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WMirgtr Tageblatt Erscheint täglich mit Ausnahme der Tage nach Sonn- und Festtagen. Beiträge sind erwünscht und werden eventuell honorirt. Annahme von Inseraten für die nächster scheinende Nummer bis Mittags 12 Uhr des vorhergehenden Tages. «nd Waldenburger Anzeiger. Der Abonnementspreis beträgt vierteljähr lich 1 Mk. SO Pf. Alle Postanstalten, die Expedition und die Colporteure dieses Blattes nehmen Be stellungen an. Einzelne Nummern 8 Pf Inserate pro Zeile IO Pf., unter Eingesandt 20 Pf. Amtsblatt für den Stadtrath zn Waldenburg. 124. Donnerstag, den 29. Mai 1884. "Waldenburg, 28. Mai 1884. Unverhofft kommt ost — namentlich im politischen, und speciell wieder im parlamentarischen Leben. Recapiluliren wir die Geschichte der Verhandlungen des deutschen Reichstages genau, so finden wir eine so große Zahl unverhofft und plötzlich eingetretener Ereignisse, daß die Ausnahme mitunter ganz zur Regel wird. Unverhofft schnell hat sich auch das Schicksal des Unfallversicherungsgesetzes für die Arbeiter entschieden: Die Erhebung zum Gesetz durch die Majorität des Reichstages im Laufe des Juni ist so gut wie sicher, und damit wäre der Hauptzweck der Session erreicht. Erinnern wir uns der unendlichen Schwierig keiten, die das Gesetz früher im Reichstage hervor rief. Wochen- und Monate lang hat die Commis sion darüber berathen, und als sie endlich zu Ende gekommen war, da war von einer Einigung keine Spur zu bemerken. Auch in der laufenden Legis laturperiode ließ sich die Sache nicht viel anders an. Eine ganze Reihe hervorragender Bestimmun gen waren abgeändert, und man konnte annehmen, daß die Reichsregierung nur nach sehr harten Kämpfen ihre Zustimmung geben würde. Mit einem Worte, die Volksvertreter konnten sich auf eine Session bis tief in den Juli hinein mindestens ge faßt machen, und das schien noch der glücklichste Fall bei der Zahl anderweitiger Vorlagen, die dem Reichstage zur Beraihung unterliegen. Da kam die Berathung des Socialistengesetzes. In der zweiten Sitzung über das Gesetz (am 9. Mai) erklärte nun der Reichskanzler in ganz kategorischer Weise: Der Reichstag müsse unbedingt das Unfallversicherungs gesetz erledigen, und sollte er bis zum Herbst zu sammen bleiben. Zugleich beklagte sich Fürst Bis marck über das langsame Fortschreiten der Arbeiten in der Commission. Die Folge dieser Aeußerungen ist die Thatsache, daß, trotz mehrerer Pausen, am 24. Mai die erste Lesung des Gesetzes ebenso wie die zweite beendet und die ganze Vorlage gegen die Stimmen der Deutsch-Freisinnigen angenommen war, und das ist die Hauptsache, wesentlich in der Form der Regierungsvorlage. Die Worte des Kanzlers hatten wie man sieht, ihren Eindruck nicht verfehlt. Wie ist nun das Gesetz zu Stande gekommen? Die conservative und die Centrumspartei haben unter Anziehung von Regierungscommissaren zwischen der ersten und zweiten Lesung Sitzungen abgehalten und in denselben sich über alle Hauptpunkte ge- eimgt. Da sie die Majorität besitzen, so war die zweite Lesung in der Commission sehr kurz und die Annahme des Gesetzes erfolgte schon am zweiten Tag. Für dasselbe stimmten auch die National liberalen, erklärten ihre Abstimmung aber als nicht verbindlich für die Partei! Ob diese im Plenum nun für oder gegen das Gesetz stimmen wird, das erstere dürfte aber wohl der Fall sein, ist ziemlich gleichgiliig, Conservative und Centrum sichern an und für sich schon das Zustandekommen. In dem Gesetz, wie es aus der Commission an den Reichstag geht, stellen sich die Hauptpunkte nun folgendermaßen: Ausgeschloffen von dem Unfallversicherungsgesetz bleiben die land- und forstwirthschafllichen Arbeiter, ebenso die im Reichs-, Staats-, oder Communal- dienst angestellten Beamten der vom Gesetz bezeich neten Betriebe. Die Carenzzeit beträgt 13 Wochen; d. h. also, die Unfallversicherung tritt erst 13 Wochen nach eingelretenem Unfall in Kraft. Bi« zu diesem Tage haben die Krankenkassen den Verletzten zu unter stützen. Die Privatversicherung ist völlig ausge schlossen. Die Art der Bildung der Berufsgenossen- schaften, bei denen die Versicherung erfolgt, — für einzelne Bezirke oder das ganze Reich — ist der Regierung überlassen. Für zahlungsunfähige Ge nossenschaften tritt das Reich mit seiner Garantie ein. Die Arbeiterausschüsse sind in der Hauptsache beibehalten, dagegen sind an Stelle des Reichsver sicherungsamtes Landesversicherungsämter getreten. Das ist das Gesetz in seiner jetzigen Form und in dieser wird es auch wohl definitiv — gegen die frei sinnige Partei, Socialisten u. s. w. — zur Annahme gelangen, wenn auch unter heftigem Protest. -Waldenburg, 28. Mai 1884. Politische Rundschau. Deutsches Reich. Der Kaiser nahm am Dienstag Vormittag die regelmäßigen Vorträge und zahlreiche militärische Meldungen entgegen, conferirte darauf mit dem Chef der Admiralität, Generallieutenant v. Caprivi, dem Kriegsminister Bronsart v. Schellendorf, arbei tete dann mit dem Chef des Militärkabinets, Gene rallieutenant v. Albedyll und machte nachmittags eine Ausfahrt. Nach seiner Rückkehr conferirte der Kaiser längere Zeit mit dem Minister v. Putlkamer. Die feierliche Grundsteinlegung des Reichstagsgebäu des hat der Kaiser auf den 9. Juni mittags 12 Uhr festgesetzt. Der deutsche Kronprinz, welcher am Dienstag früh von den Vermählungsfeierlichleiten in Philipps- ruhe zurückgekehrt ist, hat im Laufe desselben Tages dem Kaiser einen längeren Besuch abgestattet. Die in den letzten Wochen in England, Frank reich und Holland gewesene Deputation des TranS- vaalbauernstaates, die zur Zeit in Lissabon weilt, ist am Dienstag Abend von Lissabon nach Berlin abgereist. Es verlautete schon vor einigen Tagen, daß diese Deputation, welche aus den Spitzen der Transvaalregierung besteht, auf den Wunsch des Fürsten Bismarck nach Berlin kommen würde, zwecks Abschlusse« eines Handelsvertrages. In Verfolgung der deutschen Interessen in Afrika würde dies ein wichtiges Glied in der allgemeinen Kette bilden. Die Reichstags-Commission für das Actiengesetz beendete die erste Lesung. Sie genehmigte Artikel 249ä und 6 unverändert und stimmte dem Antrag Horwitz zu, auch diejenigen zu bestrafen, die sich der Wahrheit zuwider als Aclieneigenthümer ausgeben, und diejenigen, die dazu Actien überlassen. Die Regierungsvertreter erklärten sich prinzipiell damit einverstanden. Mit der Redaclion des Antrags wurde die Subcommission beauftragt. Der Antrag, die Führung eines Handelsregisters, soweit er die Aktiengesellschaften betrifft, nicht dem Amtsgericht, sondern dem Landgericht zu überweisen, wird von der Regierung bekämpft und mit 10 gegen 9 Stim men abgelehnt. Die zweite Lesung der Vorlage wird am 9. Juni stallfinden. Der Abgeordnete Herr Or. H. Delbrück soll eine Aeußerung über den Lehrerstand gethan haben, die viel böse» Blut gemacht hat. Nach dem Bericht der „Kreuz-Zig." über die Sitzung der Unter- richlscommisston des preußischen Abgeordnetenhauses vom 29. April, in welcher die Frage der Gleich stellung der Lehrer höherer Schulen in Rang und Gehalt mit den Richtern erster Instanz verhandelt wurde, äußerte sich im Laufe der Debatte der ge nannte Abgeordnete dahin: eine Gleichstellung mit den Richtern sei nicht zuzugeben, „da der Richter stand ohne Zweifel ein vornehmerer al« derjenige der Lehrer." Man könnte zwar, entgegnet darauf spitzig da» „Kleine Tageblatt", mit einiger Wahr scheinlichkeit behaupten, daß vornehme Gesinnung sich in diesem Berufe ebenso gut bilden und festigen könne wie beim Protokollschreiben, Verbrecherver- hören, Urtheilfällen, ja daß sie Voraussetzung diese« Berufes ist oder sein soll. Aber die wahre Vor nehmheit, die Vornehmheit des Herrn Delbrück ist freilich etwas Anderes. Wie kann auf diese ein Stand Anspruch machen, der in der Mehrzahl seiner Vertreter seine wenigen Mußestunden mil Studien über das Wesen der Sprache, die Meinung dieses oder jenes Philosophen oder über ein mathematisches Problem ausfüllt, statt sie in wahrhaft vornehmer Weise auf Bällen, Landpartien oder an einem mit Honoratioren garnirten Stammtisch zu verbringen? Es fehlt ja dem Oberlehrer fast immer, was der Student mit einem näselnden Beiklang „feudal" nennt. Er trägt nicht immer tadellose, ja ost über haupt keine Glaces. Nach welcher Mode ist oft sein Rock zugeschnitlen! Gar frisirl und pomadisirt kommt er überhaupt nicht vor. Also hat Herr Del brück ganz Recht, dieser Stand kann dieselbe Rang stufe mit dem ihm früher gleichgestellten, jetzt aber „ohne Zweifel vornehmeren" Richterstande nicht be anspruchen." Die von dem Aeltestencollegium der Berliner Kaufmannschaft erwählte Commission beschloß in Verfolg der von verschiedenen Handelskammern ein gegangenen Wünsche, zur Conferenz behufs Bera thung des Börsensteuerentwurfs diejenigen Han delskammern zu berufen, welche seiner Zeit an der Berathung über die Auslegung des Slempelsteuer- gesetzes am 1. Juli 1881 theilnahmen. Der Con- screnz soll vorgeschlagen werden, eine gemeinschaft liche Eingabe an den Bundesralh zu richten. Der Reichstag wird seine erste Plenarsitzung am 10. Juni abhallen. Die zweite Lesung des Unfallversicherungsgesetzes wird aber voraussichtlich nicht vor dem 16. Juni beginnen und mindestens acht Sitzungen erfordern. In Abgeordnetenkreisen hofft man, die Session schon gegen Ende Juni schließen zu können, es w'.rd darüber aber doch wohl die erste Juliwoche vergehen, zumal da das Börsen steuergesetz zweifellos eine Verzögerung herbeisühren wird. Der Gesetzentwurf über die Subventionirung von Dampferlinien nach Ostasien und Australien wird den Reichstag möglichst am 11. Juni schon beschäftigen. Der Entwurf wird einer Commission überwiesen werden. Wie es heißt, will man dabei auch die Colonisationsbestrebungen der Regierung zur Sprache bringen. Oesterreich. In Wien ist vor einigen Tagen der 25 Jahre alte, aus Alexandroff (in Russisch-Polen) gebürtige Adolf Januszcinski verhaftet worden, welcher mehrere Jahre in Wien unter dem Namen Adolf Junger gelebt hat, bei der vorjährigen electrischen Ausstellung als Ingenieur angestellt war und ins besondere Studien der Sprengtechnik betrieb. Bei einer vorgenommenen Haussuchung wurden ein förmliches Laboratorium zur Erzeugung von Spreng mitteln, ferner falsche Pässe vorgefunden. Laut Ur theil von Fachmännern ist Januszcinski ein ausge zeichneter Chemiker. Zu seiner Verhaftung führte die Anzeige der Krakauer Behörde, daß Januszcinski ein gefährlicher Nihilist sei. Er selbst behauptet, die chemischen Studien nur aus wissenschaftlichen Grün den betrieben und die falschen Pässe behufs Entzieh ung aus russischen Verfolgungen sich verschafft zu haben. Rußland hat die Auslieferung Januszcinski'« verlangt. Gegenwärtig finden darüber Verhand lungen statt. In Wien haben am Montag zwei Ersatzwahlen zum österreichischen Reichsrath stattgefunden, dir eine nie zuvor dagewesene Betheiligung zeigten. Im ersten Wahlbezirk wurde mit der großen Majorität von 2145 unter 2448 abgegebenen Stimmen der liberale Candidat Josef Kopp gewählt. Im sechsten Bezirk, wo 78 Prozent der Wähler stimmten, siegte