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»U 41. Sonntag, den 17. Februar MM. Im Schnee. Skizzen von M. Reinhold. Nachdruck verboten. Die ganze Nacht hindurch waren die Schneeflocken in dichten Schwärmen vom grauen Himmel herabge fallen, den Tag hindurch und wieder eine lange Nacht. Die weiße Decke lag fest und warm auf der Erde, die ganze Natur trug das reine, weiße Winterkleid. Kein dunkler Punkt in der weiten Runde, selbst die Häuser und Manern der über die Ebene hin zerstreu ten Dörfer waren mit glitzernden Schneekrystallen so vollständig bedeckt, daß auch nicht die Spur von Zie geln und Balken zu sehen war. Aus der Ferne gli chen sie großen Schneebergeu. Ab und zu tönt der Ruf eines hungrig n Vogels durch die Lüfte. Sonst ist Alles still. Aber durch die weiße Fläche kommt es dahergekeucht. Die Arbeit ist gewaltig. Zwei Locomotiven ziehen schnaufend den Courier-Zug, und sie haben Mühe, den sich zusammenballenden Schnee zu durchbrechen. Nur langsam geht die Fahrt. Aber endlich wird der Schnee doch der Meister über Menschen- und Maschinenkraft, die Bahnstrecke ist dermaßen von einer Schneewehe überfluthet worden, daß die Locomotiven nicht mehr hindurchzudringen vermögen. Der Maschincnführer kennt die böse Stelle schon seit Jahren, er fügt sich achselzuckend in das Unvermeidliche. Der Zug sitzt fest im Schnee, es müssen Arbeiter herangeholt werden, damit sie mit ihrer Hände Arbeit dem Dampfroß den Weg ebnen. Den zahlreichen Passagieren in den Waggons wird die Kunde überbracht, sie begegnet nicht eben freund lichen Gesichtern. Fünf bis sechs Stunden wird der Aufenthalt im Schnee mindestens dauern; daß ist keine angenehme Aussicht. Das nächste Dorf ist bei diesem Schnee unter einer Stunde nicht zu erreichen. Soll man dorthin eilen? Wer weiß aber, ob der Weg überhaupt der Mühe lohnt, ob nicht auch in dem von der Welt abgeschnittenen Nest Schmalhans Küchenmei ster ist? So ist es denn am besten, am Platze zu bleibe», und sich auf fester Erde die Füße etwas zu vertreten. Auf dem Schnee kribbelt und wimmelt es von Men schen. Einige halbwüchsige Jungen ergreifen mit Eifer die Gelegenheit zum Schneeballen und auch mehrere Große thun es ihnen lachend nach. Andere gehen mit gerunzelter Stirn hin und her, ihnen bringt die Ver spätung Verdruß, vielleicht gar finanziellen Schaden. Einige junge Marssöhne, welche den allerletzten Zug vor Ablauf des Urlaubs benützten, fragen wiederholt den Zugführer, ob denn gar keine Aussicht sei, die Ver zögerung abzukürzen. Der schüttelt den Kopf und jene finden sich in ihr Schicksal, das ihnen „drei Tage Kasten" kündet, wenn der Hauptmaun nicht die „höhere Gewalt" der Schneewehen anerkennt. Die Waggons sind fast sämmtlich geleert. Doch an einem Coupeefenster zweiter Klasse wird noch ein Pelz barrett sichtbar, das auf blondem Haar sitzt. Und daneben guckt eine Pelzmütze hervor. Es ist ein jun ges Paar, das mit lachenden Augen in den Wintertag und in den dichten Schnee hineinschaut, das jetzt, wo es allein im Coupee, eng an einander gerückt ist und sich wieder und wieder die Hände drückt. Bisweilen zieht auch die behandschuhte Hand des jungen Mannes die Jalousien zum Schutze gegen die Sonne und neu gierige Blicke vor die Fenster. Was dann hinter der Leinwand geschieht, kann natürlich niemand sagen. Diese beiden Menschen sind froh und vergnügt, ob wohl ihnen der lange Aufenthalt im Schnee droht. Sie sind froh, endlich einmal allein zu -sein. Gestern war ihr Hochzeitstag, heute streben sie dem Heim zu, das sie am frühen Abend zu erreichen gedachten. Jetzt mag es Mitternacht werden. Aber trotzdem lachen Beide und der junge Ehemann nimmt die Gelegenheit wahr, wo draußen vor dem Wagen Niemand steht, seinem Frauchen auch ohne vorgezogene Jalousien einen Kuß auf den rothen Mund zu drücken. Darüber zürnt sie, sie schlägt ihm auf die Finger und er küßt ihre weiße Hand. Darüber lacht sie nun wieder, und das Lachen erscheint ihm so verführerisch, daß er sich abermals nach vorn neigt, und sie zieht rasch die Ja lousie vor das Fenster. Endlich allein! Heute Morgen vor der Abreise hatte ein solennes Frühstück stattgefunden, an welchem alle möglichen Tanten und Verwandten theilgenommen hatten. Es war sehr fidel zugegangen, aber sie waren doch nicht allein gewesen, sondern hatten immerfort allerlei Neckereien beantworten müssen. Dann war cs zum Bahnhof gegangen. Der ganze Verwandten schweif war ihnen nachgefolgt. Eduard, der junge Ehemann, hatte einem Schaffner einen harten Thaler in die Hand zu drücken versucht, aber der Mann hatte abgelehnt und bedauernd betont, bei dem heute herrschenden Andrange sei es ihm ganz unmöglich, ihnen ein besonderes Coupee zu geben. Also wieder nicht allein! Und die Reisegesellschaft war auch noch von zweiter Güte. Da war ein sehr corpulenter Herr, der gut und gern zwei Plätze beanspruchte, eine Dame mit zehn Taschm und vierzehn Schachteln, ein junges Mädchen aus der zweiten Hälfte der zwanzig, und endlich ein flotter Student, der sehr bald heraus hatte, daß ein neugepackenes Pärchen vor ihm saß, und der nicht umhin tonnte, etwas spöttisch sein Bärtchen zu drehen, wenn er bemerkte, wie der junge Mann die Hand seiner Frau zärtlich drückte. Elise genirte sich und sah am liebsten zum Fenster hinaus. Vergaß sie dann einmal die Anderen und schaute ihren Gatten zärtlich an, dann merkte sie die Blicke der übrigen Passagiere und fuhr puterroth zum Fenster zurück. Diese Hochzeitsreise war entschieden nicht gerade ent zückend. Alle Passagiere des Zuges waren vorn nach der Lokomotive geströmt, wo man inzwischen mit der Fort räumung der Schneemassen kräftig begonnen hatte. Und so waren die beiden Leutchen ganz unbeachtet, und sie benützten die günstige Gelegenheit zu einer richtigen Umarmung. Es war seit zehn Stunden die erste. Dann plauderte mau wieder. „Was meinst Du, Elise, wenn ich eine Cigarette rauche?", fragte da der junge Mann. Sie rümpfte die feine Nase ein wenig. „Meinetwegm. Aber ich kann Drr offen sagen, einen Mann, Ler stark raucht, küsse ich nicht!" Er zündele sich lächelnd eine Cigarette an, die er aus einem Etui genommen. Dabei fiel ein Papierstreisen heraus und auf den Boden des Coupecs nieder. Es achtete Niemand darauf. „O, das lernst Du schon", meinte er gemüthlich. „Manche Frau hat das schon ge sagt, sich hinterher aber doch besonnen." Er blies behag lich die Wölkchen fort, die der Cigarette entquollen. „Niemals", versicherte sie eifrig. „Ich kann mir überhaupt nicht denken, daß das Rauchen ein so großer Genuß ist. Ein Mann, der seine Frau wirklich liebt, sollte ihr nicht mit Cigarren kommen!" Er lachte herzlich. „Das sind noch Mädchenansichten, liebes Kind. Warte nur ab, Du wirst selbst davon zurückkommen." — „Niemals!" — „Gut. Darüber wollen wir uns nicht streiten. Dann behält eben Jeder ! seine eigene Ansicht." Sie warf den Kopf in den i Nacken und sah zum Fenster hinaus, ließ ihm aber doch willig ihre Hand, als er diese ergriff. Die erste Cigarette ivar aufgeraucht. Er griff nach der zweiten. „Willst Du denn noch eine rauchen?", fragte Elise erstaunt. — „Wenn Du es erlaubst, noch ein paar!" war seine Antwort. — „Das hätte ich doch nicht gedacht, wirklich nicht. Wir sitzen hier allein im Wagen und Du dampfst mir das Gesicht voll Tabaksqualm. Und das am Tage nach unserer Hoch zeit!" — „Um so besser wird Deine Schönheit sich conserviren!" scherzte er. „Eduard!", fuhr sie auf. „Wenn Du solche Worte gebrauchst, werde ich ernstlich böse." Sie wandte sich wieder dem Fenster zu. Da bei sah sie den Papierstreifen an ihrem Kleide hängen und naym ihn mechanisch zwischen die Finger. „Du verstehst auch gar keinen Spaß," begütigte er. — „Das ist kein Spaß mehr," war die kurze Antwort. Er schwieg still. Sie drehte das Papier in den Fin gern herum. Es standen seine Schriftzüge auf dem weißen Blatt. Neugierig, wie alle Evastöchter, studirte Elise. Es war indessen nur das Fragment eines Briefes, der Bogen war gerade in der Mitte durch gerissen. Da stand: „Liebster Eduard! Wonnige Stun den nie vergessen — — bald wieder kommen — vergiß nicht, was Du versprochen — Grüße Marie!" Sie traute ihren Augen kaum. Wie kam denn das hierher? In diesem Augenblick fragte Eduard: „Was hast Du denn da, mein Kind?" Siefuhrhoch, sah ihn mit geröthetem Gesicht an und fragte: „Wo her kommt denn dies Papier?" — „Es ist wohl aus meiner Cigarrentasche gefallen, versetzte er, „gieb' her!" — „Nein," war die energische Antwort. „Da erlebe ich ja recht hübsche Geschichten hier auf meiner Hoch zeitsreise. Erst die Cigaretten, und nun finde ich gar einen Liebesbrief an meinen Mann. Lies, Du Ungeheuer!" Er nahm das Blatt aus ihrer Hand und las. „Das ist allerdings der Rest von einem für mich be stimmten Liebesbriefchen," sagte er dann ernst. „Ich reise sofort nach Hause zurück," erwiderte Elise mit verhaltenem Schluchzen. „Ich merkte es vorhin schon, daß Du mich nichtj liebst, sondern mich betrügst. Meine Mama hat mir fortwährend von dieser Hei- rath abgerathen. Hätte ich auf ihre Worte doch gehört!" Der junge Ehemann lachte leise vor sich hin. „Vor allen Dingen, liebe Frau, nicht ko laut!" sagte er dann ernster. „Nebenan können auch Leute sitzen, und mir macht es kein Vergnügen, Deine Gardinenpredigt Nr. 1 vor fremden Ohren mit anzuhören. Wenn Du ganz ruhig bist und kein Wort dazwischen sprechen willst, dann will ich Dir aber die Geschichte dieses Briefchens erzählen!" — „Ich sage ja kein Wort," antwortete sie trotzig. — „Nun, dann höre mir aufmerksam zu. Aber eine Cigarette erlaubst Du gewiß noch." Sie sagte kein Wort. „Also nun höre! Es war einmal ein junger Mensch von achtzehn Jahren, recht hübsch anzuschauen, und er bildete sich auch nicht wenig darauf ein. Da seine Eltern nicht unbemittelt waren, so war er sehr gern gesehen, und ich kann wohl sagen, manche Mutter hätte ihn von Herzen gern — nach so und soviel Jahren natürlich — zum Schwiegersohn genommen. Also dieser junge Herr verliebte sich mit dem ganzen Feuer seines Herzens in eine um zwei Jahre jüngere Schön heit. Es war die erste Liebe. Wie viele Gedichte er auf seine Angebetete gemacht, will ich lieber nicht sa gen, genug, der Buchbinder in seiner Nachbarschaft erzielte eine erkleckliche Einnahme aus den rosenrothen Briefbogen, die alle für sie, die Einzige, bestimmt wa ren. Es kam denn auch endlich nach dem großen Balle in der Tanzstunde zur Erklärung. Sie schworen sich Treue für's Leben und er versprach ihr, mindestens Professor oder Geheimrath zu werden, damit sie auch eine hohe Stellung dereinst als seine künftige Frau einnehme. Sie sagten es sich einander und glaubten natürlich auch felsenfest an die Zukunft und ihre Luft schlösser. So weit war denn nun Alles gut. Aber der achtzehnjährige Jüngling besuchte noch die Se kunda des Gymnasiums und sie die erste Klasse einer höheren Töchterschule; der Jahre, bis sie Beide zum Ehestand schreiten konnten, waren doch noch eine ganze Reihe. Sie dachten nicht daran, um so mehr aber die „Herren Eltern", und als sie von der Liebschaft Kunde erhalten, paßten sie genau auf. Aber die Liebe über windet Alles. Er und sie trafen sich einst in ihrem Garten. Es war still und einsam, es war die Maien- zeit, in welcher Alles grünt und knospet, und, wer weiß, ob viel gefehlt hätte, sie hätten den ersten Kuß getauscht, wenn nicht Papa und Mama mit einem Donnerwetter, einem wahren Frühlingsgewitter, erschie nen wären. „Was treibt Ihr hier?" der Vater rief es ivüthend, die Mutter stimmte bei. Und in dieser fürchterlichen Lage, in welcher die Geliebte ihre Ueber- zeugung vor den Menschen hätte frei bekennen sollen, in diesem Augenblick verrieth sie ihn. „Er sollte mir bei meinem französischen Exercitium Helsen," betheuerte sie. „Dazu kannst Du Jemand anders fragen, als solchen dummen Jungen," grollte der Vater. „Ja, Papa," siel sie ein, „er ist zu dumm, ich thue es auch nicht wieder." — „Will's hoffen," war die brummige End rede. Frau Elise wollte etwas sagen, aber er winkte ihr Stillschweigen zu. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Jetzt kommt erst der zweite Theil. In einer Zaunlücke des Nach bargartens stand ein kleines braunlockiges Mädchen von etwa sechs oder sieben Jahren. Ihre Puppe im Arm halte sie die ganze Geschichte mit angehört, und wenn sie auch schwerlich verstanden, worum es sich ge handelt, sie hatte den armen jungen Menschen einen dummen Jungen nennen hören, und dumm, das wußte sie wohl schon, war ein schrecklicher Vorwurf. Sie sah auch, wie in seinen Augen die Hellen Thränen standen ob der ihm wiederfahrenen Schmacb, und das that ihrem Kinderherzen weh. Schüchtern kam sie heran, bat: „Nicht weinen!" und reichte ihm ein paar Blu men, die sie in der Hand hielt. Und der große junge Mensch hob das kleine Ding auf seinen Arm, küßte es und lachte, und als sie froh in die Hände klatschte, da hatte er die ganze rothbriefbogene überschwengliche Liebesgeschichte vergessen, von der dieser Papierstreifen der letzte Rest ist. Das kleine Mädchen aber kam dem jungen Menschen nicht wieder aus dem Sinne, und wenn auch Jahrelang ihre Wege weit auseinander lie fen, das kleine Mädchen den dummen Jungen von da mals längst vergessen hatte, er vergaß sie nicht, und wie er nach zwölf Jahren sie als blühende Jungfrau wiedersah, da war auch sein Entschluß gefaßt, und sie ward seine Frau. Ich wollte Dir immer schon ein mal die Geschichte von dem kleinen Mädchen am Gar tenzaun erzählen. Nun ist's jetzt hier im Schnee ge schehen."