübscher Name," erwiderte sie wohl gefällig. „Wollen Sie mir einen Gefallen tun, lieberOswald?" „Aha," sagte ich grimmig. „Ich Habennr beinahe ge- dacht, daß Sie irgend etwas wollten." Sie schwankte bedenklich und brauchte ein paar Augen blicke, sich wieder ins Gleichgewicht zu setzen. „Da ist so ein netter, hübscher Junge Md gräbt bei dem Häuschen drüben Kartoffeln aus," sagte sie, meinen Einwurf überhörend. „Er ist der Sohn des Forsthüters, und was glauben Sie? — Er hat Schrot, um Krähen damit zu schießen." „Warum sollte er eS nicht haben?" fragte ich. „Ja, aber was soll man mit Schrot ansangen, wenn man kein Gewehr hat?" fuhr sie fort und schielte mich verstohlen an. „Sein Vater hat ein Gewehr." „Sehr viele Leute haben ein Gewehr." „Aber der Forsthüter will es mir nicht leihen und will seinem Sohn nicht erlauben, mir das Schrot zu gebet', es fei denn —" „Was sei denn?" „Sie erlauben es." „Ah, ich merke etwas." „Ich hatte Sie lieb vom ersten Augenblick an, Oswald. Sie haben so ein wunderhübsches Gesicht. Nicht wahr, Sie erlauben es?" Ich musste wohl. „Ich hoffe, Sie werden sich keinen Schaden tun." „Ich wußte ja, Sie sind ein guter Mensch!" jubelte sie. „Wollen Sie nicht so gut sein und dem Mann da drüben zurufen: „Es ist gut?" Sie deutete auf einen schmächtigen kleinen Mann, der in einiger Entfernung mit irgend einer Arbeit beschäftigt war. Also ich ries: Es ist gut, und sie war mit einem Satz, der mich schwindeln machte, von ihrer Stuhllehne herunter. Als sie gewiß war, daß mich der Mann gehört und verstanden hatte, lief sie davon, ohne sich noch länger mit nun unnütz ge wordenen Komplimenten aufzuhalten. Ich kehrte zu meinem Brief zurück, den ich kuvertierte und adressierte. Und dann" fühlte ich mich mit einem Male sehr einsam.x Warum leistete mir Rita nicht Gesellschaft? Ein Spaziergang mit ihr bei dem prächtigen Wetter mußte recht angenehm sein. Vielleicht hatte sie" den gleichen Ge danken und kam herunter — ? Ich sichte meinen Hut auf, ging draußen vor dem Hause auf und ab und wartete ungeduldig, aber sie kam nicht. Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als ein Schritt mich aufblicken ließ. Gerechter — es war Wilhelm! „Guten Morgen!" sagte er freundlich. " »Guten Morgen!" erwiderte ich. Und in dem gleichen Augenblick, als habe ein Magnet sie herbeigezogen, erschien Rita in der Verandatür, in ein lichtes Kostüm gekleidet, mit dem Sonnenschirm in der Hand. »Willst du ein wenig ml», mir promenieren?" fragte Wilhelm sie nach der ersten Begrüßung. »Ich dachte eben, der Morgen sei doch zu schön, um ihn ungenützt zu lassen," erwiderte sie. Warum hatte sie diesen Gedanken nicht schon vor einer halben Stunde gefaßt? Jetzt gingen die beiden mit einander davon, nnd ich, der ich nicht zum Mitkommen aufgefordert worden war, stand da und fühlte mich äußerst überflüssig. Ich verbrachte einen qualvollen Vormittag, einzig mit Zigarettenrauchen beschäftigt. Selbst Annie empfand Mit leid mit meiner Verlassenheit, leistete mir Gesellschaft und regalierte mich mit weiteren Einzelheiten ihrer Geschichte, mit der ich mich eigentlich schon zur Genüge bekannt fühlte. Unter anderem erwähnte sie auch, daß Seine Ehren Herr James Mac Cuddie in einigen Wochen eine Vorlesung über die irische Frage in Oban halten würde, und ich gewährte ihr im voraus für diesen Tag Urlaub mit dem stillen Wunsch, Herr Mac Cuddie möchte schon heute zu seinem Vortrag gekommen sein. Die Zeit sür unser Mittag essen war auf ein Uhr festgesetzt, und ich beobachtete un geduldig die Uhr, die mir viel zu langsam zu gehen schien. Ein paarmal stellte ich den Zeiger etwas vor, es nutzte aber nicht viel. Nicht, daß ich so sehr hungrig gewesen wäre — es hatte wirklich andere Gründe. Als die ver abredete Stunde gekommen war und meine »Schwester" sich noch immer nicht zeigen wollte, überstieg meine Un geduld alle Grenzen, und ich fürchte, ich war sehr unhöf lich gegen Annie, die mir eine besonders schöne Stelle aus der letzten Rede ihres Idols vorzulesen wünschte. Mit jeder Sekunde wuchs mein Zorn, und ich wollte eben Lärm schlagen, als die Prinzessin erschien, in jeder Hand den Körper einer Krähe. »Ich habe sie beide geschossen," verkündigte sie trium phierend, die Tiere im mächtigen Schwange auf das Sosa schleudernd. „Können Sie Krähen kochen, Annie?" »Kochen nicht, aber braten, vorausgesetzt, daß sie nicht za alt sind."