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Gunsten der Kartellparteien aus, die Nachwahlen zum Reichstage hingegen in der Mehrheit zu Gunsten der gegnerischen Parteien. In der neuen Reichstagssession, welche ebenfalls vom Kaiser eröffnet würbe, traten be sonders die Arbeiter-Alters- und Invalidenversicherung und die neuen Flottenforderungen hervor, welche das Parlament auch im kommenden Jahre noch manche Sitzung beschäftigen werden. Von bedeutsamen poli tischen Ernennungen im Laufe des Jahres sind zu verzeichnen die des Herrn Herrfurth zum Minister des Innern an Stelle des Herrn von Puttkamer, des Freiherrn von Maltzahn-Gültz zum Reichsschatzsecretär an Stelle des Or. Jacobi und Herrn von Bennigsens zum Oberpräsidenten in Hannover. Das Verhältnniß zwischen Deutschland und Frank reich blieb unveränderlich kühl. Die maßlosen Verdäch tigungen von Deutschen in Frankreich, das Spionir- system der Pariser Regierung blieben in Berlin nicht ohne Wirkung und führten zu Gegenmaßregeln, an deren Spitze der Paßzwang für alle El saß - Lothringen betretenden Nichtdeutschen stand. Wie im neuen Jahre sich die Beziehungen zwi schen beiden Ländern gestalten, wird wesentlich davon abhängen, welche Fortschritte der Boulangismus macht. Von den deutschen Kolonien war während der ersten Hälfte des Jahres wenig die Rede. Die Kämpfe auf den Samoainseln, bei der<-n Handel Deutschland stark interessirt ist, traten vor den großen heimischen Ereignissen völlig in den Hintergrund. Anders wurde die Sache erst beim Ausbruch der ostafrikanischen Un ruhen und als die Frage des Entsatzes von Emin Pascha zur Sprache kam. Die Einführung der Sklaven blockade, die bei Bagamoyo unlängst stattgehabten Kämpfe sind allgemein bekannt. Die definitive Ent scheidung über das, was in Deutschostafrika geschehen soll, gehört dem neuen Jahre an, in welchem die vom Grafen Herbert Bismarck angekündigte Afrikavorlage dem Reichstage zur Beschlußfassung zugehen wird. Politische NuuSscharr. Deutsches Reich. Die Neujahrsgratulation am Kaiserhofe ge staltete sich in diesem Jahre wesentlich anders als in früheren. Kaiser Wilhelm I. empfing nach dem Got tesdienste die Gratulanten schlicht und einfach in sei nem Palais, vor welchem eine endlose Menschenmenge versammelt war und dem greisen Monarchen zujubelte, so oft er nur an das Fenster trat. Anders diesmal, wo seit mehr als 30 Jahren zum ersten Male wie der eine feierliche Neujahrscour im Schlosse statlfand. Zahlreiches Publikum hatte sich um das alte Hohen- zollernhaus versammelt. Schon um 9 Uhr erfolgte die Anfahrt der Fürstlichkeiten und der zur Cour be fohlenen Hofstaaten, Generale, Minister, Bundesräthe, hoher Beamten, der auswärtigen Botschafter rc., die Damen in Festkleidern ohne Schleppe, die Herren in Gala. Um '/r10 Uhr fand in der Schloßcapelle vor einer glänzenden Versammlung der vom Oberhofpre diger Or. Kögel abgehaltene Gottesdienst statt, nach welchem sich die kaiserlichen Majestäten mit dem Prin zen Heinrich, dem Regenten Prinzen Albrecht von Braunschweig, den Großherzogen von Baden und Hes sen, den Prinzen Georg von Sachsen und Leopold von Bayern, Albert von Sachsen-Altenburg, dem Erbprin- » zen und der Erbprinzessin von Meiningen nach dem ! Weißen Saale begaben, wo die Gesellschaft sich bereits - zur Defilir-Cour geordnet hatte. Die fürstlichen Herr schaften nahmen unter dem Thronhimmel Platz. Der Kaiser sprach mit zahlreichen Personen, besonders mit dem greisen Feldmarschall Grafen Moltke und den Generalen. Nach Schluß der Cour, von welcher po litische Gespräche selbstverständlich ausgeschlossen waren, begaben sich die hohen Herrschaften in ihre Gemächer. Die Majestäten statteten der Kaiserin Augusta noch einen Neujahrsbesuch ab und unternahmen, vom Pub likum lebhaft begrüßt, eine Spazierfahrt. Nach der Rückkehr fand Familientafel statt. Um 12 Uhr mit tags fand bei der Neuen Wache große Paroleausgabe statt. Bei dem prächtigen Wetter waren die Linden äußerst zahlreich besucht. Kaiser Wilhelm II. hat am letzten Tage des alten Jahres seiner Vorgänger auf dem Kaiserthrone in ernster Weise gedacht. Am Nachmittage des 31. December begaben sich der Kaiser und die Kaiserin nach Potsdam und Charlottenburg und legten in der wohl Friedenskirche am Grabe Kaiser Friedrichs und im Charlottenburger Mausoleum, am Sarge Kaiser Wil- helm's I. Kränze nieder. In stillem Gebet verweilten beide Majestäten an den Kaisersärgen und kehrten dann in das Berliner Schloß zurück. Zwischen den drei Monarchen des mitteleuro päischen Friedensbundes hat aus Anlaß des Jahres wechsels ein sehr herzlicher Glückwunschaustausch stattgefunden, eine neue Bürgschaft, daß die sehr guten Beziehungen unverändert mit ins neue Jahr hinüber- genommcn wurden. In allen europäischen Hauptstädten äußern sich die meisten Blätter in ihren Neujahrsbetrachtungen höchst friedlich. Auch den Pariser Zeitungen ist Boulan gers Wahlcandidatur viel wichtiger als das Verhält- niß zu Deutschland. Am 3. Januar beginnen die Sitzungen der mit der endgiltigen Feststellung des neuen Exercier-Regle- ments für die Feldartillerie beauftragte Commis sion. Der Entwurf dieses Reglements, welches in er ster Linie Vereinfachung der bisherigen Formen und kriegsgemäße Ausbildung von Offizieren, Mannschaften und Pferden anstrebt, ist im Laufe des letzten Som mers den Truppen zur Erprobung übergeben worden. Diese haben daraufhin ihre Berichte zum 1. October 1888 an die Generalinspecticn der Feldartillerie ein gesandt und sind die Urtheile durchweg dem Entwurf günstig. Es ist jedoch zu bemerken, daß die am 3. Januar zusammentretende Commission nicht von der General-Jnspection, sondern vom Kaiser selbst ernannt worden ist, ein Zeichen, welcher Werth der Sache bei- gclegt wird. Das neue Reglement wird voraussicht lich in 4 bis 6 Wochen endgiltig ausgestellt sein nnd zum 1. April d. I. in Benutzung genommen werden. Damit thut dann unsere Feldartillerie in taktischer Beziehung einen tüchtigen Schritt vorwärts, der un seren Nachbarn wohl einiges Unbehagen bereiten dürfte. Dem Bundesrath ist ein Gesetzentwurf für Elsaß- Lothringen, betreffend Grundeigenlhum und Hypotheken wesen, sowie die Notariatsgebühren zur Beschlußfassung zugegangen. Feuilleton. Reichsgraf Jockel. Eine Erzählung aus der Revolutionszeit. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) Der Müller ließ es sich nicht verdrießen, auch da hin zu folgen, in der seltsamen Voraussetzung, daß es keinen Anstand habe, vorgelassen zu werden; jedoch mit demseiben schlechten Erfolg. Hatte doch der Kö nig, übelgelaunt durch den anhaltenden Herbstregen, unter welchem seine Truppen litten, und durch wich tige politische Interessen abgerufen, bereits die Rück reise nach dem polnischen „Südpreußen" angetreten. Gleich anderen Tags versuchten die Franzosen das preußische Lager vor Bitsch zu überfallen, ein Unter nehmen, das sie blutig büßten. Ueberhaupt siegten die Preußen allerwärts im West rich, ohne daß deren Anführer die Siege ausbeutete. Man wollte den Fall Landaus abwarten, um weiter in Lothringen vorzudringen. Da jedoch — im November — stürzte der junge General Hoche, auf das Gebot des Convents, sich mit seinen Revolutionscohorten unter dem Rufe: „imn- äuu oü la, worb" mit Ungestüm auf die Preußen bei der Höhe von Blieskastel, folgte ihnen nach Kai serslautern und wandte sich, dort in dreitägiger blu tiger Schlacht geschlagen, uneingeschüchtert an die Blies zurück und von da über die Vogesen gegen die Oesterreicher im Elsaß. Noch in der Weihnachtswoche erstürmten die Republikaner bei wildem Schneegestöber die Höhen von Fröschweiler, dann den Gaisberg und rückten siegestrunken durch das Oberthor von Landau ein, während sich die Verbündeten über den Rhein und die Hard entlang zurückzogen. Inzwischen ward durch die Ausleerungscommission das Schloß Blieskastel, ohne daß es der Müller von Spelzheim hindern konnte, ausgeplündert, niederge brannt und dem Erdboden gleich gemacht. Wo mitt lerweile die reichen Möbel und Kunstschätze hingekom men waren, wußte Niemand zu sagen. Verschiedene Commissäre wurden später des Raubes zum eigenen Vortheil bezüchtigt und angeklagt. Nur Einzelnes ward von ehemaligen Leyen'schen Unterthanen unter der Hand erstanden; so eine Dose, ein Stock und zwei Staatskleider aus dem Nachlaß des verstorbenen Reichsgrafen — durch den Müller von Spelzheim. Da durch die neue Verfassung von 1795 die Emi granten auf immer aus der Republik verbannt, ihre Habschaft und Güter der Nation verfallen waren, konnte für jetzt an eine Rückkehr der Gräfin nicht ge dacht werden. Die Bewohner des Ländchens waren durch die Kriegslasten ausgesogen, aller Besitz der gräflichen Familie, im Werthe von vielen Millionen, geraubt und verheert. Endlich, nach dem Frieden von Campo Formio, durch welchen das linke Rheinufer abgetreten wurde, ergaben sich die Bewohner in das Unvermeidliche. Während die Bürger von St. Ingbert eine Republik für sich gründeten, hatten sich die zu Blieskastel so sehr mit den neuen Verhältnissen versöhnt, daß sie mit großer Festlichkeit einen Freiheitsbaum aufpflanz ten. Ein Sohn des Hofrathes Schmelzer hielt dabei die mit Jubel begrüßte Ansprache, und — was dem Müller von Spelzheim, der sich ebenfalls,wieder ein gefunden hatte, besonders auffallen mutzte — die ganze Leyen'sche Dienerschaft wohnte dem lustigen Auf zuge bei. i Ueber die nächstjährigen Kaisermanöver soll, wie es heißt, eine kaiserliche Entscheidung getroffen sein. ! Auf keinen Fall dürfte ein Manöver vor dem obersten Kriegsherrn bei dem 1. Armeecorps stattfinden, da ein solches erst 1887 abgehalten ist; auch wohl nicht bei dem 5. und 6. Armeecorps. Wenn die Reihen folge, wie früher, eingehalten wird, so würde das 9. und 10. Armeecorps die Auszeichnung treffen, vor dem Kaiser zu manövriren. Die letzten Kaisermanöver in Hannover und Schleswig-Holstein fanden 1881 statt. Ihnen folgten 1882 die Manöver in Schlesien und im Königreich Sachsen. Bei der bevorstehenden Breslauer Reichstagser satzwahl gehen die Kartellparteien und die Antisemiten und die sogen. Handwerkerpartei nicht zusammen, wie es 1887 der Fall war. Antisemiten und Handwerker sind mit dem nationalliberalen Candidaten Tschocke nicht einverstanden und stellen einen eigenen Vertrauens mann auf. Die Folge wird sein, daß ein Socialist durchkommt. Ein reiches Geschenk zum Besten der katholischen Marienkirche in Hannover ist in diesen Tagen dem Abg. Windthorst, dessen Lieblingsplan der Kirchen bau ist, zu Theil geworden. Papst Leo XIII. hat Herrn Windthorst nämlich die Summe von fünfzig tausend Franken überreichen lassen. Der deutsche Generalconsul in Kopenhagen, I)r. Stübel, ist, wie bereits mitgetheilt ist, auf einige Zeit nach Berlin berufen. Man nimmt an, daß seine An wesenheit für die Ausarbeitung der ostafrikanischen Vorlage gewünscht wurde. Ferner soll der Reichs kanzler die Absicht haben, bei der Ausdehnung der colonialpolitischen Geschäfte in den Dienst des Aus wärtigen Amtes dauernd einige Beamte einzustellen, die neben den allgemeinen diplomatischen und juristi- scheu Kenntnissen im Besonderen auch persönliche Ko lonialerfahrungen besitzen. In Brüssel ist jetzt der Wortlaut der neusten Mel dungen des Araberhäuptlings Tippu Tip über Stan ley eingegangen. Daraus ergiebt sich, daß Stanley nach einem 82 Tage langen Marsche im August von Emin Pascha am Aruwiniflusse angelangt war und nach Aufnahme neuer Vorräthe zu dem mit Lebens mitteln und Munition wohlversehenen Emin zurückzu kehren gedachte. Bei Emin befand sich auch der italieni sche Afrikareisende Capitän Casati. Weitere sichere Meldungen fehlen total. Oesterreich-Ungarn. Das ministerielle Wiener „Fremdenblatt" theilt mit, daß in unterrichteten Kreisen nichts von der Errich tung einer Donaukriegsflotte, noch von einem da rauf bezüglichen Memorandum des Admirals von Sternecker bekannt ist. Natürlich wird also auch von den Delegationen keiner Floltenkredit gefordert werden. Auch diese Mittheilung ist als ein sehr bedeutsames Friedenszeichen und Vertrauensbeweis Rußland gegen über aufzufassen. Kaiser Franz Joseph nahm am Neujahrstage die üblichen Gratulationen entgegen. In Pest empfing Ministerpräsident von Tisza die Mitglieder der Re gierungspartei zum Neujahrsglückwunsch. Der Premier dankte den Herren für die Unterstützung der Regierungs politik im beendeten Jahre, die nur dem Wohle Un- Wieder, wie schon so oft, stellte der Müller Er kundigungen nach seiner „Braut", der Reichsgräfin Maria Anna, an. Man konnte oder wollte ihm nichts berichten. Ja, man lachte ihm unverhohlen in's Ge sicht und spottete seiner. Die Zeit war vorüber, wo man Rücksichten auf ihn zu nehmen hatte. Nannte man ihn doch geradezu einen Narren. Und als er einen der früheren Schloßbediensteten, der ihn für einen albernen Bauernsimpel erklärte, gelegentlich mit einem Faustschlag niederstreckte, ward er durch Ur theil des Friedensrichters zu vierzehn Tagen Gesäng- niß verurtheilt. Da hatte der Müller Muße, über die Wendung der Dinge und die Aussichten seiner Brautschaft, an der er selbst unverbrüchlich festhielt, nachzudenken. Ein stiller Ingrimm gegen die neue Ordnung bemächtigte sich seiner. Er schwor bei sich, trotz alledem und nur um so fester auf seinen Aussichten zu bestehen, nicht abzulassen von der langgenährten Hoffnung und im Stillen nicht blos nach der Braut, sondern auch nach der Wiederherstellung der Grafschaft beharrlich zu trachten. Einmal mußte ja die Verlobte zurückkehren. Und sie hatte ja versprochen: „Keinen Andern!" Im Wandel der Zärtlichkeit blieb sein Ziel unver rückbar. Seine Mühle versäumte er dabei keineswegs. Ja, als Muster eines haushälterischen Mannes, suchte er deren Ertrag noch zu steigern, verwandte wenig mehr zur eigenen Lust, vieles an die behaglichere Einrichtung seines Hauses. Einmal mußte ja der Tag erscheinen, wo sie wieder kam, und er wollte sich nicht unvor bereitet überraschen lassen. (Schluß folgt.)