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Nacht früher aufgestanden, als an dm vorhergegangenen Tagm. Die Besserung schreitet in der erfreulichsten Weise fort. Am Nachmittag hörte der Kaiser aber mals eine Reihe von Vorträgm. Der deutsche Kronprinz und die Kronprinzessin benutzten, wie aus London gemeldet wird, den Mon tag Nachmittag zu einem Besuch von Sydenhorn, wo ein Kinderfest zu Ehren des Jubiläums stattfand. Das kronprinzliche Paar nahm vor der Bartholomäus kirche Platz und wurde von der Geistlichkeit, darunter auch dem Pfarrer der Sydenhamer deutschen Gemeinde, begrüßt. Schließlich pflanzte die Kronprinzessin vor der Kirche eine Eiche. Das deutsche Schutzgebiet von Kamerun ist dem Weltpostverein beigetreten. Für den Briefverkehr mit Kamerun kommen daher allgemein die Vereins portosätze zur Anwendung. Auf den vom Staatssekretär von Bötticher an den Kaiser erstatteten Bericht über den Schluß des Reichs tages hat der Monarch mit einem eigenhändigen Schreiben geantwortet und unter dankender Aner kennung für die Person des Ministers die Erwartung ausgesprochen, daß seine Worte auf den Reichstag den beabsichtigten Eindruck gemacht haben werden. Zugleich - dankte der Kaiser dem Minister für die würdige und s erhebende Anordnung der Grundsteinlegung in Kiel und bemerkte dabei noch, daß, wenn er auch unter den Folgen der Feier habe leiden müssen, es ihn doch mit Genugthuung erfüllte, Zeuge der nationalen Feier ge wesen zu sein. Der Bundesrath wird heute Donnerstag die neue Branntweinsteuervorlage, Zuckersteuervorlage und Jn- nungsgesetz annehmen. Das Kunstbuttergesetz wird erst nochmals einer Commission überwiesen. Mit der Ausarbeitung der Ausführungsbestimmungen zur Branntweinsteuer soll sofort begonnen werden. Der frühere freisinnige Reichstagsabgeordnete, Ma jor a. D. Hinze, zuletzt im 1. hessischen Infanterie regiment Nr. 81, ist, nach der Kreuzztg., in Folge ehrengerichtlichen Spruches des Rechtes, die Militär- Uniform zu tragen, und den Officiers-Titel zu führen, für verlustig erklärt worden. Mit Rücksicht auf den leidenden Zustand des Reichs kanzlers Fürsten Bismarck ist demselben ärztlicherseits thunlichste Zurückhaltung von den Geschäften vorge schrieben worden. Dem Fürsten dürfen daher während seiner Abwesenheit von Berlin keinerlei Schriftstücke vorgelegt oder nachgesandt werden, so daß aus eine Beantwortung derselben nicht zu rechnen ist. Die soeben erschienene Anciennitätsliste der Officiere des deutschen Reichsheeres und der Marine für das Jahr 1887 läßt erkennen, daß im letzten Jahre vom 1. Juni 1886 ab die Avancementsverhältnisse sich im Allgemeinen sehr erheblich verbessert haben. Es ist das eine Folge des neuen Pensionsgesetzes und der Armeeverstärkungen. Im Rcichsgesundheitsamt hat vor Kurzem bekannt lich eine Conferenz über die Herstellung des Bieres stattgefunden. Die Verhandlungen darüber nehmen einen großen Umfang an und werden auch voraussicht lich einen bleibenden Erfolg haben, indem sie die Vor legung eines Gesetzes über die Herstellung von Bier und den Verkehr mit Bier zur Folge haben werden. Man plant dm Erlaß sehr strenger Bestimmungen und dürfte es im Großen und Ganzen an die bayeri sche Biergesetzgebung anlehnen. Die Erhebungen sollen zu eigenartigen Einblicken in die bestehenden Zustände geführt haben. Dem Staatssekretär Grafen Herbert Bismarck ist das Großkreuz des Sonnen- und Löwenordens vom Schah von Persien verliehen worden. Bei einzelnen deutschen Husarenregimentern werden gegenwärtig Ausrüstungsversuche mit einem neuen Korb säbel gemacht. Derselbe ist ganz gerade, zwei schneidig und soll nur zum Stechen dienen. Sein Gewicht ist leichter, als das der anderen Säbel. Die Abgeordnetenwahlen in Bayern, welche am Dienstag stattgefunden haben, haben denvereinigten Nationalliberalen und Freisinnigen die Mandate von München I als Gewinn gebracht, die bisher im Be sitz der Centrumspartei waren; ebenso war der Wahl ausfall in Regensburg, Nürnberg, Augsburg. In Würzburg scheinen die Liberalen gesiegt zu haben, in Ansbach, Fürth, Schwabach, Kaiserslautern behielten die Demokraten die Oberhand, in München II das Centrum. Auch Passau scheint liberal gewählt zu haben. Alles Uebrige noch unklar! Die franzosenfreundlichen Eltern im Reichslande werden nochgerade klug. Die Mode, die Söhne in französischen Lehranstalten erziehen zu lassen, ist sehr in Abnahme begriffen. Die Hauptursache, weshalb man jetzt den Söhnen mehr eine deutsche, als eine französische Erziehung ertheilen läßt, ist die, daß viele Eltern an ihren Söhnen, die im Auslande erzogen waren, bittere Erfahrungen gemacht haben, indem die selben die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligendienst nicht erhielten, und sich gezwungen sahen, eine zwei jährige oder gar dreijährige Dienstzeit durchzumachen. Jüngere Söhne derselben Familien erhalten daher durch weg eine deutsche Erziehung und besuchen die inländi schen Lehranstalten. Oesterreich-Ungarn. Die ungarischen Reichstagswahlen ergeben für die Regierung eine volle Mehrheit von hundert Stim men; eine so große Majorität ist im ungarischen Par lament seit 18 Jahren nicht vorhanden gewesen. Frankreich. Präsident Grevy hat, wie aus Paris gemeldet wird, beschlossen, dem in einem Briefe der Patriotenliga ausgedrückten Ersuchen, die Regierung solle beim deut schen Reiche Schritte gegen die Entscheidungen im Leipziger Hochverrathsproceß thun, keine Folge zu geben. Wieder einmal Heller Skandal in Paris! Der Abg. Laisant hatte erzählt, General Ferron habe ihm gesagt, er habe auf Verlangen der Monarchisten seine neuen Gesetzentwürfe dem Oberkriegsrath zur Begut- ! achtung vorlegen müssen. Die Regierung hatte die ' Nachricht für falsch erklärt, Laisant hält aber seine Mittheilung in beleidigenden Ausdrücken aufrecht, und nun ist der Lärm fertig! Mit Italien ist wieder ein Zank wegen des Co- lonialbesitzeS am Rothen Meere im Gange. Im italienischen Parlament war die Insel Deffe als strei tiges Gebiet bezeichnet. Minister Flourens erklärte darauf in einer Note nach Rom, die Insel sei fran zösisch, und verlangte Anerkennung des Besitzes. England. Die Jubiläumsfeier der Königin Victoria ist in London ohne jeden größeren Unfall verlaufen; eine Anzahl Personen sind allerdings in dem kolossa len Gedränge, welches bei der Vorüberfahrt der Kö nigin nach der Westminster-Abtei entstand, verunglückt. In der Abtei selbst, deren Räume überfüllt waren, entstand keinerlei Störung. Von allen fremden Fürst lichkeiten, welche den Wagen der Königin umgaben, wurde die lebhafteste Begrüßung dem deutschen Kron- ' Prinzen zu Theil, der in seiner glänzenden Kürassier- Uniform außerordentlich stattlich erschien. Bei einbre chender Dunkelheit begann eine fast allgemeine Illu mination der Stadt, besonders großartig gestaltete sich ' dieselbe in Westend und in der City. Trotz der un geheuren Menschenmenge wurde die Ordnung nirgends gestört. Marquis of Lorne, Schwiegersohn der Kö nigin und Gemahl der Prinzessin Louise, stürzte mit dem Pferde und wurde leicht verletzt. Abends war Galadiner im Buckinghampalast, darnach großer Em pfang. Die Feier war, bis auf Irland, eine allgr- meine. Das Befinden der Königin hat durch die An strengungen des Tages nicht gelitten. Das Pracht stück der Galatafel war der in einer Londoner Bäckerei gefertigte Jubiläumskuchen. Der Kuchen hat neun Fuß sechs Zoll im Umfang, ist zehn Fuß hoch und wiegt, die ihn umrahmende Dekoration abgerechnet, eine Viertel Tonne. Die Architectur des Kuchen's zeigt die englische Königskrone, von Löwen bewacht. Das Ganze ist überragt von einem Tempel, der die allegorischen Figuren der Fama und des Ruhmes trägt. Auch dieser Tempel ist noch überbaut mit einem zweiten Tempel, der von der beschwingten Ge stalt eines Friedensengels gekrönt ist. Dieser Friedens engel hält die Krone des Reiches empor. Rustland. Die Deutschenausweisungen in Rußland nehmen immer noch zu. In den Bergwerksdistricten des Gou vernements Kielce finden massenweise Entlassungen deut scher Arbeiter und Beamten statt. Dagegen ist die Ausweisung des Herrn Herbst, Director der Scheibler- schen Fabriken in Lodz, wieder rückgängig gemacht worden. Türkei. In Konstantinopel arbeiten der russische und fran zösische Botschafter noch immer aus Leibeskräften an der Verwerfung der englisch-türkischen Con vention über Egypten und an dem Sturz des Großveziers, der dieselbe dem Sultan vorgeschlagen. Der russische Botschafter drohte sogar, Rußland Feuilleton. Unter einem Dache. Roman von Karl Hartmann-Plön. (Fortsetzung.) „Ja, ich bin es," erwiderte sie, bog den Kopf zu rück und sah ihm in die Augen, „ich bin Deine Gertrude, jetzt weiß ich, daß ich so heiße. Lange, lange Jahre hindurch hatte ich das Gedächtniß an Alles, was hinter dem Tage meiner Erkrankung lag, vollständig verloren. Auch Dein Bild, Dein Name, unsere Liebe war aus meinen Erinnerungen verschwun den, jetzt mit einem Male tauchen sie wie aus einem dichten Nebel wieder hervor. Sage mir, wie hieß der Ort, wo wir uns kennen lernten?" „Es war in Rodenberg, wo ich als Referendar am Gericht arbeitete." „Rodenberg, — ganz recht, wir wohnten in dem großen Eckhause am Markt, wir sahen uns heimlich im Pavillon unseres Gartens, weil wir uns vor mei nem Vater fürchteten. Oh, Eines nach dem Andern kommt mir wieder in die Erinnerung! Wer warmem Vater?" „Herr v. Wesselbach." „Ja, ja, ich sehe ihn plötzlich wie lebend vor mir stehen!" Sie schwieg einen Augenblick und sah starr vor sich hin, als wenn sie in weite, weite Fernen blickte. Da riß sie sich von Borgfeld's Brust mit einer un gestümen Bewegung los und rief mit lauter Stimme: „Nun weiß ich Alles, allmächtiger Gott — Alles, Alles!" Sie streckte die Hände von sich, als wenn sie etwas Entsetzliches, was ihr zu nahen drohte, von sich ab wehren wollte, wobei sie wieder starr und ängstlich auf einen bestimmten Fleck schaute, darauf ver schwanden wieder die Wolken von ihrer Stirn, ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen und mit den Worten: „Gott sei Dank, daß diese fürchterliche Zeit nicht wiederkehren kann," ergriff sie Borgfeld's Hand und fuhr fort, auf Las Sopha deutend: „Setze Dich neben mich, mein Geliebter, dann will ich Äug' in Auge und Hand in Hand mit Dir, gerade so, als säßen wir noch jetzt im verschwiegenen Pavillon unse res Gartens zu Rodenberg, Dir die ganze Kette mei ner Leiden erzählen, die mich seit unserer Trennung in so furchtbarer Weise getroffen. Ich glaube kaum, daß mich mein Gedächtniß, selbst in Kleinigkeiten, noch im Stich lassen wird, denn Alles, was geschehen, steht mir in blendender Deutlichkeit vor Augen." „Sprich, Gertrude, wie ist es möglich, daß Du lebst? Ganz Rodenberg glaubt ja doch, daß Du ge storben seiest." „Ich entfloh meinem tyrannischen Gemahl, man wird mich gesucht und nicht gefunden und vielleicht für umgekommen, verunglückt gehalten haben." Sie zog ihn nach dem Sopha hin, doch blieb sie auf halbem Wege, wie von einem plötzlichen Gedanken überrascht, stehen und sagte in ängstlichem Tone: „Habe ich auch wie früher ein Recht, diese Hand zu fassen, mein Haupt an Deine Brust zu legen? Hat nicht eine Andere größere Rechte! Heinrich, bist Du vermählt?" „Nein, Gertrude, ich bin unvermählt geblieben, nie habe ich den Schmerz überwinden können, den Dein Verlust, die Nachricht von Deinem Tode mir bereitet haben, und niemals hätte ich nach Dir ein anderes Weib wieder lieben können." „Du lieber, lieber Mann, so sehr hast Du mich geliebt, und ich, ich ward Dir untreu? Ach, wenn Du wüßtest, wie sehr man mich bestürmte, wie sehr man mein kindliches Herz bedrängte! Der Vater wäre verloren, der Noth preisgegeben gewesen, wenn ich ihn nicht gerettet hätte. Doch höre meine traurige Ge schichte von Anfang an." Sie gab jetzt einen umständlichen Bericht von den Ereignissen in Rom bis zu dem Eintritt in die Irren anstalt zu Weißenberg. Nur selten hatte sie nöthig, sich auf einzelne Thatsachen erst lange zu besinnen, so voll ständig hatte jenes eine kleine Wort ihr Gedächtniß wieder hergestellt. Darauf schilderte sie ihr ganzes ferneres Leben bis zu dem Augenblick, wv Roderich ihr vor einer Stunde die beglückende Mittheilung ge macht, daß sie seine Mutter sei. Borgfeld folgte ihr mit gespanntem Ohr, er war glücklich, selig und fühlte sich wie zu neuem Leben er wacht. Mit seinen Armen umschlang er die alte Ge liebte, die wie eine junge Braut sich an ihn schmiegte, und ihn herzte und küßte." „Es ist fast dunkel geworden," sagte sie, nachdem sie ihre Erzählung beendet, „ich kann Dein Gesicht nicht mehr sehen und möchte Dir doch stets in die Augen schauen." Sie erhob sich und suchte im Zimmer umher nach einem Streichhölzchen. Borgfeld stand ebenfalls auf, zog, ihr zuvorkommend, eine Zündholzdose aus der Tasche und entzündete einen Arm der Gaskrone. „Jetzt haben wir Licht," sagte sie, trat wieder zu ihm und legte die Arme um seinen Nacken. In diesem Augenblick öffnete sich die Thür und Ro derich erschien auf der Schwelle. Aber welch ein freu diger Schreck durchbebte ihn, als er unter dem Kron leuchter seine Mutter sah, von Borgfeld's Armen um schlungen. Er war so sehr von diesem Anblick, der mit einem Schlage alle Zweifel beseitigte und ihm eine unumstößliche Gewißheit brachte, überrascht, daß er vergaß, die Thür vollends zu schließen. „Mutter," rief er im Uebermaß der Freude aus, „darf ich meinen Augen trauen? Du an meines Freundes Brust, so warst Du es wirklich, die Borg feld früher geliebt?" „Ja, mein Sohn," erwiderte sie und trat Roderich entgegen, „wir haben uns geliebt und lieben uns noch." (Fortsetzung folgt.)