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2. 6ÄW M LchönbllM Tageblatt. 1. Sonntag, Sen I, Januar 1699 I« der Zyl»<fter«A Von Georg Paulsen. Nachdruck »ardstrn. ES war kurz vor Mitternacht, ungeduldige Augen ver folgten aufmerksam den Weg des großen Zeigers aus der Uhr. Auf den Tischen standen die dampfenden Punschbowlen, und die Kehlen räusperten sich zum herz haften „Prosit Neujahr!"-Rufen. Im schwarzgrauen Gewölk im Südosten der ReichS- hauplstadt zuckte es dreimal, viermal, wie fahleS Wetter leuchten! W nige achteten darauf, und von den Wenigen einigten wiederum die Meisten der Ansicht zu, es sei wohl ein Abglanz irgend eines Illumination« Kunststückes oder Feuenverks-Erperiu""Ecs, was sie da in der Scheide- Stunde des alten und neuen Jahres gesehen. Indessen, es war wirklich das Leuchten von Blitzen, das sich im grauen, unheimlichen Dunkel zu Häupten der Riesenstadt zeigte! Was es bedeuten mag? Der Eine Hilst sich lachend mit einem leichten Scherz über die eigenartige Erscheinung fort, der Andere vcr- si kt in stilles Sinnen, aus das ihn erst daS schallende, stürmische Prosit Neujahrrufen erweckt. Dann greift die Hand wohl zum Glase, hell klingen die freudespendenden Kelch: an einander, aber um die Lippe, bevor sie von dem du lenden Naß schlürft, fliegt es doch: „Was will das im Neuen Jahre werden?" Und die Straße hinauf uns hinunter erschallen die Ruse; wer einander begegnet, begrüßt sich, dort ein Schrei und dort ein Jauchzer, und dazwischen die Klingel der elektrischen Bahn und das Trappeln der Pferde der SchutzmannSpatrouiUen, welche langsam durch das leb- hasle Treiben ihren Weg ziehen „Da aus einem halb geöffneten Kellersenster, über dem in sehr verblaßte Schristzeichen die Ankündigung von Bairisch Bier und Weißbier, sowie von warmem Mittag- und Abendtisch steht, erschallt lautes Kreischen und dann wieder wiehernde« Gelächter. Die Töne, welche einem altersschwachen Pianino noch entlockt werden können, machen sich kaum geltend in dem Teufelsspuk d„ unten. Es geht lustig zu, fidel, unge heuer fidel sogar« Der dicke Gudrrmann, der Kcllerwirth, und seine noch dickere Ehehälfte, spenden heute der Stammkundschaft freien Punsch. Die Stzloesternacht ist freie Nacht, da giebi's keine Polizeistunde. Das mächtige Punschbraugefäß wird immer wieder gr- füllt, aber fast ebenso schnell wieder geleert. Gudermann mrzle.t keine Miene, sein Gesicht ist trotz des ausge lassenen Treibens um chn herum fast so starr, wie das Atußere der langen Schlackwürste, die von der ruß- und rauchgeschwärzten Decke auf s. inen Ladentisch herabhängen. Gudrrmann kann's sich leisten. Die Nachtvögel bei- derlei Geschlechts und allerlei lichtscheues Gesindel, daS bei ihm verkehrt, sind nicht die schlechtesten Kunden, wenn auch nicht die nobelsten. Staltet auch öfter einmal die Polizei seinem Lokal einen Besuch ab und nimmt einen lange gesuchten Be- lainien mit, Gudermann selbst hat nichts zu fürchten. Selbst der Bezirks-Schutzmann trinkt bei ihm mal einen Cognac, aus der besonderen Flasche, die links im Spinde im vierten Schubfach von oben steht. Uns für die WeihnachtSbescheerung der armen Kinder im Bezirk giebt Gudermann 10 Mark. Mit seinen Gästen läßt er sich nicht sonderlich ein, und so kommen beide Theile am besten zurecht. Sie können machen, waS sie wollen, nur darf e» den Wirth selbst nicht in Ungelegenheiten mit der Polizei bringen. Das ist erstes Gesetz in diesen engen, selbst am Tage halbfinsteren Räumen. An arideren Tagen würde Gudermann nie einen solchen „Herden-Radau", wie er sich auSdrückt, in keiner Wirth schäft gedulvet haben, aber heule ist nun mal Syloester. Zum Freipunsch gehört Spielen und Singen. Und dann das Tanzen! Freilich kann in dem winzigen Raum immer nur ein Paar tanzen. Aber wie zur Punsch- terrme kommen auch alle Gäste zum Tanz. Wie die ost listigen und verschlagenen, ost stumpfen und verthierten Augen glühen. Die wüsten und ver wüsteten Gesichter sind mit heißer Röche bedeckt. Der gemeine Mund rust knirschend seine wilden Bemerkungen, die schmierigen Fäuste und mageren Finger klopfen aus den von Punsch schwimmenden Tischplatten die Begleitnng zu den wimmernden Klängen deS Pianinos. Es wird lauter und lauter, Frau Gudrrmann wirst ihrem Manne einen besorgten Blick zu. Immer mehr verdächtige Gestalten mit gierigen Blicken und gierigen Fingern dringen in den Keller, in dem es zum Ersticken heiß ist- Das Fenster wird etwas ge öffnet. Gudermann geht zur Kellerthür und will diese ab schließen, um ferneren Gästen den Zutritt zu verwehren. Aber ehe er seinen Plan beendigen kann, ist die T ür aufgerissen und ein Frauenzimmer poltert, den Wirth fast umreißend, die Treppe hinunter. „Donnerwetter, paß doch auf!" schreit der wankende Gudermann. „Die Jule, die schwarze Jule!", brüllen die Gäste und übertönen des Wirthes Stimme. Zehn Hände bieten dem neuen Ankömmling ihre Gläser dar. „Meechen, da, trink. Siehst ja aus, wie Weißbier und Spucke!" Jule nimmt ein Glas nach dem andern und trinkt eins nach dem andern leer. Dann streicht sie sich mit beiden Händen über's Gesicht und nun über's Haar. Sie ist befriedigt. Unv nun Hal sich auch ihr Ge sicht belebt. Vorhin sah eS eingefallen, grauenvoll aus, wie das einer Mumie. Nun ist es stark gerölhet. Dir Augen bekommen Leben, und end.ich erfolgt auch auf die derben Witze der anderen Antwort und Antwort. Wie alt die Jule ist? Es kann Niemand sagen. Ihr Haar ist schwarz. Ihr Haar ist stark ergraut, aber sie färbt es mit peinlichster Sorgfalt schwarz. Daher der Spitzname Ler schwarzen Jule. „Kinder, heut kann ich 'n Jubiläum feiern!" lacht sie da gemein aut. „Erzähle, Jule, erzähle!" „Los, Meechen!" Jule trinkt noch ein GlaS und dann erzählt sie: „Dos sind heute fünfundzwanzig Jahre her, damals war ich 'n kleenet Puffelken von 'ner Jahre si bzchn, und nähte und flickte und stopfte. Das gefiel mir schon jar nich mehr und so ging ich zu's Ballet." „Hurrah für Jule vons Ballet!" schreit es von allen Seiten. „Jule los, mal nen ordentlichen Tanz!" „Ihr denkt wohl, ich kann nich mehr?" Sie lacht höhnisch Und dabei gießt sie ein Glas nach dem an deren hinab. „Platz für Jule!" commandirt man. Die Tische werden zusammengerückt, die Gäste klettern hinauf, die schwarze Jule Hal einen Geoiertenraum von einigen Schrillen gewonnen. Da steht si: nun, während das tolle Publikum grinsend und johlend auf die tief Gesunkene herabschaut. „Na, denn mal zu, Herr Kapellmeister. Hier den Tanz!" Der blaffe Klavierspieler beginnt, und die schwarze Jule beginnt zu tanzen. „Bravo, bravo!" ertönt es stürmisch. Wilder wird der Tanz, immer wilder, toller, immer toller das Gekreisch. Jetzt bleibt die Tänzerin mit einem Male stehen. Das glühende Gesicht verfärbt sich, sie wirft die Arme empor, ein Schrei. Die Zuschauer glauben, es komme eine neue Nummer, „Hurrah für Jule vons Ballet, bravo!" ertönt es stürmisch. Da bricht die Tänzerin mit einem röchelnden „Ach!" zusammen. Frau Gudermann kommt schnell hinter'm Ladentisch hervor, sic beugt sich nieder und zuckt dann die Schultern. „Nichts mehr zu machen, die Jule is todt!" Still gehen die Gäste auseinander. Dann wird ein Polizeibeamter gerufen. Während er ein Glas gegen die kalte Nachtluft trinkt, erzählt Gudermann in seiner knappen Weise: „Ja, sie war ja früher bei'S Victoria-Theater, hatte dann sich in 'nen Lumpen verjafft, der ihr's Geld abnahm und dann verduftete. Da kam det Wurm uf's Trinken, mit's Tanzen ging's nich mehr recht, und denn is det jejangen, wie det so jeht! Prost, Herr Wachtmeister!" „Prost, Herr Gudermann!" Vermischtes. Kürst BiSmarck's letzter Weihnachtsabend. Mit stiller Wehmuth wird man die falzenden Zerlen lesen: Im October 1897 war der Fürst von einem schweren Antall seines Leidens befallen, der ihn zur Benutzung eines Roll stuhles zwang. In diesem ließ er sich auch um 6 Uhr abends zum Weihnachtsbaum fahren, der im großen Salon in Friedrichsruhe aufgestellt war. Der Tag war für sein Be finden gut verlaufen, und so schaute der Greis denn mit heiterem Gleichmutb in die Welt. Zu seinem Hausrock trug er die bekannte weiße Halsbinde, das milde Antlitz war leicht geröthet. Der Fürst betrachtete zunächst nachdenklich die hohe Tanne, ein Prachtexemplar, das er, wie alljährlich, von einem Verehrer erhalten, und freute sich recht. Seil dem Tode seiner Gemahlin wurden die Bäume nicht mehr ausgeputzt, sondern nur mit Lichtern besteckt. „Ich bin nicht für das Dekorative!" hatte der Fürst gemeint. In früheren Jahren hatte di, Fürstin den Baum stattlich ausputzen lassen, der dann zwischen Weihnachten und Neujahr täglich angezündet wurde. Bei der Plünderung betheisigte sich der Reichskanzler selbst hervorragend, zum Schluß nahm er ein Messer, schlug alle Zweige herunter und warf sie in das Kaminfeuer. Auch von den Weihnachtsgeschenken war der Fürst seit dem Tode seiner Gemahlin zurückgekommen. Er schenkte gern, nahm auch gern Gegengeschenke an. Das letzte Weihnachtsgeschenk der Fürstin war ein Schlafrock. In den letzten Jahren war es dem Fürsten am liebsten, wenn man mit ihm so wenig Umstände als möglich machte. Man einigte sich daher dahin, ihn mit der Bescheerung zu umgehen. Auch um die Ge schenks an die Dienerschaft kümmerte er sich nicht mehr. Da gegen wandte er der Weihnachtstafel große Aufmerksamkeit zu. Fürst Bismarck war ein staiker Esser und großer Lieb haber von Hausmannskost. So aß er auch Weihnachten 1897 eine gehörige Portion Karpfen in Bier, den er außer ordentlich liebte; ein weiteres Lieblingsgericht des Fürsten war Eisbein mit Sauerkohl, das bis zu seinem Tode jeden Donnerstag auf den Tisch kam. Trotz der wiederkehrenden Schmerzen trank der Fürst einige Gläser Champagner und war sehr vergnügt im Kreise seiner Familie. Besuch batte Schwenninger verboten. Nach Tische ließ sich der Fürst in sein Arbeitszimmer bringen unv überreichte dort dem treuen Kammerdiener Pinnow 300 Mark. Als dieser bemerkte, daß er das nicht verdient hätte, sagte der Fürst trocken: „Hätten Sie cs nicht verdient, hätten Sie cs nicht gekriegt." Bis 12 Uhr verweilte er dann noch bei seiner Familie. Ulber Münchener Wirthshäuser liest man in einem Bericht der „Frks. Ztg." aus der Jjarstadt viel Erbauliches. Wer die Stadt München aus der Zeil vor 30 oder 40 Jahren kennt, weiß, wie primitiv die damaligen Wirlhschaften aus sahen und wie höchst einfach es mit den Wirlhjchastsküchen bestellt war. Das hat sich nun inzwischen stark geändert. Der Verfeinerung ist das Münchener Publikum, namentlich unter dem Einfluß des Fremdenverkehrs und des Zuzugs aus allen Himmelsgegenden, wohl zugänglich. Das zeigt der starke Besuch in den Riesenetabliftemcnls. Noch vor wenigen Jahren ging man nur mit Zagen an die Schaffung von solchen. Man fürchtete aus der al'en Münchener An schauung heraus, der Münchener werde sich dort nicht heimisch sühlen. Weit gefehlt! Sogar das Hofbräuhaus-Publikum hat sich mit Vergnügen die neuen großen schönen Räume statt der früheren schmutzigen Pferche gefallen lassen. Was in den Riesenetablissements consumirt wird, ist ganz fabel haft. Als die Pschorrbräuhallen vor etwa 2 oder 3 Jahren eröffnet wurden, konnten sie thaisächlich nicht so viele Menschen aufnehmen, als ausgenommen sein wollten. Inzwischen haben Au ustiner und Spaten in der gleichen Straße ähnliche Lokale geschaffen, und damit ist eine gewlffe Vcrtheilung deS Publikums eingetreten. Die Pschorrbräuhallen hatten im letzten Sommer durchschnittlich täglich 900 bis 1000 Personen zum Mutaaslisch. Dazu kommt nun noch der überaus stark besuchte Frühstücks- und der Abendrisch. Bratwürste werden 6- bis 10,000 verzehrt. Der höchste Bierverbrauch waren 70 Hektolite., daneben noch Wein rc. Diese Riesenlokale er fordern eine geschickte Führung, und thatsächlich haben sie die nicht sehr renommirte Münchener Küche erheblich ver bessert und eine bessere Schulung des Personals herbeigesührt. Alle die Menschenmassen, die da verkehren, werden durch Mädchen bedient. Flinke, hübsche, jugendliche Dinger, die man nicht mit den norddeutschen Kellnerinnen verwechseln darf. Sie fühlen ja auch ihr Herzchen pochen, aber sie sind anständige solide Mädchen, und weiden auch als solche be handelt. Die alte Garde aus früheren Zeilen findet man in diesen Etablissements nicht mehr. Was so eine Kellnerin an Trinkgeldern verdient, ist bedeutend, wenn das Geschäft gut geht, 20 bis 25 Mark täglich; unter 10 Mark trägt sie nie heim. Aber die Kellnerinnen haben auch etwas zu seiften. Die Verbesserung der Küche ist ein unleugbares Verdienst der großen Etablissements. Etwas Neues haben die Pschorr- bräuhallen eingeführt. In das Lokal ist ein Grill-room ein gebaut worden, eine Abtheilung sür Rostbratung nach eng lischer Art, Hammelfleisch, Ochse fleisch, Spanferkel, Hühner rc. Ganz auffällig ist es, wie der Weinconsum in München zunimmt. Freilich, die Weinzunge ist nur bei einem verhält- nißmäßig kleinen Theil der Weiutrinker geschult! Ein neuer Feind der Kriegsschiffe. Aus Paris wird berichtet: In der Nähe der Hysren-Juseln lim Mittelmeer) fanden entscheidende Versuche mit dem Unterseeloipedoschiff „Gustavezede" gegen den Kreuzer „Magema" statt, dessen Schnellfcuerkanonen gegen „G istavezede" wegen der Rasch- heit seines Untertauchens und der Dauer seines Verweilens unter Wasser absolut nichts vermochten. Zwei Kilometer vom „Magenta" entfernt tauchte „Gustavezede" aus, firmte seme Route, legte unterseench einen vollen Kilometer zurück und mauövnrte bis zu dem Momente, wo er einen Schuß gegen den „Magenta" wirksam adienden konnte. Dies ge lang, sowohl während der „Magema" sich in Ruhe als auch während er sich in Bewegung befand. Die Bedeutung des Rothen Kreuzes. Der berühmte Kieler Chirurg Prof, v Esmarch, der Onkel unserer Kaiserin, regt in der Deutschen Revue an, allen Soldaten Unterricht in der ersten Hilfe auf dem Schlachlfelde zu ertheilen und sie mit dem nothwendizstcn, aber ausreichenden Verbandmaterial auszurüsten; ferner vei breite: er sich über die furchtbare Wirkung der kleinkalibrigen Geschäfte. Dis jetzt bei fast allen europäischen Nationen eingeführien kleinkalibrigen Ge wehre haben eine sehr hohe AmanFgeichwindigkeu «640 m). Das dazu gehörige Projektil ist ein mit einem harten Metall- mantel versehenes öleigeschoß. Bei V-rwendung solcher Pros kiile ist die Durä schlagskra t des Geschosses eins be deutende; noch auf 3000 m Entfernung können drei bis vier hintereinander befindliche menichliche Körper glatt da von durchbohrt werden. Anders, w nn der Mstailmamel an der Spitze entsernt wird. Dann w .rkt die hoch gesteigerte lebendige Kraft, und die Deformirung des kletnkalibrtgen Bleisp tzgeschosses zusammen, und das Resultat ist eine mrcht- bare Sprengwirkung in den harten und ganz besonders in den weichen Körpergeweb en- Solche Geschosse, (die sog. Dum-Dum-Kugeln), haben die englischen Truppen gegen die indischen Grenzstämme angewandt und „wahrhaft grausame Wunden" damit erzeugt, jo daß die G-schosss, wie der eng lische Chirurg Davis meint, „in einem europäischen Krieg -